Said Al-Wahid hat seinen Reisepass überall dabei, auch wenn er in
Berlin-Neukölln nur in den Supermarkt geht. Als er eines Tages die
Nachricht erhält, seine Mutter liege im Sterben, reist er zum ersten Mal
seit Jahren in das Land seiner Herkunft. Je näher er seiner in Bagdad
verbliebenen Familie kommt, desto tiefer gehen die Erinnerungen zurück,
an die Jahre des Ankommens in Deutschland, an die monatelange Flucht und
schließlich an die Kindheit im Irak. Welche Erinnerungen fehlen, welche
sind erfunden und welche verfälscht? Said weiß es nicht. Es ist seine
Rettung bis heute. Eine Lebensgeschichte von enormer Wucht. In diesem
bewegenden und poetischen Roman liegt der Klang eines ganzen Lebens.
(Klappentext)
Das Thema Flüchtlinge ist kein neues, aktuell ist es seit
Jahrzehnten, denn immer herrscht irgendwo Krieg, werden Völkergruppen
verfolgt oder muss jeden Tag ums nackte Überleben gekämpft werden. Said
Al-Wahid floh seinerzeit aus dem Irak, ließ Bagdad und seine Familie
hinter sich, um ein Leben ohne Angst führen zu können. Doch fühlt man
sich wirklich zu Hause in dem Land, das einen letztlich aufnimmt, fremd
die Sprache, die Kultur, das Denken? Said Al-Wahid lernt schnell die
Sprache, nimmt einen Beruf an, heiratet und setzt ein Kind in die Welt.
Doch ersetzt das die Wurzeln, die einst gekappt wurden? Die
gleichgültige Bürokratie mit nicht immer wohlwollenden
Sachbearbeiter:innen in Deutschland tun ihr übriges. Selbst nach der
Einbürgerung kämpft Said Al-Wahid manchmal gegen Windmühlen.
"Es war, als ob Saids Leben kein Leben wäre, sondern ein
überflüssiger Satz in den Akten der Behörden: Jeder konnte ihn mit einer
flüchtigen Bewegung wegstreichen. Es war ein wertloses Leben, nur ein
Furz am Rande aller Welten."
Doch um diese Themen geht es nur zu Beginn. Said Al-Wahid erfährt von
seinem Bruder, dass ihre Mutter im Sterben liegt. Will er sie noch
einmal lebend sehen, muss er sofort zurück in den Irak. Er macht sich
sogleich auf zum Flughafen und auf den Weg nach Bagdad. Im Flugzeug und
nach seiner Ankunft wird er von Erinnerungen überschwemmt. An seine
Kindheit und Jugend, an seine Fluchtgedanken und schließlich an die
Flucht selbst. Aber - die Erinnerungen sind trügerisch. Oft gibt es
große Lücken, die Said durch seine Fantasie zu schließen sucht, zuweilen
erinnert er sich an verschiedenen Versionen desselben Geschehens, bei
vielem ist er auch erleichtert, dass er sich nicht erinnern kann. Doch
die Zustände im damaligen Irak werden auch so deutlich, der Fluchtplan
wird nachvollziehbar.
"Er wollte auch verhindern, dass irgendjemand in seiner
Vergangenheit bohrte (...) Es gibt Orte im Gedächtnis, die sind wie
Minenfelder, sie können einen in Stücke reißen. Ein Leben kann schön und
erträglich sein, wenn man diese Orte meidet."
Zuweilen poetisch, meist aber eher nahezu lakoinisch wird hier von
Said Al-Wahid erzählt, von seiner Flucht aus dem Irak, der durchaus auch
willkürlich anmutenden Bürokratie in Deutschland, seinen
Erinnerungslücken, den Zuständen in seiner ehemaligen Heimat, dem
Verlust. Themen werden meist nur angerissen, vieles nur angedeutet,
wenig vertieft. Der Schreibstil ist distanziert, so dass die Emotionen
außen vor bleiben. Ich hätte mir ein intensiveres Leseerlebnis
gewünscht, auch wenn ich respektiere, dass der Autor, der hier
sicherlich eigene Erlebnisse hat einfließen lassen, diese distanzierte
Darstellung für sich gewählt hat.
"Er ist nie mit seiner kleinen Familie heimgereist und
nun liegt seine Mutter im Sterben. Als Said wegging, war das Land ein
Loch der Verzweiflung; zwei Jahrzehnte später ist es zu einem Loch der
Hoffnungslosigkeit geworden."
Eine ruhige und zurückhaltende Erzählung ohne großen Spannungsbogen
mit einem Einblick in die Thematik Flucht (Gründe, Gefahren, Hürden,
Entwurzelung). Und über die Unzuverlässigkeit von Erinnerungen. Ein
wenig intensives Leseerlebnis, aber durchaus lesenswert.
Abbas Khider wurde 1973 in Bagdad geboren. Mit 19 Jahren wurde er wegen
seiner politischen Aktivitäten verhaftet. Nach der Entlassung floh er
1996 aus dem Irak und hielt sich in verschiedenen Ländern auf. Seit 2000
lebt er in Deutschland und studierte Literatur und Philosophie in
München und Potsdam. 2008 erschien sein Debütroman "Der falsche Inder",
es folgten die Romane "Die Orangen des Präsidenten" (2011) und "Brief in
die Auberginenrepublik" (2013). Er erhielt verschiedene Auszeichnungen,
zuletzt wurde er mit dem Nelly-Sachs-Preis, dem Hilde-Domin-Preis und
dem Adelbert-von-Chamisso-Preis geehrt. Außerdem war er im Jahre 2017
Mainzer Stadtschreiber. Abbas Khider lebt zurzeit in Berlin. Bei Hanser
erschienen von ihm Ohrfeige (Roman, 2016), Deutsch für alle (Das endgültige Lehrbuch, 2019), Palast der Miserablen (Roman, 2020) und Der Erinnerungsfälscher (Roman, 2022). (Quelle: Hanser Literaturverlage)
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Hier hat der Klappentext mehr versprochen.
AntwortenLöschenIch meine, der Klappentext hat dir mehr versprochen...
LöschenJa, ich hatte mir das etwas anders erhofft. Aber wie gesagt: lesenswert ist der Roman durchaus!
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