Montag, 16. November 2015

MacGregor, Neil: Deutschland - Erinnerungen einer Nation

Es gibt Tage, die unterscheiden sich irgendwie von anderen, durchschnittlichen Tagen. Nicht etwa, weil sich an ihnen Herausragendes ereignen würde oder weil sie ein besonderes Datum markieren, sondern  ganz einfach, weil sich an ihnen in meinem kleinen, privaten Mikrokosmos eine Begegnung mit irgendwem oder mit irgendwas ereignet, das den Tag aus meiner ganz individuellen Sicht zu einem besonderen Tag macht. 
Jeder kennt das: 
Das kann das Lächeln eines anderen Menschen etwa oder ein besonderes Erlebnis sein, eine plötzliche Idee oder.... ein Buch.
Kürzlich war für mich wieder ein solcher Tag:
Der Weg vom Frisör meines Vertrauens zum Parkhaus führte mich am Buchladen vorbei. Natürlich hatte ich es eilig, wie fast immer in letzter Zeit. Doch an der Auslage eines Buchladens haben Termine (meine Frau weiß ein Lied davon zu singen) bekanntlich keine Macht über mich: 
So viel Zeit muss sein! 
Also studierte ich die im Schaufenster liegenden Neuerscheinungen und da lag es: 
MEIN Buch.
Ja, es war ohne Zweifel MEIN Buch, das zweifelsfrei dort auf mich gewartet hatte. 
Oh je, jetzt war, wie man so schön sagt, Holland in Not! 
Monatsmitte:   Am Ende meines Budgets ist doch noch soooo  viiiiiel Monat übrig. Fast 40 Euro für ein dickes Buch, da würde mein Taschengeld für den Restmonat aber äußerst knapp werden!
Also, umdrehen und nichts wie weg! Hab ja schließlich noch Termine!
Sie, liebe Leserinnen und Leser wissen sicher längst, wie das ausging:
Weder der Gedanke: "Das könntest du dir ja zu Weihnachten wünschen!" noch: "Man muss ja nicht immer nachgeben!" halfen mir irgendwie weiter. Zehn Meter von der Schaufensterscheibe entfernt zog es mich, als hinge ich an einem Gummiband,  zurück, und, wie einen Junkie auf Entzug, der Gras geschnüffelt hat, in den Coffeshop, Verzeihung, in die Buchhandlung, indem meine Beine sich einfach selbständig machten. Nur eine Minute später stand ich, das Buch in der Hand, bereits vor der Ladenkasse.

Deutschland
Erinnerungen einer Nation
von Neil MacGregor.

Die Historie ist ein faszinierendes Thema und sie fesselt mich immer wieder. Das Problem mit der Historie aber ist, dass sie niemals völlig objektiv geschrieben werden kann, denn Historiker sind Menschen. Und Menschen sind immer subjektiv. 
Ob sie es wollen oder nicht. 


Deutsche Geschichte macht da keine Ausnahme, nur potenziert gerade die deutsche Geschichte das Problem um ein Vielfaches! Deutsche Geschichte neutral und möglichst frei von Vorurteilen und ohne Ressentiments zu erzählen, ist m.E. bisher nur ganz wenigen gelungen. Schon gar nicht uns Deutschen selbst! So wird die Erzählung und vor allem die Bewertung deutscher Geschichte heutzutage leider fast immer von der Nazizeit und vom Holocaust überschattet, darauf reduziert und ja, am Ende in der Gesamtheit negativ bewertet. Man betrachtet die Deutsche Geschichte unterschwellig als etwas Unanständiges, jedenfalls nicht als etwas, auf das man stolz sein könne. Historiker sind heutzutage, besonders in Deutschland, leider in vielen Fällen nicht unvoreingenommen oder frei von Ideologie! Sehr oft müssen wir leider feststellen, dass die deutsche Geschichte einzig aus heutiger Sicht beurteilt wird, indem man glaubt, Kausalitäten feststellen zu können, ja, manchmal auch konstruiert, die beweisen sollen, dass die deutsche Geschichte in weiten Teilen ein Irrweg war, der schließlich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zum 3. Reich und zum Holocaust führte bzw. diesen ermöglichte. Welch ein Schwachsinn!

