Freitag, 6. Januar 2023

Ng, Celeste: Unsre verschwundenen Herzen


"Der zwölfjährige Bird lebt mit seinem Vater in Harvard. Seit einem Jahrzehnt wird ihr Leben von Gesetzen bestimmt, die nach Jahren der wirtschaftlichen Instabilität und Gewalt die »amerikanische Kultur« bewahren sollen. Vor allem asiatisch aussehende Menschen werden diskriminiert, ihre Kinder zur Adoption freigegeben. Als Bird einen Brief von seiner Mutter erhält, macht er sich auf die Suche. Er muss verstehen, warum sie ihn verlassen hat. Seine Reise führt ihn zu den Geschichten seiner Kindheit, in Büchereien, die der Hort des Widerstands sind, und zu seiner Mutter. Die Hoffnung auf ein besseres Leben scheint möglich. Eine genauso spannende wie berührende Geschichte über die Liebe in einer von Angst zerfressenen Welt." (Klappentext)

Es beginnt Anne PARDEN mit ihrer Rezension, der Bücherjunge wird im Anschluss antworten.
 


Ein wenig fühlte ich mich zu Beginn des Lesens an 1984 (George Orwell) erinnert, denn auch Bird und sein Vater leben in einem totalitären Überwachungsstaat - in den USA. Tatsächlich ist dies ein dystopischer Roman, der sich jedoch ganz nah an der Grenze der heutigen Realität entlang bewegt und deshalb so unbequem ist.

Birds Mutter Margaret (Asiatin) hat die Familie verlassen, als ihr Sohn noch klein war. Seither lebt Bird mit seinem Vater alleine in einer winzigen Wohneinheit in einem Studentenwohnheim. Der Vater, einst Professor und nun Mitarbeiter in der Uni-Bibliothek, verhält sich stets korrekt und pflichtbewusst und legt auch Bird dringend nahe, sich möglichst unauffällig zu verhalten und auch bei negativen Erlebnissen unbeteiligt zu tun. Mit dieser Prämisse und einer wohlwollenden Lehrerin ist Bird bisher gut durchs Leben gekommen, doch nun gerät einiges in Wallung.

Bird ist 12 Jahre alt, handelt zuweilen noch kindlich-naiv, beginnt sich mittlerweile aber auch eigenständig Gedanken zu machen. Er ist damit aufgewachsen, dass die Organisation PACT das gesellschaftliche Leben reglementiert, der Preserving American Culture and Traditions Act, das Gesetz zur Erhaltung amerikanischer Kultur und Traditionen. Ein Versprechen, die amerikanischen Werte zu schützen. Ein Versprechen, aufeinander aufzupassen. Ein Versprechen, dass diejenigen, die das Land mit unamerikanischen Ideen schwächen, mit Konsequenzen rechnen müssen. Ein Versprechen, das Willkür, Denunziation und Diskriminierung Tür und Tor öffnet. Ein Klima der Angst.

Im Fokus von PACT stehen asiatisch-stämmige Menschen, denn China wird in dem Roman nachgesagt, Schuld an vielen Missständen in den USA in der Vergangenheit zu tragen. Wem da jetzt der glücklicherweise nicht mehr amtierende ehemalige Präsident der USA Tr... einfällt: richtig. Hier kommt der unbequeme Realitätsbezug. Durch seine "feinfühlige" Polemik hat Tr... in den USA seit Corona eine deutliche Zunahme von Hasskriminalität gegen asiatischstämmige Amerikaner bewirkt (siehe z.B. hier). Mit den Auswüchsen von genau dieser Hasskriminalität sehen sich asiatisch-stämmige Menschen auch in diesem Roman konfrontiert. Drangsalierungen von Seiten des Staates aber auch von Seiten der Gesellschaft sind hier gang und gäbe.

Doch auch unabhängig von dem ehemaligen Präsidenten gibt es in den USA fragwürdige Traditionen, die hier im Roman ebenfalls eine Bedeutung erhalten - so z.B. die Culture Wars an Schulen, das zunehmende Verbot von Büchern (bzw. der Versuch des Verbotes) durch Konservative und Rechte, und nicht zuletzt die Herausnahme von Kindern von Familien aus rassistischen und demografischen Gründen (American Natives, Trennung von Flüchtlingsfamilien an der mexikanischen Grenze). "Unsre verschwundenen Herzen" ist der Titel des Romans - und gleichzeitig der Titel eines Gedichtes, den die heimliche Untergrundbewegung gegen PACT als Slogan gewählt hat. Jedes einzelne aus der Familie genommene Kind ein verschwundenes Herz.

Bird ist der Kosename, den seine Mutter ihm einst gegeben hat, und nun hat der Junge einen Hinweis entdeckt, wo er seine Mutter finden könnte. Seit Jahren gibt es keinen Kontakt mehr, doch nun möchte Bird Antworten. Er macht sich auf den Weg...

Erzählt wird zunächst aus der Perspektive von Bird, später aus der seiner Mutter, um dann wieder zu Bird zurückzukehren. Gerade den Wechsel hin zur Perspektive der Mutter empfand ich zunächst als einen Bruch, die Erzählung verlor dadurch für mich ein wenig an Fluss. Auch der eher sachliche Berichtstil, den die Rückblenden oft einnahmen, wirkte deutlich distanzierter als alles davor. Andererseits ist es nachvollziehbar, dass die Lesenden (genau wie Bird) nur so letztlich das ganze Ausmaß der Dramatik sowie die notwendigen Zusammenhänge erfassen können.

