Samstag, 14. Mai 2022

De Vigan, Delphine: Die Kinder sind Könige

Mélanie war als junges Mädchen ein großer Fan von Formaten wie ›Big Brother‹. Sie hatte stets davon geträumt, gesehen und berühmt zu werden. Jahre später, als Mutter zweier Kinder, ist es ihr gelungen: Sie ist eine erfolgreiche Youtuberin mit Tausenden von Followern. Objekt ihrer Videos und Posts sind ihre Kinder, die auf Schritt und Tritt gefilmt werden. Seit Kurzem kommt ihre kleine Tochter dem Filmen jedoch immer unwilliger nach. Mélanie tut das als eine Laune ab. Denn wie könnte man die unendliche Liebe, die ihnen aus dem Netz entgegenkommt, als Last empfinden? Kurz darauf verschwindet Kimmy nach einem Versteckspiel spurlos. Wie, fragt sich die ermittelnde Polizeibeamtin Clara, soll man einen Verdächtigen ausmachen bei einem Kind, das Tausende Menschen kennen und mehrfach täglich sehen? Schnell begreift sie, dass ihre Methoden der Ermittlung in der virtuellen Welt vollkommen nutzlos sind… (Klappentext)
 
 
 
 
 
  • Herausgeber ‏ : ‎ DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG; 2. Edition (7. März 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Übersetzung  : Doris Heinemann  
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 320 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3832181881
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3832181888
  • Originaltitel ‏ : ‎ Les enfants sont rois
 
 
 
 
 
 
Delphine de Vigan ist keine Unbekannte hier im Blog. Nach "Das Lächeln meiner Mutter" und "Nach einer wahren Geschichte" war mir klar, dass ich gerne noch zu weiteren Romanen der französischen Autorin greifen würde. Dank NetGalley und der Bereitstellung eines kostenfreien Rezensionsexemplars konnte ich nun das neueste Werk von ihr lesen. Dafür meinen herzlichen Dank! Wenn man den Schreibstil von Delphine de Vigan beschreiben müsste, so wäre es eine "einzigartige Mischung aus kühler Genauigkeit und poetischer Empathie", wie es Jutta Duhm-Heitmann vom WDR formulierte. Wie mir der Roman selbst gefallen hat, könnt Ihr nun gerne hier nachlesen:
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 DAS LEBEN IST EINE REALITY-SHOW...

Wer ist ihnen in den Social Media nicht schon begegnet: den niedlichen Kindern, stolz präsentiert von ihren Eltern, obwohl bekannt ist, dass das Darknet und einschlägig Interessierte auf der Suche nach genau solchen Fotos und Filmen sind, um sie für ihre Zwecke zu missbrauchen? Oftmals sind es Momentaufnahmen, dem Zufall geschuldet, kleine Peinlichkeiten oder Niedlichkeiten des Kindes, die mit der ganzen Welt geteilt werden sollen. Doch manche Eltern schaffen damit für sich und ihre Kinder eine Parallelwelt. Eine auf Hochglanz polierte und mit Filtern unterlegte perfekte Realität, die beim Zuschauer Bewunderung und Sehnsüchte weckt.

Ich habe mich ehrlich gesagt nie zuvor gefragt, was Eltern abgesehen von den gewaltigen Einnahmemöglichkeiten dazu motivieren könnte, ihre Kinder tagein tagaus zu filmen und einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren, immer niedlich, stets gut gelaunt, sich der allgegenwärtigen Kamera ständig bewusst. Doch Delphine de Vigan stellt sich dieser Frage. Mit Mélanie, einer Frau, die zeitlebens immer am Rande des Geschehens stand und doch so gerne gesehen werden wollte, präsentiert sie eine Frau, der das Internet schließlich die Möglichkeit bietet, all die Anerkennung zu bekommen, die das wahre Leben ihr stets versagt hat. Sie ist abhängig von den Klicks und Likes ihrer ständig wachsenden Followerschar und setzt dafür vor allem auf die Anziehungskraft ihrer Kinder.

Doch nun ist Mélanies kleine Tochter Kimmy plötzlich verschwunden. Die rasch hinzugezogene Polizei findet keine Spur des Mädchens, und so geht man schließlich vom Schlimmsten aus. Clara leitet die polizeilichen Ermittlungen und steht nun trotz ihrer Berufserfahrung vor einer neuen Herausforderung. Das verschwundene Mädchen ist durch die Social Media Millionen von Menschen bekannt, wo soll man da anfangen zu suchen?!

