Sonntag, 16. August 2015

Blazon, Nina: Liebten wir


Verstohlene Blicke, versteckte Gesten, die Abgründe hinter lächelnden Mündern: Fotografin Mo sieht durch ihre Linse alles. Wenn sie der Welt ohne den Filter ihrer Kamera begegnen soll, wird es kompliziert. Mit ihrer Schwester hat sie sich zerstritten, von ihrem Vater entfremdet. Umso mehr freut sich Mo auf das Familienfest ihres Freundes Leon. Doch das endet in einer Katastrophe. Mo reicht es. Gemeinsam mit Aino, Leons eigensinniger Großmutter, flieht sie nach Finnland. Eine Reise mit vielen Umwegen für die beiden grundverschiedenen Frauen. Als Mo in Helsinki Ainos geheime Lebensgeschichte entdeckt, ist sie selbst ein anderer Mensch. 

  • Taschenbuch: 560 Seiten
  • Verlag: Ullstein Taschenbuch (26. Juni 2015)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3548285775
  • ISBN-13: 978-3548285771






















NICHT SCHAUEN, NUR TANZEN...


Spurensuche in Helsinki Quelle Foto


Mo ist Fotografin mit dem ganz besonderen Blick. Sie fotografiert das, was unter der Oberfläche steckt. Die Zwischentöne und kleinen Gesten. Nur die eigenen Zwischentöne machen ihr Probleme. Sie hofft, dass ihr neuer Freund Leon ihr helfen kann, endlich Teil einer glücklichen Familie zu werden. Als sie seine Familie zum ersten Mal trifft, kommt es allerdings zum Eklat. Und plötzlich ist Mo auf der Flucht - vor Leon, vor der Vergangenheit, vor allem aber vor sich selbst.
Doch sie ist dabei nicht allein. Nicht ganz freiwillig nimmt sie Aino mit, Leons Großmutter. Anfangs ist Mo genervt von der Gesellschaft. Dann dirigiert die kauzige Alte sie auch noch Richtung Norden und verlangt von ihr, die Fähre nach Finnland zu nehmen. Was soll Mo in diesem eigenartigen Land, von dessen Sprache sie kein einziges Wort versteht? Erst auf dem Meer gelingt es Mo langsam, sich auf das ihr so fremde Land einzulassen. Sie entdeckt die Schönheit und Melancholie des finnischen Tangos, der ihr beibringt, loszulassen und sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Auch Aino öffnet sich ihr allmählich. Beide Frauen erkennen: Manchmal muss man auf eine Reise gehen, um anzukommen...


"Fotos verraten alles. Sie zeigen das, was gezeigt werden soll - aber darüber hinaus zeigen sie die Lücken in den Familien, die schadhaften Stellen am Haus. Den Schimmel, halb versteckt hinter Girlanden von lächelnden Mündern."


Hui, wo fange ich nur an zu schildern, wie es mir mit diesem Buch ging? Vielleicht einfach mit der Erkenntnis, dass dieses Buch ganz und gar nicht meinen Erwartungen entsprach? Eklat beim Familientreffen, eine kauzige Alte, eine spontane Flucht in eines der letzten Länder, die mir so einfallen würden - ein turbulenter Roadtrip scheint da vorprogrammiert, vielleicht gewürzt mit einer kleinen Romanze. Doch weit gefehlt. Dieses Buch hat mich überrascht, überrollt - und nicht zuletzt auch überzeugt.

