Dienstag, 5. September 2017

Nolte, Jakob: Schreckliche Gewalten


Eines Nachts verwandelt sich Hilma Honik in einen Werwolf und tötet ihren Mann. Von nun an sind ihre beiden Kinder auf sich selbst gestellt : immer in der Angst, die Bestialität liege in der Familie und könne auch von ihnen Besitz ergreifen. Während sich Iselin dafür entscheidet, in ihrer Heimatstadt Bergen mit ihren Mitbewohnerinnen die Terrorzelle »Mädchen im System« zu gründen, bereist Edvard die Ränder der Sowjetunion auf seinem Weg nach Afghanistan. Es beginnt eine fantastische Sinnsuche durch das 20. Jahrhundert und die Unwägbarkeiten menschlichen Verhaltens. In seinem zweiten Roman zeichnet Jakob Nolte einen schwarzen Regenbogen des Horrors über die Welt und erweist sich dabei als detailverliebter Nihilist und Meister des Wahnwitzes.

(Klappentext Matthes & Seitz Berlin)


  • Gebundene Ausgabe: 340 Seiten
  • Verlag: Matthes & Seitz Berlin; Auflage: 1 (27. März 2017)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3957574005
  • ISBN-13: 978-3957574008













BESTENFALLS SCHRÄG - IN JEDEM FALL EINE ZUMUTUNG!




So, nun bekomme ich nach der Lektüre dieses ... Buches das debile Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht. Leider nicht, weil das Lesen des neuesten Werkes von Jakob Nolte mich so begeistern oder amüsieren konnte, sondern weil ich endlich, endlich auf der letzten Seite angekommen bin. Neugierig wurde ich auf das Buch (Roman mag ich tatsächlich nicht sagen), als es auf der diesjährigen Longlist des Deutschen Buchpreises auftauchte. Und ähnlich wie bei dem zuvor gelesenen Roman 'Katie' von Christine Wunnicke (ebenfalls von der Longlist) erwartete mich hier eine Überraschung. Diesmal jedoch eher in Richtung Hirnerweichung.


"...setzte sich außerdem für ein Samisdat ein. Sie (...) hatte schon lange an einem Manifest über die Verneinung des Kollektivs gearbeitet, einer Abhandlung über das Okkulte, die Partei und die Masse, über die Theorie des Miasmas, die den üblen Dunst beschreibt. Sie war fasziniert von der Mathematik des Rudels. Wie aus der Gemeinsamkeit eine Gefahr erwächst, der ansteckende Effekt der Zugehörigkeit, deren einziger Zweck es ist, die Krankheit einer Idee zu übertragen."


Doch worum geht es hier eigentlich? Mühsam lässt sich tatsächlich zwischen den gefühlt drei Millionen Einschüben so etwas wie ein Grundgerüst erkennen, das die Geschichte, sofern es denn eine ist, fragil zusammenhält. Eine Mutter aus Bergen (Norwegen) entpuppt sich im Jahre 1973 mit über 50 Jahren plötzlich als Werwolf, tötet ihren Mann, flieht und lässt ihre 20jährigen Zwillinge Edvard und Iselin allein zurück. Während Iselin in Bergen bleibt, im Haus ihrer Eltern eine WG gründet, versuchsweise zur Terroristin wird und schließlich eine lesbische Beziehung aufnimmt, flieht Edvard vor dem erlebten Horror und der großen Angst, dass das Werwolf-Gen auch auf ihn gekommen sein könnte. Über Litauen macht er sich auf den Weg nach Afghanistan und gründet dabei eine nihilistische Straßenbande. Diskutiert wird dabei über Gott und die Welt, vermutlich gerade so, wie es dem Autor gerade quer in den Kopf kam und meist ohne jeglichen Zusammenhang zu dem gerade zuvor Geschriebenen.


"Thomas Mann war ein deutscher Mann der Mann-Familie, der auf Männer stand. Heute ist er niemandem mehr ein Begriff. Dabei galt er als Begründer des höheren Abschreibens, einer Methode des geistigen Diebstahls, die mit den Mitteln der modernen Forensik fast unmöglich nachweisbar ist. Es ist eine der schwierigsten Techniken der Kulturgewinnung."


Anhand der Geschichte der Geschwister laviert sich Jakob Nolte nebenbei durch eine Beleuchtung der Gewalttaten in den 1970er Jahren: das Münchner Olympia-Attentat 1972 ist ebenso Gegenstand  der Erzählung wie die Untaten japanischer oder palästinensischer Terrorgruppen, die RAF, der Stellvertreterkrieg in Angola, der sowjetische Unterdrückungsapparat u.a.m. Eine chronologische Erzählweise, psychologisch motivierte Figuren oder auch nur nachvollziehbares Handeln sucht man hier vergeblich. Der wilde Drang, 'anders' zu erzählen, bricht sich hier Bahn - und dies hat dem Buch vermutlich die begeisterten Stimmen im Feuilleton beschert sowie besagten Platz auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Beim Lesen drängten sich mir abwechselnd zwei Gedanken auf: entweder zu blöd für diese Art 'höherer Kunst' zu sein oder aber als eine der wenigen den 'Hurz-Effekt' (Hape Kerkeling lässt grüßen) zu durchschauen. Ich neige schlussendlich zu Letzterem.


