Samstag, 20. August 2016

Willemsen, Roger: Habe Häuschen. Da würden wir leben (Hörbuch)


Für den Moderator und Publizisten Roger Willemsen ist die Welt der Kontaktanzeigen eine Literatur neben der Literatur: Sie findet massenhafte Verbreitung und macht aus allen Menschen Autoren und Autorinnen – und das schon seit Jahrhunderten. In ihren Annoncen zeigen sich die Verfasser unverblümt und komisch, aber auch fordernd oder bitter. Sie sagen, wie sie selbst sich sehen oder gesehen werden möchten, und entwickeln ihre Ideale eines geglückten Liebeslebens. Das ist oft (unfreiwillig) komisch. Doch vor allem sagt diese Literatur etwas über den suchenden Menschen aus – und sie ist in dieser Hinsicht auch ernst zu nehmen. Willemsen hat lange recherchiert und dabei allerlei Rührendes, Abstruses, Groteskes und Komisches ausgegraben. In einer szenischen Lesung mit der Schauspielerin und Komikerin Anke Engelke streift er durch seine Funde und denkt laut über die unterschiedlichen Facetten der »Verpartnerungsprosa« nach. 


  • Audio CD
  • Verlag: tacheles!/ROOF Music; Auflage: 2 (13. August 2015)
  • Sprache: Deutsch
  • Sprecher: Roger Willemsen, Anke Engelke 
  • Spielzeit: 85 Minuten
  • ISBN-10: 3864843170
  • ISBN-13: 978-3864843174











 IM DSCHUNGEL DER KONTAKTANZEIGEN...

Es gibt eine Literatur neben der Literatur, eine, die auf eigene Weise von dem spricht, was ist, was fehlt, was sein soll, und die aus allen Menschen Autoren macht: die Kontaktanzeige. Hier zeigen sich Menschen unverblümt, hier sagen sie, wie sie selbst sich sehen oder gesehen werden möchten, hier entwickeln sie ihre Ideale eines geglückten Liebeslebens. Roger Willemsen hat lange und an entlegenen Publikationsorten recherchiert. In einer szenischen Lesung mit Anke Engelke denkt er laut über die unterschiedlichen Facetten der »Verpartnerungsprosa« nach und streift durch seine Funde.

Über 80 Millionen Deutsche haben allein im letzten Jahrzehnt eine Kontaktanzeige online gestellt. Fast jedes 5. Paar hat sich heutzutage im Internet kennengelernt. Um so dringender erschien Roger Willemsen daher die Aufgabe, sich einmal eingehender mit den Kontaktanzeigen zu befassen. Und - wenig verwunderlich - bei allen modernen Entwicklungen: die Sprache der Inserate ähnelt doch noch häufig der der Höhlenbewohner von einst.

Diese 85minütige Lesung ist recht kurzweilig inszeniert, dadurch dass sich Roger Willemsen und Anke Engelke abwechselnd und unterhaltsam laufend gegenseitig den Ball zuspielen. Highlights aus den Funden der Welt der Kontaktanzeigen werden untermalt durch nachdenkliche und dabei augenzwinkernde mögliche Interpretationen dieser ganz eigenen Schriftstücke - und Wissenswertes gibt es obendrein.

So erfährt der Hörer beispielsweise, dass die erste Kontaktanzeige am 19. Juli 1695 in einem Londoner Wochenblatt erschien - und für einen Eklat sorgte. "Ein Herr von etwa 30 Jahren mit ansehnlichem Besitz sucht eine junge Dame mit einem Vermögen von circa 3.000 Pfund." Nicht jedoch der Inserent war es, der im Kreuzfeuer der Kritik stand, sondern die verantwortlichen Redakteure, die ein solches Inserat zuließen. Erst 30 Jahre später gab eine Frau eine derartige Anzeige auf - diesmal allerdings mit Folgen für sie selbst. Sie wurde als Exzentrikerin verschrieen und in eine Nervenheilanstalt eingewiesen. Etwa 120 Jahre später, am 30. Januar 1956, gab es erstmals eine andere Form der Kontaktanzeige. Die Eltern einer gerade einmal erwachsenen Tochter, die an 'Veiztanz' erkrankt war, boten diese meistbietend möglichst einem 40-50 jährigen Arzt als Ehefrau an, wenn dieser sich nur ausreichend um sie kümmere...

