Eine immer größere Fangemeinde wartet regelmäßig auf das neueste Werk des Potsdamers. Aufmerksam wurden wir auf Tim Pieper durch einen Mittelalter-Roman, DER MINNESÄNGER, in dem er uns, die wir aus der Schule eventuell noch Walter von der Vogelweide oder Wolfram von Eschenbach kennen, einen weiteren wichtigen Troubadour vorstellte, den Herrmann von Aue.
Tim hat sich erstmals bei den damaligen Buchgesichtern mit Leserunden versucht, inzwischen sind diese wohl auch für ihn ein wichtiger Spiegel zum Vorstellen seiner Bücher und für die "Rückkopplungen" die man erhält, Meinungen, Kritik und Lobpreisungen von gefühlt 99 % Leserinnen und 1 % Lesern. Das liegt aber weniger an seinen Werken sondern eher an der Zusammensetzung der Lovely-Booker.
Nach dem Ausflug in das Mittelalter warf sich Tim Pieper auf ein anderes Metier: Er lies den Otto von Sanftleben aufleben, einen Kriminologen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der gleich zu Beginn eine Ordnungswidrigkeit beging: er fuht mit einem Fahrrad durch das Brandenburger Tor. MORD UNTER DEN LINDEN und MORD IM TIERGARTEN wurden zum beachteten Werk in den Leserunden, die Tim von jeher sehr aktiv begleitet.
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Nun also ein neues Werk: Nach der dunklen folgt nun die KALTE HAVEL. Das richtige Buch für mich. Nicht einfach ein Krimi. Eine
runde Geschichte als Fortsetzung des ersten Falls des Toni Sanftlebens,
Urenkel (?) des Otto von Sanftlebens, Kriminologe an der Schwelle des 20.
Jahrhunderts. Kriminalist ist nicht Tonis Traumberuf geworden. In DUNKLE HAVEL
arbeitet er als Teamleiter in der Mordkommission und sucht nach seiner
verschollenen Frau. Seit sechszehn Jahren nun schon. Nachdem er sie gefunden
hat, lässt er sich erst mal beurlauben.
Nach siebzehn weiteren Monaten steigt er wieder ein. Eine
Staatsanwältin hat arrangiert, dass der beurlaubte trockene Alkoholiker
unmittelbar wieder einsteigen kann, denn sie nimmt an, dass ihr Sohn, der
sechzehn Jahre alte Alexander entführt wurde. Dessen Freund Hendrik ist tot und
mit diesem, leicht durchgeknallten, autonomen Ideen nachhängenden Sohn reicher
Eltern war Alexander zuletzt zusammen.
Die Tatorte: Die Beelitzer Heilstätten, das olympische Dorf von 1936, die Havel. Akribisch hat Tim Pieper wieder heimatliche Landschaft und Gegend aufgeklärt und liebevoll die handelnden Personen hineinversetzt. Die
Figuren sind wirklich sehr unterschiedlich, aber wirklichen Zugang fand ich zu
kaum einer. Hendrik und seine Eltern waren mir ziemlich schnell ziemlich egal,
Alexander hat auch gleich noch einen unmöglichen Juraprofessor als Vater, seine
pubertären Schwierigkeiten nach der Trennung der Eltern zwar verständlich, aber
anderseits wundert es mich schon, denn die Handlungen des Vaters, der die
Ermittlungen bzw. die Suche nach seinem Sohn kaum unterstützt, lassen doch
nicht vermuten, dass er seinen Sohn in erster Ehe verständnisvoller behandelt
hat.
Am meisten interessierte mich da das Schicksal von Toni und
Sofie. Sechszehn Jahre war sie verschollen, lag lange infolge eines Autounfalls
im Koma nun pflegt ihr Mann sie, die noch ziemlich schwach ist. Erschrocken
über möglich Handlungsmuster, die sich wiederholen könnten, fieberte ich hier
am meisten mit und verstand dann doch die Frau, die sich in eine Welt „Jahre
danach“ versetzt sieht und einem Mann, den sie zwar liebt, aber dessen
Entwicklung sie nie mittragenbzw. miterleben konnte.Der Auszug aus dem gemeinsamen Hausboot ist aus ihrer Sicht nur konsequent. Allzu leicht scheint sie es nicht zu nehmen, für Toni ist es wohl unendlich (?) schwerer.
Tim Pieper hat hier auf jeden Fall die Grundlage für einen
weiteren Roman gelegt, der dann zwangläufig in meinem Regal landen wird. Das
hat gar nichts damit zu tun, dass ich mir den Otto Sanftleben eher wünschen
würde.