"Eine Stadt zu sein heißt, Ballung zu sein." (...) "Würdest du sagen, dass eine Stadt ein Diamant ist und das Land Kohle?" - "Nein, das finde ich zu ungenau. Die Konzentration in einem Diamanten ist viel größer. Es ist eher so, dass Land Holz ist und eine Stadt Holzkohle (...) Es gibt nichts, was man mit einem Diamanten vergleichen könnte." - "Hund." - "Einen Hund?" - "Der Hund ist der beste Freund des Mannes, während der Diamant der beste Freund der Frau ist. Also muss es doch möglich sein, Hunde mit Diamanten zu vergleichen..."


Das Buch bietet eine unendlich scheinende Verschachtelung von Erzählebenen - ein Einschub in Klammern von über 40 Seiten inbegriffen, bevor der ursprüngliche Satz fortgeführt wird. Vom Hölzchen aufs Stöckchen - ein Stichwort reicht aus, um die Richtung zu wechseln. In kurzen bis kürzesten 'Kapiteln' wird der Leser hier zugeballert mit einer Flut an wikipedialastigen Informationen, schrägen Vergleichen -  "In diesen Stunden schienen die Sterne zu flackern, als wären sie die zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannten Leuchtstoffröhren der Amüsierviertel Bangkoks" -, trivialem Nonsens - "Benedikte war die Tochter ihrer Mutter und ein Kind ihres Vaters" - und teilweise endlosen und ermüdenden Aufzählungen. Neben selbstverliebten Sprachspielereien und teilweise hingerotzter Alltagssprache kommt es auch immer wieder zu eigenwilligen Sex-Szenen und Splatter-Fantasien - Quentin Tarantino geisterte hier mehr als einmal durch meinen Kopf. Dass die Geschichte letztlich kein Ende im üblichen Sinne hat, darf hier dann nicht mehr verwundern.


"Welches ist das gefährlichste Tier auf dem Planeten Erde?" (...) "Schließt man all die unbekannten Monster vom Grund des Meeres aus, lautet die Antwort: die weibliche Anopheles-Mücke. Sie ist jährlich für gut über eine halbe Million Tote verantwortlich, eher mehr. Und zwar überwiegend Kinder." (...) "Bei dem opferreichsten Bombardement in der Geschichte der Kriegsführung, dem Angriff der alliierten Truppen auf Tokio in der Nacht vom 9. auf den 10. März 1945, starben etwa 100000 Menschen (...) Diese Mücken verüben also jährlich fünf Bombardements auf Tokio, bei denen der Großteil der Toten Kinder sind."



Ein Fazit? Angesichts dieser Informationsexplosion, die da hinter mir liegt, lässt sich das schwer auf einen Punkt bringen. Klugscheißerisch, akademisch-überlegen, angeberhaft, blutrünstig, morbid, grausam, einfallsreich, trashlastig, misanthropisch, nihilistisch, erzählfreudig, ironisch-hochtrabend, schwarzhumorig, eigenwillig, durchgeknallt - eben anders. Für mich bestenfalls schräg - in jedem Fall aber eine Zumutung!


© Parden











Matthes & Seitz Berlin schreibt über den Autor:

Jakob Nolte, geboren 1988, wuchs in Barsinghausen am Deister auf. Seine Theaterstücke wurden mehrfach prämiert und an zahlreichen Bühnen Europas gespielt. Sein Debütroman ALFF wurde mit dem Kunstpreis Literatur 2016 ausgezeichnet. Im selben Jahr war er Stipendiat der Villa Kamogawa in Kyoto.

übernommen von Metthes & Seitz Berlin

7 Kommentare:

  1. Die Textauszüge müssen ja zu Dreckfuhlern führen. Oder?

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    1. Ups. Ich hoffe, ich habe nun alles korrigiert... ;)

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    2. Quentin Tarantino hätte ich dir eigentlich nicht zugetraut. Gibt es da einen der dir wirklich gefällt?

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    3. Mir muss ja keiner wirklich gefallen - aber ich kenne ihn eben. Und der Vergleich drängt sich hier zeitweise auf! ☻

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  2. Ich habe mir die Leseproben der Longlist 2017 gerade durchgelesen, ich muss gestehen, dieses Buch hätte/hat es nicht auf meine WuLi geschafft.
    Tolle Rezi.
    LG Walli :-)

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    1. Danke, Walli. Ich war einfach neugierig,was Werwölfe auf der Longlist zu suchen haben. Ich fürchte ehrlich gesagt, dass das Buch derart schräg ist, dass es tatsächlich Potential hat, auch auf der Shortlist zu landen... Andernorts schrieb jemand als Kommentar auf meine Rezension: 'Das klingt so ein wenig nach dieser extrem verkopften Literatur, die das Feuilleton liebt, um die Leser mehrheitlich einen Bogen machen und die Franzosen uns immer als Beweis nennen, warum sie so wenig deutsche Romane ins Französische übersetzen.' --- Ja, genau.

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