Mittwoch, 7. August 2024

Wittstock, Uwe: Marseille 1940

 

Juni 1940: Hitlers Wehrmacht hat Frankreich besiegt. Die Gestapo fahndet nach Heinrich Mann und Franz Werfel, nach Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger und unzähligen anderen, die seit 1933 in Frankreich Asyl gefunden haben. Derweil kommt der Amerikaner Varian Fry nach Marseille, um so viele von ihnen wie möglich zu retten. Uwe Wittstock erzählt die aufwühlende Geschichte ihrer Flucht unter tödlichen Gefahren. Es ist das dramatischste Jahr der deutschen Literaturgeschichte. In Nizza lauscht Heinrich Mann bei Bombenalarm den Nachrichten von Radio London. Anna Seghers flieht mit ihren Kindern zu Fuß aus Paris. Lion Feuchtwanger sitzt in einem französischen Internierungslager gefangen, während die SS-Einheiten näherrücken. Sie alle geraten schließlich nach Marseille, um von dort einen Weg in die Freiheit zu suchen. Hier übergibt Walter Benjamin seinen letzten Essay an Hannah Arendt, bevor er zur Flucht über die Pyrenäen aufbricht. Hier kreuzen sich die Wege zahlreicher deutscher und österreichischer Schriftsteller, Intellektueller, Künstler. Und hier riskieren Varian Fry und seine Mitstreiter Leib und Leben, um die Verfolgten außer Landes zu schmuggeln. (Verlagsbeschreibung)

DNB / C.H. Beck / 2024 / ISBN 978-3-406-81490-7 / 351 Seiten 

 

 

 

"Die große Flucht der Literatur" lautet der Untertitel des Buches - und das war es, was mich neugierig werden ließ. Der Klappentext machte dann schnell deutlich, um was es hier geht, und so wagte ich mich an eine Premiere: an ein Sachbuch "Gegen das Vergessen". Kann das funktionieren? Wer mehr wissen will, kann hier gerne weiterlesen:
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

EIN SACHBUCH GEGEN DAS VERGESSEN...

 
 

Varian Fry (1907-1967)? Wieder einmal ein Name, der mir bisher nichts sagte, wie so viele der Mutigen, die während der Zeit des Nationalsozialismus dafür sorgten, dass Menschenleben gerettet wurden. Varian Fry gehört zu denen, die zahllose jüdische und "entartete" Schriftsteller, Denker, Künstler außer Landes schmuggelten, bevor das Regime sie ergreifen und in ihre Lager sperren konnte. Menschen, die sich bereits im Exil in Frankreich befanden, nun aber nicht länger sicher waren. 

Als Fry in den 1930er Jahren klar wird, dass in Europa alles auf einen Krieg hinsteuert, warnt er in den USA unermüdlich vor dem aggressiven Nationalsozialismus in Deutschland. 1940 ereilt ihn die Nachricht vom Einmarsch der Deutschen in Frankreich - und dass die Gestapo systematisch das Land durchkämmt, unter anderem auf der Suche nach verfolgten Widerstandskämpfern und Intellektuellen. Gemeinsam mit einem früheren Widerstandskämpfer, der sich bereits im Exil befindet, schmiedet er einen Rettungsplan und gründet ein Komitee zur Rettung verfolgter Künstler und Intellektueller in Europa.  

Da die Zeit knapp wird, beschließt Fry schließlich, selbst nach Frankreich zu reisen, um die Mission zu leiten, um vor Ort die Rettungsaktionen zu koordinieren und die notwendigen Ausreisepapiere zu beschaffen. Trotz seiner fehlenden Erfahrung in der illegalen Arbeit im Untergrund scheint Fry durch seinen politischen und journalistischen Hintergrund sowie durch seine Sprachkenntnisse geeignet für diese gefährliche Lage zu sein. Marseille ist das Ziel seiner Reise, da die Stadt noch nicht besetzt ist und von dort aus die Flucht in verschiedene Länder angetreten werden kann. Zunächst agiert er mit seinem Team aus wenigen Helfern vorsichtig von einem Hotelzimmer aus, später aus einem Büro der neu gegründeten "Centre Américain de Secours".

