Samstag, 5. November 2016

Pieper, Tim: Kalte Havel

Eine immer größere Fangemeinde wartet regelmäßig auf das neueste Werk des Potsdamers. Aufmerksam wurden wir auf Tim Pieper durch einen Mittelalter-Roman, DER MINNESÄNGER, in dem er uns, die wir aus der Schule eventuell noch Walter von der Vogelweide oder Wolfram von Eschenbach kennen, einen weiteren wichtigen Troubadour vorstellte, den Herrmann von Aue.

Tim hat sich erstmals bei den damaligen Buchgesichtern mit Leserunden versucht, inzwischen sind diese wohl auch für ihn ein wichtiger Spiegel zum Vorstellen seiner Bücher und für die "Rückkopplungen" die man erhält, Meinungen, Kritik und Lobpreisungen von gefühlt 99 % Leserinnen und 1 % Lesern. Das liegt aber weniger an seinen Werken sondern eher an der Zusammensetzung der Lovely-Booker.


Nach dem Ausflug in das Mittelalter warf sich Tim Pieper auf ein anderes Metier: Er lies den Otto von Sanftleben aufleben, einen Kriminologen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der gleich zu Beginn eine Ordnungswidrigkeit beging: er fuht mit einem Fahrrad durch das Brandenburger Tor. MORD UNTER DEN LINDEN und MORD IM TIERGARTEN wurden zum beachteten Werk in den Leserunden, die Tim von jeher sehr aktiv begleitet.


* * *


Nun also ein neues Werk: Nach der dunklen folgt nun die KALTE HAVEL. Das richtige Buch für mich. Nicht einfach ein Krimi. Eine runde Geschichte als Fortsetzung des ersten Falls des Toni Sanftlebens, Urenkel (?) des Otto von Sanftlebens, Kriminologe an der Schwelle des 20. Jahrhunderts. Kriminalist ist nicht Tonis Traumberuf geworden. In DUNKLE HAVEL arbeitet er als Teamleiter in der Mordkommission und sucht nach seiner verschollenen Frau. Seit sechszehn Jahren nun schon. Nachdem er sie gefunden hat, lässt er sich erst mal beurlauben.
Nach siebzehn weiteren Monaten steigt er wieder ein. Eine Staatsanwältin hat arrangiert, dass der beurlaubte trockene Alkoholiker unmittelbar wieder einsteigen kann, denn sie nimmt an, dass ihr Sohn, der sechzehn Jahre alte Alexander entführt wurde. Dessen Freund Hendrik ist tot und mit diesem, leicht durchgeknallten, autonomen Ideen nachhängenden Sohn reicher Eltern war Alexander zuletzt zusammen.




Die Tatorte: Die Beelitzer Heilstätten, das olympische Dorf von 1936, die Havel. Akribisch hat Tim Pieper wieder heimatliche Landschaft und Gegend aufgeklärt und liebevoll die handelnden Personen hineinversetzt. Die Figuren sind wirklich sehr unterschiedlich, aber wirklichen Zugang fand ich zu kaum einer. Hendrik und seine Eltern waren mir ziemlich schnell ziemlich egal, Alexander hat auch gleich noch einen unmöglichen Juraprofessor als Vater, seine pubertären Schwierigkeiten nach der Trennung der Eltern zwar verständlich, aber anderseits wundert es mich schon, denn die Handlungen des Vaters, der die Ermittlungen bzw. die Suche nach seinem Sohn kaum unterstützt, lassen doch nicht vermuten, dass er seinen Sohn in erster Ehe verständnisvoller behandelt hat. 



Am meisten interessierte mich da das Schicksal von Toni und Sofie. Sechszehn Jahre war sie verschollen, lag lange infolge eines Autounfalls im Koma nun pflegt ihr Mann sie, die noch ziemlich schwach ist. Erschrocken über möglich Handlungsmuster, die sich wiederholen könnten, fieberte ich hier am meisten mit und verstand dann doch die Frau, die sich in eine Welt „Jahre danach“ versetzt sieht und einem Mann, den sie zwar liebt, aber dessen Entwicklung sie nie mittragenbzw. miterleben konnte.Der Auszug aus dem gemeinsamen Hausboot ist aus ihrer Sicht nur konsequent. Allzu leicht scheint sie es nicht zu nehmen, für Toni ist es wohl unendlich (?) schwerer.
Tim Pieper hat hier auf jeden Fall die Grundlage für einen weiteren Roman gelegt, der dann zwangläufig in meinem Regal landen wird. Das hat gar nichts damit zu tun, dass ich mir den Otto Sanftleben eher wünschen würde.