Ich will ein ebenso konstruiertes Beispiel heranziehen, um deutlich zu machen, was ich meine: Wäre diese Argumentation richtig, dann wäre die biblische Eva nämlich diejenige, welche das möglich machte. Hätte sie nämlich nicht in den Apfel vom Baum der Erkenntnis gebissen, wäre die Menschheit noch heute im Paradies, und es hätte niemals ein "3. Reich" oder die Judenvernichtung gegeben. Ist nun die arme Eva schuldig, all das Leid der Menschheit in den folgenden Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte verursacht zu haben?
Ja und nein! Ich glaube vielmehr, dass die Menschen zu jeder Zeit versucht haben, Antworten auf die Probleme ihrer Epoche zu finden. Alles andere war mehr oder weniger dem Zufall überlassen.


Bismarck / Abb 2
Bismarck beispielsweise war zweifellos einer der großen Deutschen, die sich um die Einheit der Deutschen Nation verdient gemacht haben. Gedankt wird es ihm von einer Vielzahl ideologisch beeinflusster, vornehmlich deutscher Historiker nicht. Während die Franzosen ihren Napoleon Bonaparte im Invalidendom verehren, wird Bismarck in Deutschland heutzutage verleugnet, ja, man ist nicht einmal bereit, noch Straßen nach ihm zu benennen. Dies, und vieles andere, ist heute symptomatisch für Deutschland: Die Verleugnung  und die bewusste und gewollte Fehldeutung der der eigenen Geschichte und der vielfach vorhandene latente Hass gegen die eigene Nation!

Vor einiger Zeit geisterten Fotos von Jugendlichen, die der Jugendorganisation einer bestimmten deutschen Partei angehören, durch´s Internet. Sie urinieren während eines Kongresses ihrer Parteiorganisation auf die Deutschlandfahne. Dies ist das Ergebnis der Umerziehung eines Teils der deutschen Jugend zum Hass auf das eigene Land. Ihnen ist wahrscheinlich nicht bewusst, dass sie, indem sie auf die deutsche Fahne urinieren, auf sich selbst pissen! (Man verzeihe mir die deutliche Ausdrucksweise). Wer seine eigene Herkunft und seine Wurzeln verleugnet, der ist nicht nur unglaublich dumm, sondern meiner Meinung nach paranoid.
Dummheit ist eine Sache, Unwissenheit eine andere. 
Kürzlich, am 09. November, besuchte ich zum Jahrestag der "Reichskristallnacht" eine Lesung der Autoren Astrid Dehe und Achim Engstler. Die beiden lasen in meiner Heimatstadt aus ihrem Buch "Nagars Nacht". 
Es war eine eindrucksvolle Veranstaltung, in der ich auch mit einigen ca. 16, 17-jährigen Schülern in`s Gespräch kam. Da musste ich feststellen, dass die weder mit dem Namen Adolf Eichmann noch mit dem Begriff "Reichspogromnacht" bzw. "Reichskristallnacht" etwas anfangen konnten. Sie wussten schlichtweg gar nichts darüber.
Eine pensionierte Geschichtslehrerin, mit der ich nach der Lesung darüber sprach, bedauerte, dass diese Themen heute in den Lehrplänen leider gar nicht mehr vorkommen!
Ein noch aktiver Lehrer, den ich am Rande der Veranstaltung ansprach, sagte mir allen Ernstes, dass selbst viele junge Lehrer mit diesen Begriffen heute nichts mehr anfangen können!
Möge jeder seine eigenen Schlüsse daraus ziehen. 
Ich finde es erschreckend und traurig: Was, zum Teufel, ist da los in deutschen Klassenzimmern?
  
