Montag, 24. August 2015

Di Fulvio, Luca: Das Kind, das nachts die Sonne fand.


„Der kleine Marcus II.. von Saxia saß an diesem Morgen verschlafen fröstelnd und nackt auf der mit warmen weichen Gänsedaunen gefüllten Matratze seines riesigen Bettes und baumelte mit den Beinen in der Luft, obwohl er für seine neun Jahre recht groß gewachsen war. Seine Augen waren grün und blickten träge wie die einer Katze, die langen blonden Haare fielen ihm in glänzenden Locken auf die Schultern, und seine Haut war so weiß, dass man ihn für ein Mädchen hätte halten können.“
(Seite 10)

Aber der Junge auf dem Titelbild sieht doch nicht unbedingt wie ein Fürstensohn aus?

Es ist das Jahr 1407. In den Ostalpen liegt ein kleines Fürstentum namens Raühnval, das von Marcus I. Fürst von Saxia beherrscht wird. Der Fürst hat einen neunjährigen Sohn: Marcus II. Für den aber wird sich „heute“ das Leben gewaltsam verändern, denn heute Abend brennt die Burg, Eltern und Schwester tot; Marcus findet sich in einer Dorfhütte wieder, bei Eloisa und ihrer Mutter Agnete. Agnete ist die Hebamme der Gegend. Eloisa hat den Jungen gerettet…

Der verweichlichte Fürstensohn, dessen ritterliche Ausbildung noch nicht begonnen hatte, führt nun den Namen Mikael und muss lernen, sich unter den Bauern und ihren Kindern zu behaupten. Einer namens Eberwolf treibt es besonders schlimm. „Er wird es schaffen!“ sagt sich Agnete immer wieder. Und sie sagt es ihrer Tochter, die sich um den Jungen sorgt. Aber ganz sicher ist sie sich nicht. Doch sie hat eine harte Hand. Mikael bekommt einen Helfer, den alten Raphael. Der fingiert erst einmal, dass er den Jungen an Agnete verkauft hat und bringt ihm auch allerlei bei.
Der neue Fürst Oisternig hat schnell ein Auge auf dem blondgelockten Knaben, der ihn immer offen, trotzig, wütend anschaut… Oisternig schwingt sich zum Herrn über Raühnval auf, eine schwere Zeit beginnt für die Bewohner des Tales.
Mikael wird älter, Eloisa auch. Der Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit beginnt, es ist die Zeit des Jan Hus.


Man sucht vergebens auf der Karte nach Raühnval, das Tal ist fiktiv. Allerdings hat Di Fulvio in einem Interview[1]erzählt, dass er als Kind auf einen Berg namens Oisternig gestiegen ist.

„Ort der Handlung ist Raühnval, ein Herrschaftsgebiet in den Ostalpen - nicht zufällig. Die Welt hoher Berge und tiefer Täler sei im aus seiner Kindheit zutiefst vertraut. Nicht umsonst trägt Oisternig, der Bösewicht der Geschichte den Namen eines Berges, den Di Fulvio bereits mehrmals bestiegen hat. "Hier kenne ich mich aus. Ich habe heute noch eine Hütte da, ganz einfach, ohne Licht."“[2]

Demnach also könnte Raühnval dicht an der heutigen Grenze von im Dreiländereck von Italien, Österreich und Slowenien liegen. Von da aus ist es nicht weit bis nach "Klognfuat" (Klagenfurt am Wörtersee), eine Stadt, die die Leser im Roman besuchen werden. Etwas weiter ist es bis nach Konstanz am Bodensee. Auch dort wird die Leserin, der Leser mit den Figuren des erzählgewaltigen Luca Di Fulvio verweilen. 


Quelle googlemap und wikipedia

Auf dem Kartenbild sehen wir einen Berg. Das ist der Oisternig. Um 1400 dürfte der dicht bewaldet gewesen sein wie viele Berge um das Tal Raühnval. Aber im Nachbarfürstentum Oisternig wird Erz abgebaut. Dafür braucht man auch viel Holz außerdem lässt sich Holz gut verkaufen. Fürst Oisternig beutet das Tal auf das Schlimmste aus. Er betreibt Raubbau an Menschen und Wäldern und deshalb könnte der vernichtete Waldbestand schon damals Ursache für den nun zu findenden Kahlschlag sein.

* * *

Schon die Eingangsszene ist brutal. Di Fulvio beschreibt sie so, dass man nicht ins Kino müsste, im sich das vorzustellen, wie die vermeintlichen Räuber auf der Burg des Fürsten Saxia hausen. (Es gibt keinen Film). Ob Kampfszenen, Hinrichtungen oder Vergewaltigungen, Di Fulvio schreibt direkt und ohne Schnörkel. Manchmal hat man das Gefühl, er wäre nun mal gut. Aber der Autor bleibt sich treu, eine solche Beschreibung grausigen Begebenheiten finden wir auch in Das Mädchen, das den Himmel berührte und der Der Junge, der Träume schenkte

Aber das große Thema ist Freiheit und Gerechtigkeit. Dies war schon bei Christmas Luminita, dem Träume schenkenden Geschichtenerzähler im Radio in New York so, wie auch bei  Giudetta, der jungen jüdischen Schneiderin in Venedig, die den Himmel berührte.
Der Roman ist gewohnt bildgewaltig. Ich fand, es war viel einfacher den Roman zu lesen, als die beiden Vorgänger zu hören. Es ist ein Weilchen her, dass ich über 800 Seiten in so wenigen Tagen las. Das spricht natürlich für diesen Roman und ich denke, die beiden anderen werde ich mir wohl als Taschenbücher oder eBook zulegen müssen.