Tatsächlich hat mir der Roman wirklich gut gefallen. Eine recht bedrückende aber nicht hoffnungslose Dystopie, die sich sehr nah an der Realität befindet und sowohl aktuelle als auch historische gesellschaftliche Missstände in den USA bemängelt. Eine deutliche Botschaft, die hier vermittelt wird, dazu für mich ausreichend emotionale Aspekte - oft nur angerissen, zuweilen jedoch auch sehr berührend.

Lesenswert - sagt © Parden.

* * *

Amerika, genauer die USA, haben Erfahrungen mit dem Vorgehen gegen "unamerikanisches Verhalten". Man braucht 1984 gar nicht so sehr erwähnen, Orwells Dystopie erscheint (noch) als das was es ist - eine Dystopie. Das Regime kämpft irgendwo am Rande des Imperiums gegen den großen (roten - oder gelben) Feind. Ähnlich wie in Vaterland von Robert Harris, wo das Deutsche Reich "letzte" Kämpfe auf Höhe des Ural führt.

Gleichwohl werden das von Celeste Ng geschilderte Bibliothekswesen und die Methode, Kinder der elterlichen Fürsorge zu entziehen, an verschiedene Regime, vergangene und vorhandene erinnern. Hier im Blog wird der Kinderentzug in Zwei Fremde Leben von Frank Goldammer behandelt. DDR-Geschichte

An was ich vor allem erinnert wurde, ist die Ära des McCarthyismus, einen Zeitabschnitt im Kalten Krieg, als Bemerkungen, Schriften, herangezogen wurden um vermeintliche Kommunisten ausfindig zu machen. Das Feindbild wandte sich nach der Zerschlagung des Dritten Reiches der Sowjetunion und der Volksrepublik China zu. Präsident Truman hat 1947 mit Executive Order die Überprüfung der politischen Loyalität aller Angestellten angeordnet, dazu wurde ein Loyality Review Board eingerichtet. Drei Millionen Staatsbedienstete wurde überprüft bei 1200 Entlassungen.Betroffene "Verdächtige" wurden vor das HUAC - House Commitee on Un-American Activities - Komitee für amerikanische Umtriebe oder eben unamerikanisches Verhalten geladen. Das betraf Kommunisten und vor alle Künstler. Übrigens auch Thomas Mann, Hanns Eisler, Bertold Brecht, Humprey Bogart, Charles Chaplin. Arthur Miller (Schriftsteller) und Pete Seeger (Folk-Sänger) bekamen eine Freiheitsstrafe, weil sie die Aussage verweigerten.

Fremdenangst und Fremdenhass kann man erzeugen. Die USA hat Japaner in Amerika während des Krieges interniert, Chinesen allerdings waren schon seit Jahrzehnten im Land, tausende schufteten zum Beispiel im Eisenbahnbau in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Doch wie Parden oben schon bemerkte, aktuelle Politik könnte Angehörige eines bestimmten Landes als Gefährder hinstellen. In Europa scheint das noch diffuser zu sein, hier richten sich Fremdenangst und -hass gegen Flüchtlinge aller Art aus Richtung naher und ferner Osten. 

Aktuelle Bezüge hier im Roman stellen sich dort ein, wo die Autorin von der Einführung des PACT erzählt. Ähnliche Zustände könnten entstehen, wenn ultrarechte Regierungen an die Macht kommen und diese nicht teilen müssen. Wenn die größte Demokratie der Welt mit der seinerzeit fortschrittlichsten Verfassung schon ihren Kongress nicht richtig schützen kann vor einem Mob, der den Anfang Januar 2021 noch amtierenden Präsidenten hinter sich wähnt, dann sollte das zur Wachsamkeit auffordern.

* * *

Familie kann und wird eine Nische sein für viele in einer solchen Gesellschaft. Doch kann diese zerrissen werden. Celeste Ng zeigt aber auch, dass familiäre Bande sehr fest halten und bewahrt werden können. Hier sind die Kinder dafür zuständig. Bird und seine Freundin Cedi, die der Junge auf seiner Reise zur Mutter wieder findet.

Was politisch jedoch nachvollziehbar und interessant beschrieben wird, triftet gelegentlich ab in Kitsch. Als ob Literatur und vor allem Gedichte eine solche Wirkung entfalten könnten. Können Bibliotheken zu informellen Knotenpunkten werden, in denen konspirativ gewirkt wird? Die Beschreibung der Informationsweitergabe zu verschwunden Kindern währe derart mühselig, dass Erfolge sich kaum wirksam einstellen könnten. Vor allem, wenn "zersetzende" Bücher gar nicht mehr von jedermann ausgeliehen werden können. Kritik am Roman setzt auch anderswo genau hier an.

Gelesen hat das Hörbuch Brigitte Steffenhagen und das hat gut gepasst.

© Der Bücherjunge

Celeste Ng (sprich: Ing) wuchs auf in Pittsburgh, Pennsylvania und in Shaker Heights, Ohio. Ng studierte in Harvard und machte ihren Master an der University of Michigan. Sie schrieb Erzählungen und Essays, die in verschiedenen literarischen Magazinen erschienen und mit dem Hopwood Award und dem Pushcart Prize ausgezeichnet wurden. 'Was ich euch nicht erzählte', ihr erster Roman, war ein New York Times-Bestseller, der, vielfach prämiert, in 20 Sprachen übersetzt wurde und auch verfilmt wird.


  • DNB / audible / dtv / 2022  / ISBN: 978-3423290357 / 400 Seiten / 10 h 35 min

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Durch das Kommentieren eines Beitrags auf dieser Seite, werden automatisch über Blogger (Google) personenbezogene Daten, wie E-Mail und IP-Adresse, erhoben. Weitere Informationen findest Du in unserer Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google. Mit dem Abschicken eines Kommentars stimmst Du der Datenschutzerklärung zu.

Um die Übertragung der Daten so gering wie möglich zu halten, ist es möglich, auch anonym zu kommentieren.