Die Charaktere haben alle ihre Macken und Kanten und scheinen anfangs als Sympathieträger so gar nicht geeignet. Mo, eigentlich Moira, ist eine rastlose, suchende, auch unglückliche junge Frau, die ihren Platz im Leben noch nicht gefunden hat, diesen aber schon seit ihrer Kindheit sucht. Mit ihrer Schwester Danae versteht sie sich im Grunde gar nicht - am ehesten, wenn sie jahrelang keinen Kontakt zueinander haben. Wenn er sich dennoch nicht vermeiden lässt, kommt es rasch wieder zu Streitigkeiten und Unfreundlichkeiten - zu viele Themen müssen umschifft werden, zu vieles bleibt ungesagt und ungeklärt und macht eine Annäherung unmöglich. Die Mutter der beiden verstarb, als Mo noch ein Kind war, zum Vater haben die Schwestern den Kontakt gänzlich abgebrochen. Und doch kennt Mo keine schönere Vorstellung als die, endlich in einer intakten Familie leben zu können.
Aino dagegen hat im Grunde keine Erwartungen mehr an das Leben. Sie lebt seit Jahren in einem Altersheim, kann sich nur noch im Rollstuhl fortbewegen und wird nun - aus Kostengründen - noch einmal umziehen: in das Haus ihres Sohnes und seiner Familie. Dieses Haus wird sie dann wohl nie mehr verlassen, es ist für alles gesorgt, hier kann in Ruhe auf den Tod hingelebt werden. Doch Aino hat andere Pläne. Als Mo fluchtartig das Familientreffen verlässt, schließt sich die Alte kurzerhand der Flucht an - und lässt Mo gar keine andere Wahl, als sie tatsächlich mitzunehmen. Und nicht nur das: schließlich bestimmt sie auch noch das Ziel der Reise. Ausgerechnet nach Finnland soll es gehen, dem Land in dem Aino geboren wurde und in dem sie aufwuchs. Nostalgie? Mitnichten. Die kratzbürstige alte Frau hat ganz klar ein Ziel vor Augen, das sie mit allen Mitteln noch verwirklichen will, und Mo kommt ihr da gerade recht...


"Wenn du jung bist, lebst du in einem vollen Haus und machst dir keine Gedanken darüber, ob du Zeit verschwendest. Das ganze Haus ist ja noch hell erleuchtet. In jedem Raum tanzen und feiern Menschen die du kennst, und dein Lieblingswort ist 'morgen'. Aber mit den Jahren gehen in den Räumen die Lichter aus, eines nach dem anderen. Man rückt zusammen, immer mehr Zimmer bleiben leer. Dann sind noch drei Räume bewohnt, schließlich zwei. Die Musik verklingt, die Gespräche werden leiser. Und plötzlich sitzt du ganz allein in dem leeren Haus, im letzten Zimmer, in dem nur noch eine Kerze brennt." (S. 382)


Und der Leser fährt mit den beiden nach Finnland, taucht ein in das Helsinki der Gegenwart und der Vergangenheit - denn immer wieder gibt es Rückblenden in die Zeit von Ainos Jugend. Die Person Ainos wird zunehmend vielschichtig, die Vergangenheit ist noch nicht abgeschlossen, hat in ihrem Wesen Wunden geschlagen, Spuren hinterlassen - ebenso wie vergangene Geschehnisse Mo verletzt und spröde gemacht haben. Beide Frauen nähern sich ganz allmählich einander an, erkennen in der anderen, was sie an sich selbst nicht gänzlich wahrnehmen können, bauen schrittweise die stacheldrahtbewehrten Mauern ab, jedoch jederzeit bereit, den Schutzwall sofort wieder hochzuziehen - böse Sprüche und harte Worte inbegriffen.
Doch trotz des wenig freundlichen Umgangs miteinander, des gegenseitigen Versteckspiels, der Lügen, begann ich zunehmend, beide Frauen tatsächlich zu mögen. Denn das Liebenswerte, das Verletztliche, das Zarte, das beide ebenso ausmacht, lugte immer wieder vorsichtig hervor. Vor allem Mo, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird, zeigt zunehmend ihre weichen Seiten. Und wenn Aino durch eine unerwartete Geste auch ihre liebenswerte Art offenbart, vermag dies tatsächlich zu berühren.


"In Momenten wie diesen ahne ich nur, wie froh ich sein kann, nicht Ainos Ziel zu sein und auch nicht ihr Feind." (S. 262)


Doch Aino weiß, was sie will und Mo nutzt Ainos Streben als Mittel, einmal mehr in das Leben einer anderen einzutauchen - ebenso wie es ihr so oft mit ihren Fotos gelingt. So vermeidet sie letztlich, sich ihren eigenen Problemen zu stellen und sich aus ihrer Vergangenheit zu lösen. Doch Aino wäre nicht die, die sie ist, wenn sie da tatenlos zusähe. Oftmals unbemerkt, steuert sie die junge Frau aufs Leben zu - auf ihr eigenes Leben.

Neben der eigentlichen Geschichte, die in oft poetischen Bildern erzählt wird, die mir oft ausgesprochen gut gefallen haben, gibt es hier auch einen tiefen Einblick in das Leben und die Seele Finnlands, sowie über die Geschichte und Kultur des Landes, ohne dass es überladen wirkt. Selbst die 'Mumins' finden hier netterweise Einzug und lockern das Geschehen immer wieder auf.
Informationen gibt es auch immer wieder einmal zum Thema des Fotografierens - was der eigentlichen Geschichte oftmals eine tiefe Symbolhaftigkeit verschafft und dadurch wirklich bereichernd ist. Und ebenso taucht hier auch immer wieder der Tango auf. Tango? In Finnland? Aber ja! Kleines Beispiel? 