Besonders gut gefiel mir die Beschreibung des völlig überfüllten Konstanz während des Konzils. Man wurde förmlich in das Gewimmel hinein getrieben. Ein einziger überfüllter Zeltplatz mit zu wenig Latrinen und an jeder Ecke wird gegrillt. Alle Leute sind ungewaschen. Wer zuletzt kommt, erhält einen Platz in einer feuchten sumpfigen Ecke. Mordsmäßiger Krawall. Schlägereien, Mord und Totschlag zwischen Zelten mit Mönchen und Zelten mit Huren… Aber Di Fulvio beschreibt das wirklich besser. 


Quelle Buch / Bilder wikipedia

* * *

Freiheit und Gerechtigkeit. Die absoluten Herrscher in den kleinen Lehensgebieten konnten meist machen was sie wollten. In solchen schwer zugänglichen Gegenden wie in den Ostalpen fehlte zudem ja auch jede Kontrolle. Zudem war Gewalt üblich und an der Tagesordnung: 

„“Ich weiß nicht, ob es stimmt, was die Kirche sagt, dass wir die Macht und unsere Stellung von Gottes Gnaden empfangen haben. Aber eins weiß ich genau: Um die Macht und die Stellung zu behalten, kannst du dich nicht auf Gott verlassen, sondern nur auf dich selbst… Deshalb muss du lernen zu kämpfen… Du wirst im Blut leben, genau wie ich und alle unsere Vorfahren. Das ist unser Schicksal und unser Fluch.“ (Seite 14/15)

So spricht Fürst Marcus von Saxia am Unglückstag zu seinem Sohn. Marcus I. war allerdings wohl ein umsichtiger und gut wirtschaffender Lehensherr.

Männer, die die Willkür nicht mehr aushielten, schlossen sich zu Räuberbanden zusammen. Der im Buch eine wichtige Rolle spielende schwarze Volod ist so ein Räuberhauptmann, der seine Gruppe fast auflöst, weil der Landesfürst jeden Raubzug an den unschuldigen Dorfbewohnen hart bestraft. Es vergeht keine Woche, in der der Galgen nichts zu tun hätte. Der Hunger treibt die Räuber dazu, keine Unterschiede mehr zu machen zwischen arm und reich. Sie verlieren langsam ihre Würde. Irgendwann treffen Mikael / Marcus und Volod aufeinander…

Es ist die Zeit des Jan Hus und die des sogenannten Konstanzer Konzils. Hus war ein Reformator lange vor Luther, der sich vor allem gegen den Sittenverfall des Klerus wandte. Er berief sich dabei zum Teil auf den Engländer Wyclif, der zwar das Königstum von Gottes Gnaden, aber nicht den Pabst als christliches Oberhaupt anerkannte. Hus willte eine Reform der Kirche, Gewissensfreiheit und bezeichnete die Bibel als einzige Autorität in Glaubensfragen. Auch sprach er sich für Gottesdienste in der Landessprache aus. (siehe wiki)
Klar, dass dies dem Klerus nicht passte. Da Hus in Konstanz nicht widerrief, kam er auf den Scheiterhaufen. Zu diesem Zeitpunkt ist der 16jährige Mikael mit dem schwarzen Volod in Konstanz und kann sogar einige Worte mit dem Reformator wechseln.
Nach dem Tod des Jan Hus bilden sich revolutionäre Bewegungen vor allem in Böhmen, man nennt sie auch die Hussiten. Doch dies beginnt erst „nach“ dem Roman.


* * *

Doch wie der Kind des Nachts die Sonne findet, dass müsst ihr schon selber rausfinden.
(Es war ja auch lange nicht klar, wie das Mädchen den Himmel berührt.)


 * * *


Luca Di Fulvio wurde (1957 - 2023) in Rom geboren, da lebte und arbeitete er. Dramaturgie an der Accademia d'Arte Drammatica Silvio D'Amico in Rom. Die beiden bisherigen, oben bereits genannten Romane standen lange auf den Spiegel-Bestsellerlisten. Für den Roman DER JUNGE DER TRÄUME SCHENKTE ließ er sich nach eigener Aussage von Martin Scoreses GANGS OF NEW YORK inspirieren. 

"Ich will Geschichte erzählen und gleichzeitig mit Geschichten unterhalten. Geschichtsbücher sind oft sehr langweilig." 

Er habe die Entwicklung der Menschheit zum Humanismus beschreiben wollen - anhand der Geschichte des kleinen Marcus. Auf die Frage, ob ihm die Handlung und das Konzept auch mal entgleite, hat er lachend geantwortet: 

"Immer wieder! Natürlich. Aber ein guter Autor muss vor allem eines können: beschriebene Seiten wegwerfen."[3]

  • DNB / Bastei Lübbe / Köln 2015 / ISBN: 978-3-404-17180-4 / 830 Seiten
  • Luca di Fulvio in der DNB

© Bücherjunge (01.07.2023)



[2] Vgl. Ebenda

[3] Vgl. Ebenda




2 Kommentare:

  1. Ich komme einfach nicht hinterher mit dem Lesen der guten Bücher... Dieses werde ich bestimmt auch irgendwann einmal lesen...

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    1. Das ist aber ein historischer Roman, der sehr dick ist. Die anderen beiden könnte ich dir als Hörbuch senden.

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