Wirklich neu sind die Kontaktanzeigen also nicht. Nur das Internet sorgte als moderne Form der Verbreitung dafür, dass auch diese Schriftstücke eine Art Globalisierung erfuhren. Der Lesung ist anzumerken, dass sowohl Anke Engelke als auch Roger Willemsen deutlich Spaß an dem Vortrag hatten. Sehr positiv empfand ich dabei, dass sich die Sprecher zwischendurch zwar durchaus lustig machen über die Inhalte der Kontaktanzeigen, dabei aber auch nachdenkliche Töne einbringen und manchmal nahezu anrühren.

Viel weniger 'Klamauk' wird hier also geboten, als ich anfangs erwartete. Aber ein paar skurrile Fundstücke seien hier dennoch weitergegeben: So sprach jemand nahezu lyrisch in seiner Kontaktanzeige von der Durchwanderung 'der grünen Auen des Kamasutras', bei einem zweiten schien es auf einen letzten Versuch hinauszulaufen 'Bin Rentner, 72, und suche jemanden, der das Leben genauso satt hat wie ich.'  und ein dritter meinte metaphorisch: 'Hänsel sucht Gretel - die Hexe hatte ich schon...'

Eine angenehm zu hörende Lesung um ein Phänomen der heutigen Zeit, die Unterhaltsames ebenso bietet wie Wissenswertes. Kein Muss, aber durchaus nett für zwischendurch!


© Parden















Roger Willemsen Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den Prix Pantheon-Sonderpreis, den Deutschen Hörbuchpreis und die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft. Willemsen war Honorarprofessor für Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin, Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins und stand mit zahlreichen Soloprogrammen auf der Bühne. Zuletzt erschienen im S. Fischer Verlag seine Bestseller ›Der Knacks‹, ›Die Enden der Welt‹, ›Momentum‹ und ›Das Hohe Haus‹. Über sein umfangreiches Werk gibt Auskunft der Band ›Der leidenschaftliche Zeitgenosse‹, herausgegeben von Insa Wilke.


Anke Christina Engelke; bürgerlich: Anke Christina Fischer, ist eine deutsche Komikerin, Schauspielerin, Entertainerin, Musikerin, Synchronsprecherin und Moderatorin. Nähere Informationen s. Wikipedia



7 Kommentare:

  1. Moin, liebe Anne Parden, ein interessanter Artikel hast du hier hinterlegt. Die Kontaktanzeigen als eine andere Form von Literatur, Prosa, habe ich bisher so nie gesehen. Interessanter Gedanke.

    Einen schönen Sonntag dir.

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  2. So, ich stell dann mal eine Kontaktanzeige:
    "Ich will nicht mit dir um Biertheken streichen,
    aber lass uns keiner Bibliothek ausweichen.
    Ein Blog blockt "leider" einen Haufen Freizeit,
    Drum bloggen wir zukünftig in Teilzeit."

    oder so....

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    1. Toll KaratekaDD! Wenn ich nicht schon verheiratet wäre... ;-)

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    2. Klingt fast wie Rapmusik... Sehr innovativ, lieber Uwe. ☺

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  3. Ich bin auch noch nie auf die Idee gekommen, Kontaktanzeigen als Literaturvariante anzusehen. Aber warum nicht? Ergänzend schlage ich vor, auch Todesanzeigen als eigenes Genre zu betrachten. Auch dort findet sich viel Lesenswertes... ;-)

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    1. Hallo liebe Ina, schön, Dich hier zu lesen!

      Zu Todesanzeigen gibt es übrigens schon diverse Bücher - Du siehst, Du liegst ganz richtig! ☺

      Liebe Grüße,
      Anne

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