Montag, 22. Juli 2019

Elsberg, Marc: GIER - Wie weit würdest du gehen?

Gipfeltreffen: Eine Chance für politische oder wirtschaftliche Fortschritte? Oder nur ein weiteres Treffen mit Streit um das Kommunique, an welchem schon Wochen vorher gefeilt wird? 
Gipfeltreffen: Wieder die Möglichkeit für Polizeikräfte bindenden Protest? Barrikaden? Angezündete Autos? Zerschlagene Schaufensterscheiben?

Es könnte aus der Zeitung stammen: „ ‚Stoppt die Gier!‘, rufen sie und ‚Mehr Gerechtigkeit!‘. Auf der ganzen Welt sind die Menschen in Aufruhr. Sie demonstrieren gegen drohende Sparpakete, Massenarbeitslosigkeit und Hunger – die Folgen einer neuen Weltwirtschaftskrise, die Banken, Unternehmen und Staaten in den Bankrott treibt.‘“ (Verlagsvorstellung)

Nach BLACK OUT, hier besprochen am 11. März 2019, nun ein weiterer Roman aus der Feder von Marc Elsberg.



Es findet also ein Gipfeltreffen statt. In Berlin. Es treffen sich nicht einfach nur die G7 oder G20, es treffen sich Politiker, Staatschefs und vor allem Wirtschaftsbosse, Bankenchefs und sogar Investment- und Hedgefondsmanager, also die, die nur noch mit Geld handeln. Die drohende Wirtschaftskrise allerdings, die Gefahr, dass wieder Banken oder Staaten „gerettet“ werden müssen, lässt diese Leute über Lösungen nachdenken, wobei natürlich Befürworter und Gegner auftreten. so eine Art "Münchner Sicherheitskonferenz", jetzt aber "Wirtschaftskonferenz".

Ein Nobelpreisträger soll einen Vortrag halten – es geht um nichts weniger als um die „Wohlstandsformel“. Jan Wutte, ist zur falschen Zeit am falschen Ort: Er sieht, wie einAuto „verunfallt“ und dass dieser Unfall etwas anderes ist: Ein Mord.
Eines der Opfer nennt im noch einen Namen, dann muss Jan flüchten. Der Name führt ihn in eine Bar zu einem Spieler. Der zeigt gerade seinen „Opfern“, dass wir in der Regel falsch denken und rechnen, wenn es um unsere Gewinne geht. Fitzroy „Fitz“ ist der Freund des Opfers Will Cantor, dessen Weisheiten die Kapitel zieren:

„Am Ursprung des Lebens folgen einige sich selbst kopierende chemische Substanzen einem mathematischen Prinzip, das ihnen zu einem Vorteil verhilft.“ 
(Will Cantor – Kapitel 1 – Erste Entscheidungen)




Die siebte und letzte Entscheidung lautet: 
„Kenntnis des mathematischen Prinzips hilft, Fehlentwicklungen zu erkennen und sie zu beheben.“ 
(Will Cantor – Kapitel 7 – siebte Entscheidung)


Jetzt sind sie auf der Flucht. Vor der Polizei und vor den Mördern. Mit Will hatte auch eine Jeanne Dalli zu tun, die ist jetzt Assistentin eines dieser reichen Finanzmanager und gerät mit in diesen Strudel...

* * *

So entsteht eine überaus spannende Geschichte, die außerdem mathematisches Denken schult und Rätsel aufgibt. Zudem ist sie ein Aufruf an die Leserinnen und Leser, vor allem wenn diese Politiker oder Unternehmer mit gewissen Einfluss auf Parteiprogramme und ökonomische Strategien sind:

„...eigentlich sollten wir keinen mathematischen Beweis brauchen dafür benötigen, um zu wissen, dass Zusammenarbeit, Kooperation. Solidarität, Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe, gegenseitige hilfe, Frieden – man nenne es, wie man wolle – die Menscheit immer schon besser nach vorn gebracht haben und mehr Wohlstand für alle schaffen..., als Konkurrenz, Wettbewerb, Konflikt, Spaltung, Ausgrenzung, Abschottung, Verbarrikadieren, Isolation...“ (Seite 420)