Dies unterscheidet Deutschland bis heute ganz wesentlich von anderen Nationen in Europa und in der Welt:
Patriotismus wird in Deutschland heute (vom Fußball vielleicht mal abgesehen), ganz anders als in den meisten anderen Nationen, mehrheitlich mit Nationalismus gleichgesetzt und in die rechte Ecke gestellt. Es "gehört sich nicht", Deutschland und ja, sein eigens Deutschsein zu lieben oder etwa gar stolz darauf zu sein. Begriffe wie Nation, Volk, Heimat, Vaterland, Patriotismus sind in Deutschland heute in weiten Kreisen verpönt und wer sie gebraucht, steht schnell in dem Verdacht, ein "Rechter" zu sein, der sich das tausendjährige Reich zurückwünscht (das ja bekanntlich in den Trümmern des letzten Krieges furios nach 12 Jahren unterging...). 
Um es an dieser Stelle gleich zu sagen: 
Die größten Verbrecher an Deutschland, an Volk und Nation, sind und waren zweifellos die Nazis, die Begriffe wie "Treue" und "Ehre" beschmutzt und besudelt und Deutschland mit einer Hypothek belastet haben, die bis heute nicht getilgt ist. Diese Verbrecher haben die Worte "Treue" und "Ehre" und "Anstand" benutzt, ohne diese selbst jemals zu besessen zu haben. 
Beweis gefällig?

„Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. – ‚Das jüdische Volk wird ausgerottet’, sagt ein jeder Parteigenosse‚ 'ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.’ […] Von allen, die
Heinrich Himmler
Abb.3
so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte [...]".

Reichsführer SS Heinrich  Himmler in seiner "Posener Rede" am 
04. Oktober 1943 vor 92 SS Offizieren [1]


Das Himmler hier den massenhaften, fabrikmässig organisierten, feigen Mord an jüdischen Frauen, Kindern und Männern als eine große Tat hinstellt und seinen Schergen dann auch noch "Anständigkeit" attestiert, ist wohl der Gipfel. Anstand ist etwas, was dieser Mann wohl niemals besessen hat und den Mördern von unschuldigen Menschen, darunter massenhaft Kinder und Frauen, Ruhm und damit Ehre zuzugestehen, ist schlichtweg eine Perversion dieser Begriffe.
Im Übrigen aber hielt Himmler es wohl wie alle Mörder: Er will seine Taten geheim halten und bezeichnet den Judenmord als ..."niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte...".

Unter diesen Umständen als deutscher Historiker deutsche Geschichte halbwegs objektiv bewerten zu wollen, ist schwer und verlangt zudem Mut, wenn man seine Analysen frei von heute gängigen Ressentiments und Vorurteilen treffen will. Wenigen deutschen Historikern ist das nach 1945 bisher gelungen!
Golo Mann ist einer dieser Wenigen gewesen. Seine "Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts" ist eines meiner Lieblingsbücher und von mir sehr zu Lektüre empfohlen. Meine Rezension des Buches finden Sie hier

Wie gut ist es da, dass sich ausländische Autoren, in diesem Fall der Brite Neil MacGregor, mit der deutschen Geschichte auseinandersetzen, denn es fällt schwer, ausgerechnet einem Briten "Deutschtümelei" oder ähnliches vorzuwerfen. 





Neil MacGregor 

Neil MacGregor / Abb 4
Im Alter von 16 Jahren war MacGregor Austauschschüler in Hamburg. Er studierte zunächst Französisch und Deutsch am New College der Universität Oxford, Philosophie an der École normale supérieure in Paris, sowie Rechtswissenschaft an der University of Edinburgh. Anschließend absolvierte er ein Studium der Kunstgeschichte am Courtauld Institute of Art der Universität London.
Nach einigen Jahren als Dozent für Kunstgeschichte und Architektur an der University of Reading sowie am Courtauld Institute of Art übernahm er 1981 die Herausgeberschaft des Burlington Magazine, einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift für Kunst und Dekoration, die er bis 1987 innehatte. Im selben Jahr wurde er Direktor der National Gallery in London. Seit 2002 ist er Direktor des British Museum.

