Murmansk, nördlich des Polarkreises. Zum ersten Mal kehrt Juri, der
längst als Ornithologe in Nordamerika lebt, in seine Heimat zurück. Sein
Vater Rubin liegt im Sterben, lediglich das Rätsel um Juris Großmutter
Klara – eine Wissenschaftlerin zur Zeit Stalins, die vor den Augen des
damals vierjährigen Rubin verhaftet wurde – hält ihn am Leben. Klaras
Verschwinden und eine Jugend voller Entbehrungen haben aus Rubin einen
unerbittlichen Fischer und hartherzigen Vater gemacht, der seinen
ungeliebten Sohn nun in einem letzten Aufeinandertreffen um Hilfe
bittet: Er soll herausfinden, was mit Klara passiert ist. Und
schließlich stößt Juri auf eine Wahrheit, die ihm vor Augen führt, wie
eng alle drei Schicksale – sein eigenes, Klaras und Rubins – miteinander
verknüpft sind… (Verlagsbeschreibung)
DNB / mare / 2020 / ISBN 978-3-86648-627-0
/ 304 Seiten
Isabelle Autissier auf Literae Artesque: Herz auf Eis
WER WIR SEIN WOLLEN...
"Hatte er wirklich hier gelebt? Er hatte sich hier aufgehalten, sein Bett hier gehabt, seine Kleider im Schrank. Er hatte hier mit drei anderen Menschen zu tun geabt, von denen er damals abhängig war, ohne dass er einen Sinn darin erkannt hätte. Es gelang ihm nicht, sich an die unbedeutenden Kleinigkeiten zu erinnern, die zur Jugend gehörten (...) Die 'gute alte Zeit' rief nichts in ihm wach. Ein Fluch hatte diese vier Wesen in sich selbst eingemauert und daran gehindert, das zu werden, was so normal und in der Kindheit doch so unverzichtbar war: eine Familie. Hatte das Schicksal seiner Großmutter irgendetwas damit zu tun?" (S. 142)
Diese Gedanken gehen Juri durch den Kopf, als er nach vielen Jahren erstmals wieder nach Murmansk zurückkehrt, um seinen sterbenden Vater zu besuchen. Die Gelegenheit beim Schopf greifend, zog es Juri damals mit seinem Stipendium in die USA, wo er seither als Ornithologe lebt. Nun sieht er sich wieder mit den Scherben seiner Kindheit und Jugend konfrontiert, und in Rückblenden und Erinnerungsfetzen lässt Isabelle Autissier den Leser daran teilhaben. Ein bedrückendes Bild der nachstalinistischen Ära zeichnet sie da, eine Kindheit ohne Geborgenheit und Trost, einen ablehnenden Vater, der nur Härte und Druck vermittelt. Die Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit des Kindes und später des Jugendlichen ist nahezu greifbar. Einzig die Natur und die Vögel versprechen eine Freiheit, nach der Juri giert.
Die Autorin verschafft aber auch einen Einblick in das Leben von Rubin, Juris Vater - als Vierjähriger musste er mit ansehen, wie seine Mutter mitten in der Nacht von schwarzgekleideten Männern aus dem Schlaf heraus abgeholt wurde. Seither hat er nie wieder etwas von ihr gehört, sein Vater redete nie über das Geschehen und die Umstände, das Thema war fortan tabu. Zu Zeiten Stalins wussten alle in der Stadt Bescheid über die Verhaftung Klaras, und Rubin galt als Kind als Geächteter. Eine weitere Einsamkeit - und um nicht immer als Opfer dazustehen, lernte Rubin, dass Gewalt ein Lösung ist. Die Macht des Stärkeren - und des Entschlosseneren - das war fortan sein Credo. Dabei immer auf der Hut, ja nicht negativ aufzufallen und womöglich das Schicksal seiner Mutter zu wiederholen. Nur auf dem Meer fühlte Rubin sich frei - doch lieben konnte er nicht.
Zuletzt wendet sich die Autorin dem Schicksal Klaras zu. Mit viel Mühe gelingt es Juri, an alte Akten und eine Art Tagebuch seiner Großmutter zu gelangen und daraus Stück für Stück das Geschehen nach ihrer Verhaftung zu rekonstruieren. Der Gulag als menschenfressendes Ungeheuer, der totalitäre Staat als willkürliches Unrechtsystem, die Wertlosigkeit eines menschlichen Lebens - all dies kommt hier sehr eindrucksvoll zur Geltung. Bedrückend vor allem, wie es solch einem System gelingt, das, was man eigentlich sein will, zu brechen, Verrat und Lüge zu praktizieren angesichts der Bedrohung dessen, was einem lieb ist. Wie kann man so leben? Und doch hängt Klara am Leben, arrangiert sich notgedrungen - und sucht sich ihre eigenen kleinen Nischen der Freiheit.
"Er war entsetzt darüber, wie ein einzelnes Sandkorn (...) das Leben mehrerer Generationen außer Kontrolle geraten lassen konnte." (S. 244)
Ein eindrucksvoller Roman, der mit menschlichen Gratwanderungen spielt, bedrückend oft und letztlich doch auch hoffnungsvoll. Wieder beleuchtet Isabelle Autissier Grenzerfahrungen, stellt in Frage, ob das, was man behauptet zu sein, auch in Zeiten existentieller Bedrohung noch Gültigkeit hat. Zuweilen überlief mich beim Lesen ein Frösteln - wohl nicht zuletzt deswegen, weil zwangsläufig die unangenehme Frage auftaucht: wie würde man sich selbst verhalten in der ein oder anderen Situation.
Die Erzählung erscheint über weite Strecken atmosphärisch dicht und überzeugt durch genaue Beobachtungen in klarer, präziser Sprache. Der Düsternis, dem Grauen, dem Verfall, dem unmenschlichen System, der Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit stellt Isabelle Autissier eindrucksvolle Schilderungen der rauen und unbestechlichen Natur gegenüber. Ein reizvoller Kontrast.
Ein Roman, der über das Lesen hinaus nachhallt...
© Parden
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