„... diese Bauerngeschichte ist doch Kommunismus...“ rief eine Stimme aus dem Publikum.“ (Seite 425) Und so kam es mir, wenn auch ganz kurz vor. Aber diese „Farmers Fable“, die man hier schön „nachlesen“ kann, hat es in sich und jegliche Erklärung ist tatsächlich frei von Ideologie. Das ist schon eine starke Leistung, die Marc Elsberg da vollbringt, er hat sich das aber nicht alles ausgedacht. Die Geschichte beruht auf wissenschaftlichen Arbeiten einer Gruppe von Wissenschaftlern am London Mathematical Laboratory, die wesentlich weitreichender sind, wie Elsberg im Nachwort schreibt.




Die Geschichte ist äußerst aktuell, man braucht sich nur umzuschauen und die Schere zwischen wenigen Superreichen und einer großen Masse von Armen betrachten, die Proteste zum G20 Gipfel in Hamburg oder die Gelbwesten – Bewegung in Frankreich. Das einfache Beispiel der Bauernformel zeigt anschaulich, dass z.B. Europa und insbesondere unsere Landwirtschaft in der Lage wären, auf der Basis fortwährender Kooperation letztlich die halbe Welt zu ernähren. Eine Kooperation von Transportunternehmen würde den Transport effizienter machen, bei weniger großen LKW auf den Straßen. Das zeigt aber genauso, dass es nicht so einfach ist, denn die LKW wollen ja auch produziert werden,an entsprechender Produktion hängen Arbeitsplätze . Aber wenn die mathematischen Grundlagen stimmen, dann ist auch hier die beschriebene Zusammenarbeit Grundlage für ökonomischen Fortschritt...
Elsberg selbst hat sich in seinem Roman auf vielfältige gesellschaftliche und wirtschaftliche Konzepte, Erkenntnisse und Theorien bezogen, wie er selber schreibt.

Der Untertitel erscheint etwas widersprüchlich, denn an den Leser ist er, glaube ich, nicht gerichtet, eher an Multimilliardäre. Solche, die der englische Gewerkschaftsfunktionär T.J. Dunning im Sinn hatte, der sich in „Trades´ Union and strikes“ so äußerte:

„Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens. Wenn Tumult und Streit Profit bringen, wird es sie beide encouragieren. Beweis: Schmuggel und Sklavenhandel.“ 

Bis auf den Sklavenhandel stimmt noch alles, aber da es ja zum Beispiel auch Piraterie gibt... Bekannt gemacht hat das allerdings ein gewisser Karl Marx im ersten Band des „Kapitals“


pixabay


Andererseits ist schon für Weniger gemordet worden ...

* * *

Man muss schon etwas nachdenken, besonders, wenn Fitzroy das monetäre Wachstum beim Spielen, googelt man alles, dann erscheint der Roman plötzlich dünner geworden zu sein im Vergleich zum insgesamt gelesenen. Wenn man sich auf Anna & Bill konzentriert, wirds verständlicher ...

Nicht einfach nur ein Thriller - Das ist einer mit viel Tiefgang.

Zum Schluss erschließt sich mir zwar nicht, wieso chemische Substanzen einem mathematischen Prinzip folgen sollen. Substanzen, aus denen erst der Mensch werden muss, der dann die mathematischen Prinzipien herausarbeitet, vielleicht habe ich das doch nicht ganz verstanden. Allerdings kann habe ich diesen Thriller nicht bloß als solchen, sondern auch als „getarntes Sachbuch“ gelesen. So kommen einem die Romane von Marc Elsberg vor. 




Das ist nicht das letzte Elsberg-Buch hier auf dem Blog.

Übrigens, das Buch habe ich tatsächlich mal wieder gewonnen. Von Blog zu Blog. Vielen Dank, Chris.

DNB / Randomhouse - blanvalet / München 2019 / ISBN: 978-3-7645-0632-3 / 445 S.
Webseite zum Buch


© Bücherjunge

1 Kommentar:

  1. Ein sehr schönes Review zum Buch - es freut mich, dass es dir so getaugt hat :)
    LG,
    Chris

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