* * *
Schon längere Zeit hege ich den Wunsch, die Beelitzer Heilstätten mit der Fotoknipse zu besuchen und den Baumwipfelpfad zu
bewältigen. Es macht wie immer Spaß, den Dingen während und nach dem Lesen auf
den Grund zu gehen. Das wird mich noch eine Weile beschäftigen. Ein Besuch ist
noch nicht festgelegt, wird aber stattfinden. (Der Besuch hat am 13.11.2016 stattgefunden)
Übrigens: "1991 geschah 800 Meter von den Heilstätten entfernt ein Doppelmord. Die 34-jährige Ehefrau eines russischen Arztes der Klinik und deren drei Monate altes Baby wurden von dem als Rosa Riese bekannt gewordenen Serienmörder Wolfgang Schmidt
ermordet. 2008 ermordete ein Fotograf, der die Heilstätten als
Hintergrundkulisse nutzte, ein Fotomodell, das er im Internet
kennengelernt hatte. 2011 erhängte sich ein Obdachloser, der zuvor
mehrere Jahre auf dem Gelände der Beelitzer Heilstätten lebte, in einem
der Gebäude." *
Quelle |
Auch das olympische Dorf ist bestimmt besuchs- und sehenswert. Und ganz bestimmt nicht als "Devotionalienjäger". Es soll sich ja um eine äußerst moderne Anlage gehandelt haben, deren Kern im Zuge der "Nachnutzung" heute kaum noch sichtbar sein soll. Die Idee, die Familiengeschichte des Täters nicht nur mit den Beelitzer Heilstätten sondern auch mit dieser Anlage zu verbinden, zeugt von der sehr ausgeprägten Vorstellung des Autors, Heimat und Landschaft in seine Romane einzubringen.
* * *
Und doch, trotz dieser an sich gewohnten Authentizität, diesmal riss mich der Roman nicht vom Hocker, was
mir leid tut. Vielleicht liegt das auch daran, dass ich das Gefühl hatte, die
Polizeidienststelle, die Kollegen, der Chef alles irgendwie nicht so wirklich.
Gibt es zwar alles, aber das war es eben auch. Chef ein karrieristischer Dummkopf - gehört zur zweiten Sorte hD (taugt nichts, sollte besser nie führen müssen), Staatsanwältin bringt
den Polizeipräsidenten dazu, den Ermittler sofort und plötzlich in eine
leitende Funktion einzusetzen – aber bei meinem Beruf stehe ich Roman- und
Filmbullen skeptisch gegenüber. Bei DUNKLE HAVEL war das nicht so der Fall. Mir
sind auch solche Typen suspekt: Abitur gut, Studium angefangen, Alle Anlagen da
und dann solche unmögliches Verhalten und Ansichten, wie bei Paule und Hendrik.
Wer zum Teufel hat die zum Studium zugelassen? Rebellion dieser Art beginnt doch meist in der Schulzeit und richtet sich auch gegen die Lehrer, gegen das "Schulestablishment". Das führt doch in der Regel nicht zu guten Noten und zu einem Studium der Geisteswissenschaften. Aber absolute Wahrheit ist das natürlich nicht. So etwas regt mich auf, in
diesem Fall waren mir die Typen relativ egal.
Der Täter hätte, übrigens, überlegt wie er sonst in Bezug auf seine Pläne handelt, auf das Treffen mit den Jungs verzichten können. Diese Unrationalität führt zum Tod des Hendrik und...
- DNB / emons: / Köln 2016 / ISBN 978-3-7408-0001-7 / 256 S.
- Webseite von Tim Pieper
- aktualisiert am 07.10.2019
© Bücherjunge (26.08.22)
* Seite „Beelitz-Heilstätten“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 30. Oktober 2016, 21:32 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Beelitz-Heilst%C3%A4tten&oldid=159219750 (Abgerufen: 5. November 2016, 08:06 UTC)
Eine schön gestaltete Vorstellung zum Buch " Kalte Havel".
AntwortenLöschenDa erkennt man den Geschichtsliebhaber wieder ;-)
Regina
Danke Regina. Dies zeigt einerseits, dass wir einen weiteren guten Roman Tim Piepers vor uns liegen haben; dass er mir nicht ganz so lag wie die Vorgänger, steht auf einem anderen Blatt.
LöschenUnd meine Besprechung zum Buch gibt es nun auch hier im Blog... :)
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