"Tänzer treiben auf weichen Mollakkorden an uns vorbei, gestreichelt von Lichtflecken. Das hier hat nichts mit dem gemeinsam, was ich bisher unter Tango verstand. Keine dramatisch geworfenen Beine, kein Duell der Geschlechter. Dieser Tanz hier ist wie das träge, sinnliche Ineinanderfließen von Öl, ein katzenhaftes Schleichen, Wiegen und Schieben, Körper an Körper, mit genau gesetzten Schritten, weich und verzögert. Die getanzte Erlaubnis, einander zu spüren. Niemand lacht. Nähe ist eine ernste Angelegenheit." (S. 417)  


Der Titel trägt neben dem Klappentext sicher dazu bei, falsche Erwartungen zu schüren. Aber dies ist von der Autorin offenbar genauso beabsichtigt. Im Rahmen einer Leserunde schrieb sie hierzu:
'Der Titel sollte einfach ein kleines Irritationsmoment haben. Ich persönlich mag Titel, bei denen man zweimal hinschaut und sich denkt: Huch, Moment mal? Und im Roman geht es ja um Liebe – wenn auch nicht um die klassische romantische Liebesgeschichte, sondern um viele Arten davon, um Elternliebe, die Liebe, die man für Freunde empfindet. Oder eben eine ganz spröde, hinter einem Schutzpanzer und harschen Worten gut verborgene Zuneigung (wie sie zwischen Mo und Aino stattfindet). Also Liebe zwischen den Zeilen – und so fand ich den Titel, bei dem man sich fragt: „Fehlt da vielleicht ein Fragezeichen?“ einfach passend.'

Mit ihrem ersten Buch für Erwachsene hat Nina Blazon für mich voll ins Schwarze getroffen. Die bildhafte und poetische Sprache, der durchaus auch schwarze Humor, der da immer wieder durchblitzt, die unharmonischen und letztlich doch liebenswerten Charaktere, die Geheimnisse, die sich zunehmend offenbaren - und dazu der Tango, der einen insgeheim mit übers Parkett tänzeln lässt, all dies stellt für mich ein stimmiges Gesamtpaket dar.

Von mir gibt es daher eine ganz klare Leseempfehlung!


© Parden










Weitere finnische Tangos, die im Buch eine große Rolle spielen - der melancholische Ton zieht sich teilweise genauso durch die Erzählung...



Satumaa


Liljankukka lumivalkoinen













Nina Blazon
Informationen und Bild von der Homepage der Autorin

Nina Blazon

Jahrgang 1969, Studium der Slavistik und Germanistik in Würzburg. Lehr- und Arbeitsjahre als Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten, Übersetzerin, Redakteurin, Texterin in einer Werbeagentur und als freie Journalistin. Seit 2003 bin ich Kinder- und Jugendbuchautorin. Genres: Fantasy, Krimi und Historischer Roman. Mit dem Roman "Liebten wir" (2015) habe ich dieses Repertoire nun um den Bereich Erwachsenenbelletristik erweitert.

Privates:

Was ich liebe: Reisen und vor allem Sternfahrten in den Norden! Möglichst erst einmal ohne Reiseführerstudium vor der Fahrt, denn es gibt nichts Schöneres und Spannenderes, als die Fremde noch ohne Vorgaben und Meinungen zu erkunden (naja, so gut das eben bei der heutigen Informationslage möglich ist). Meine Herzensstadt ist Helsinki, die ich oft und gern besuche. Weitere Sternpunkte sind Stockholm, Kopenhagen und natürlich Reykjavík. Sicher auch ein Grund, warum der nächste Roman auf Island spielen wird.


► Auf der Homepage der Autorin gibt es eine Bilderstrecke - private Fotos von Nina Blazon mit passenden Auszügen aus dem Buch. Eine fotografische Begleitung von Mos Reise nach Helsinki und eine schöne Ergänzung zum Lesen, wie ich finde...


2 Kommentare:

  1. Schoene und interessante Rezension. Ungewoehnlich lang 😃

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    1. Danke Dir - zu manchen Büchern habe eben auch ich durchaus etwas mehr zu sagen... ;)

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