Bekanntheit jenseits des wissenschaftlichen Fachpublikums erlangte MacGregor durch Kooperationen mit der BBC: 2000 wurde die Serie Seeing Salvation über Jesusbilder in der westlichen Kunstgeschichte ausgestrahlt, 2010 präsentierte er auf Radio 4 und dem World Service die Serie A History of the World in 100 Objects, die auf Deutsch als Buch mit dem Titel Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten erschien. Dieses Buch wurde als Wissensbuch des Jahres 2012 ausgezeichnet. Ende des Jahres 2014 organisierte er die Ausstellung Germany - memories of a nation im British Museum in London, die ein großer Erfolg wurde und zu deren Besucherinnen auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zählte.

Im Mai 2015 erklärte MacGregor, seinen Posten als Direktor des British Museum bis zum Ende des Jahres aufzugeben, um danach das Amt des Gründungsintendanten amHumboldtforum in Berlin anzutreten.

Quelle: Wikipedia (den gesamten Artikel lesen Sie hier) [2]

Deutschland - Erinnerungen einer Nation ist ein ganz besonderes Buch. Es nähert sich der deutschen Geschichte von einer ganz ungewöhnlichen Seite:
Der Autor stellt uns Objekte aus rund 500 Jahren der deutschen Geschichte vor. Bauhaus-Design, Gutenberg-Bibel oder Grimm´s Märchen, Baudenkmäler und vieles, vieles mehr:
Wir lauschen fasziniert den Geschichten, den Erinnerungen, die uns der Autor auf über 600 reich bebilderten Seiten von diesen Objekten erzählt und erfahren so von Begebenheiten und Zusammenhängen, die wir bisher so nicht oder zumindest nicht aus diesem speziellen Blickwinkel kannten.
"Jeder, der Deutschland verstehen will, sollte dieses Buch lesen", urteilt der britische Historiker Antony Beevor.  
Recht hat er.

Neil MacGregors Buch ist  m e i n  ganz persönliches Sachbuch des Jahres!
Es ist spannend, prächtig in der Aufmachung und ungemein fesselnd. 
Kurzum: Ein echter Schatz im Bücherschrank!


Neil MacGregor
Deutschland
Erinnerungen einer Nation
aus dem Englischen von Klaus Binder
Gebundene Ausgabe, 640 Seiten
Verlag C.H. Beck, München 2015
DNB


[1] siehe Seite „Posener Reden“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 12. Oktober 2015, 14:43 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Posener_Reden&oldid=146935130 (Abgerufen: 17. November 2015, 17:29 UTC) 
[2]  siehe Seite „Neil MacGregor“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 11. November 2015, 11:15 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Neil_MacGregor&oldid=147929581 (Abgerufen: 17. November 2015, 17:32 UTC) 

Abb 2:  CC BY-SA 3.0 de; File:Bundesarchiv Bild 183-S72707, Heinrich Himmler.jpg Hochgeladen von DIREKTOR; Erstellt: 1. Januar 1942
Abb 3:  CC BY-SA 3.0 de; File:Bundesarchiv Bild 183-R68588, Otto von Bismarck.jpg; Hochgeladen von Cropbot; Erstellt: 3. Juli 1871
Abb 4:  CC-BY-SA 4.0Die Persönlichkeitsrechte der abgebildeten Person(en) beschränken bestimmte Weiterverwendungen des Bildes ohne dessen/deren vorherige Zustimmung; File:Neil MacGregor Frankfurter Buchmesse 2015.JPG; Hochgeladen von Lesekreis; Erstellt: 16. Oktober 2015


C: TinSoldier









6 Kommentare:

  1. Da hast du dir ja was von der Seele geschrieben.
    Aber auch meine Interesse geweckt.

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  2. Mit einer gewissen Regelmäßigkeit höre und lese ich gleichzeig Kapitel für Kapitel dieses wirklich hervorragenden Buches. Das Hörbuch kostet genau soviel wie das Gebundene, aber es war ein guter Entschluss: hören und blättern.

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    1. Kein Buch für mich - aber es ist doch schön, wie wir uns hier gelegentlich gegenseitig inspirieren... ☺

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    2. Finde ich gut, dass Dir dieses außergewöhnliche Buch auch so gut gefällt, Uwe!

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    3. Vielleicht würdest du ganz interessante Teile über Kunst und Kultur beim schmökern finden, Anne

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