Clara ist zwar im gleichen Alter wie Mélanie, doch sind die beiden Frauen grundverschieden. Die Polizeibeamtin ist die Tochter von kritisch hinterfagenden Eltern, die zeitlebens gegen vieles demonstriert haben, auch gegen Big Brother & Co. Einen Fernseher kauften die Eltern erst, als Clara als Jugendliche darauf gepocht hat. Das kritisch Hinterfragende hat Clara von ihren Eltern übernommen, auch wenn sie nun im Staatsdienst ist und sich dementsprechend angepasst verhalten muss. Im Gegensatz zu Mélanie strebt Clara ein Leben unter dem Radar an und versucht möglichst wenig elekronische Spuren zu hinterlassen.

Die Welt der Social Media ist Clara nicht unbekannt aber doch fremd. Als sie sich mit den zahllosen Youtube-Beiträgen von Mélanies Familie befasst, bekommt sie eine Ahnung von dem, was von den Kindern gefordert wird und was das für sie bedeutet: das Leben ist eine Reality-Show. Und was die Mutter zu ignorieren versucht, wird Clara nach Sichtung der Beiträge immer deutlicher: das kleine Mädchen wirkt neuerdings trotz aller Filter zunehmend unwilliger und unglücklicher. Kleine Gesten nur, aber von außen gesehen doch deutlich erkennbar. Doch trotz dieser Erkenntnis ist klar, dass Kimmy wohl kaum weggelaufen sein dürfte. Wo also ist das kleine Mädchen?!

Aufgemacht wie ein Krimi befasst sich dieser Roman mit einem sehr aktuellen und doch oft vernachlässigten Thema: der Internetpräsenz von Kindern. Dabei widmet Delphine de Vigan der Darstellung der Hauptcharaktere Mélanie und Clara viel Raum, lässt die beiden jedoch trotzdem auf Distanz zum/zur Leser:in. Sie stehen als Gegenpole zum Geschehen einander gegenüber - auf der einen Seite die Kreatorin einer Parallelwelt mit und auf Kosten ihrer Kinder, auf der anderen Seite die kritisch Hinterfragende, die sich mit den Folgen dieser Entwicklung befasst. Dadurch lässt sich die eigentliche Thematik in ihrer ganzen Bandbreite gut darstellen.

Dem Roman ist anzumerken, wie intensiv sich die Autorin mit dem Thema auseinandergesetzt und dafür recherchiert hat. Ihre Erkenntnisse fließen hier allesamt in die Erzählung ein, was zuweilen etwas dozierend und essayhaft erscheint, die Brisanz der Problematik aber herausstreicht. Einerseits als Bruch, andererseits als interessante Ergänzung empfand ich das letzte Viertel des Buches. Zehn Jahre nach den geschilderten Ereignissen um Kimmys Verschwinden schlidert Delphine de Vigan, was die Entscheidung Mélanies, vor allem in einer Scheinwelt zu leben, bei den Beteiligten auszulösen vermochte. Besonders erschreckend fand ich dabei die Möglichkeit, am sog. Truman-Syndrom zu erkranken, einer Wahnvorstellung, dauerhaft von versteckten Kameras gefilmt zu werden.

Alles in allem ein wachrüttelnder Roman, der die Frage aufwirft, inwieweit hier der Gesetzgeber gefordert ist, weitreichendere Maßnahmen zum Schutz der Kinder zu ergreifen. Und inwieweit jeder einzelen von uns gefordert ist, diese Entwicklung zu boykottieren. Ausbleibende Klicks würden die Zurschaustellung von Kindern unterbinden. Aber schon beim Schreiben dieses Satzes ist mir klar, wie blauäugig es ist zu glauben, dass das möglich wäre. Es gibt Entwicklungen, die sich wohl nicht mehr umkehren lassen. Aber vielleicht gibt es doch Möglichkeiten, dass immer mehr Menschen diese kritisch hinterfragen? Delphine de Vigan hat hierzu definitiv ihren Beitrag geleistet!

Ein Roman, der viel Stoff zum Nachdenken liefert...


© Parden

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
DELPHINE DE VIGAN, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman ›No & ich‹ (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman ›Nach einer wahren Geschichte‹ (DuMont 2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Zuletzt erschien bei DuMont ihr Roman ›Dankbarkeiten‹ (2019). Die Autorin lebt mit ihren Kindern in Paris. (Quelle: DuMont Buchverlag)
 

1 Kommentar:

  1. Wird es der Gesetzgeber schaffen, die vermutlich bevorstehende Erhöhung der Zahlen von Obdachlosen, Randständigen, abgerutschten Personen per Gesetz abzumildern? Wohl nein. Für Social Media ist es vermutlich auch zu spät. Traurig, aber...
    Der Bücherjunge

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