* * *

Schon längere Zeit hege ich den Wunsch, die Beelitzer Heilstätten mit der Fotoknipse zu besuchen und den Baumwipfelpfad zu bewältigen. Es macht wie immer Spaß, den Dingen während und nach dem Lesen auf den Grund zu gehen. Das wird mich noch eine Weile beschäftigen. Ein Besuch ist noch nicht festgelegt, wird aber stattfinden. (Der Besuch hat am 13.11.2016 stattgefunden)



Übrigens: "1991 geschah 800 Meter von den Heilstätten entfernt ein Doppelmord. Die 34-jährige Ehefrau eines russischen Arztes der Klinik und deren drei Monate altes Baby wurden von dem als Rosa Riese bekannt gewordenen Serienmörder Wolfgang Schmidt ermordet. 2008 ermordete ein Fotograf, der die Heilstätten als Hintergrundkulisse nutzte, ein Fotomodell, das er im Internet kennengelernt hatte. 2011 erhängte sich ein Obdachloser, der zuvor mehrere Jahre auf dem Gelände der Beelitzer Heilstätten lebte, in einem der Gebäude." *


Quelle
Auch das olympische Dorf ist bestimmt besuchs- und sehenswert. Und ganz bestimmt nicht als "Devotionalienjäger". Es soll sich ja um eine äußerst moderne Anlage gehandelt haben, deren Kern im Zuge der "Nachnutzung" heute kaum noch sichtbar sein soll. Die Idee, die Familiengeschichte des Täters nicht nur mit den Beelitzer Heilstätten sondern auch mit dieser Anlage zu verbinden, zeugt von der sehr ausgeprägten Vorstellung des Autors, Heimat und Landschaft in seine Romane einzubringen.

* * *

Und doch, trotz dieser an sich gewohnten Authentizität, diesmal riss mich der Roman nicht vom Hocker, was mir leid tut. Vielleicht liegt das auch daran, dass ich das Gefühl hatte, die Polizeidienststelle, die Kollegen, der Chef alles irgendwie nicht so wirklich. Gibt es zwar alles, aber das war es eben auch. Chef ein karrieristischer Dummkopf - gehört zur zweiten Sorte hD (taugt nichts, sollte besser nie führen müssen), Staatsanwältin bringt den Polizeipräsidenten dazu, den Ermittler sofort und plötzlich in eine leitende Funktion einzusetzen – aber bei meinem Beruf stehe ich Roman- und Filmbullen skeptisch gegenüber. Bei DUNKLE HAVEL war das nicht so der Fall. Mir sind auch solche Typen suspekt: Abitur gut, Studium angefangen, Alle Anlagen da und dann solche unmögliches Verhalten und Ansichten, wie bei Paule und Hendrik. Wer zum Teufel hat die zum Studium zugelassen? Rebellion dieser Art beginnt doch meist in der Schulzeit und richtet sich auch gegen die Lehrer, gegen das "Schulestablishment". Das führt doch in der Regel nicht zu guten Noten und zu einem Studium der Geisteswissenschaften. Aber absolute Wahrheit ist das natürlich nicht. So etwas regt mich auf, in diesem Fall waren mir die Typen relativ egal.

Der Täter hätte, übrigens, überlegt wie er sonst in Bezug auf seine Pläne handelt, auf das Treffen mit den Jungs verzichten können. Diese Unrationalität führt zum Tod des Hendrik und...

Tim Pieper hat alles richtig gemacht. Diesmal leider nicht für mich.



  • Rezensionen zu den Havelkrimis von Tim Pieper auf Litterae-Artesque von Anne Parden und Uwe Rennicke
  • Dunkle Havel (UR / AP) / Kalte Havel (UR / AP) / Tiefe Havel (UR / AP) / Stille Havel (UR / AP) / 
  • Finstere Havel (AP / UR) / Raue Havel demnächst
  • DNB / emons: / Köln 2016 / ISBN 978-3-7408-0001-7 / 256 S.
  • Webseite von Tim Pieper
  • aktualisiert am 07.10.2019


© Bücherjunge (26.08.22)



* Seite „Beelitz-Heilstätten“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 30. Oktober 2016, 21:32 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Beelitz-Heilst%C3%A4tten&oldid=159219750 (Abgerufen: 5. November 2016, 08:06 UTC)

3 Kommentare:

  1. Eine schön gestaltete Vorstellung zum Buch " Kalte Havel".
    Da erkennt man den Geschichtsliebhaber wieder ;-)

    Regina

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    1. Danke Regina. Dies zeigt einerseits, dass wir einen weiteren guten Roman Tim Piepers vor uns liegen haben; dass er mir nicht ganz so lag wie die Vorgänger, steht auf einem anderen Blatt.

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  2. Und meine Besprechung zum Buch gibt es nun auch hier im Blog... :)

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