Keine Flucht ist dabei wie die andere - es gibt ständig wechselnde Voraussetzungen, und Kreativität ist stets gefragt. Neben der Beschaffung gefälschter Pässe, Visa und anderer notwendiger Dokumente, die die Flüchtlinge über die Grenze bringen können, gilt es, die jeweils sicherste Route für die Flucht aus Frankreich zu ermitteln. Weiter geht es meist über Spanien nach Portugal - ein neutrales Land während des Zweiten Weltkriegs - und von da aus teilweise weiter per Schiff nach Übersee oder in andere sichere Länder. Die Flüchtlinge benötigen neben den notwendigen Dokumenten detaillierte Anweisungen, Bestechungsgeld und teilweise auch eine Begleitung oder zumindest eine direkte Unterstützung bei der Überquerung der Grenze. Gefahrenquellen gibt es dennoch viele.

Chronologisch geordnet präsentiert Uwe Wittstock sorgfältig recherchierte Details der Flucht berühmter Schriftsteller und Intellektueller wie Anna Seghers, Heinrich und Golo Mann, Hannah Arendt oder Lion Feuchtwanger. Dass nicht jeder Fluchtplan ein glückliches Ende nimmt, zeigt beispielsweise das Schicksal von Walter Benjamin, der in einer spanischen Hafenstadt Suizid begeht.

Frys Rettungsaktionen finden ab Mai 1940 für einige Monate statt, bis die Bedingungen sich so verschlechtern, dass an eine Fortsetzung der Fluchthilfe nicht mehr zu denken ist. Die vormals sicheren Routen werden zu gefährlich, und einige unentbehrliche Helfer vor Ort werden überwacht und können sich nicht länger beteiligen. Und ausgerechnet das New Yorker US-Hilfskommittee, das ihn seinerzeit nach Frankreich entsandt hat, wirft Fry vor, als illegaler Fluchthelfer zu agieren anstatt lediglich Geld und Lebensmittel an die Hilfsbedürftigen zu verteilen. Auch wenn sich Fry zunächst sträubt, der Forderung nach einer Rückkehr in die USA nachzukommen, wird er schließlich im September 1941 aus Frankreich ausgewiesen, als sich die US-Regierung weigert, seinen Pass zu verlängern.

Seine weiteren Appelle gegen das Geschehen in Europa bleiben in den USA ungehört - Fry findet keine Beachtung mehr, geschweige denn Anerkennung durch die US-Regierung oder die Öffentlichkeit. Erst Jahrzehnte später (1994) erhält Fry posthum eine Auszeichnung durch die französische Regierung sowie eine Anerkennung als "Gerechter unter den Völkern"  durch Yad Vashem, die israelische "Gedenkstätte des Holocausts und des Heldenmuts". 

Zivilcourage und Wagemut angesichts des Horrors des Nationalsozialismus. Und ein durchaus spannendes Sachbuch gegen das Vergessen, das eben diese trotzige Hoffnung und die Mitmenschlichkeit in düsterer Zeit würdigt. Empfehlung!


© Parden


 
 
 
 
 
 
 
 
 
Uwe Wittstock ist Schriftsteller und Journalist und war bis 2018 Redakteur des Focus. Zuvor hat er als Literaturredakteur für die FAZ, als Lektor bei S. Fischer und als stellvertretender Feuilletonchef und Kulturkorrespondent für die Welt gearbeitet. Er wurde mit dem Theodor-Wolff-Preis für Journalismus ausgezeichnet. (Quelle: C.H. Beck)
 
 
 

1 Kommentar:

  1. Der Titel fiel mir mehrfach auf. Da du aber nun zugeschlagen hast, kann ich mich auf anderes werfen. Aber eigentlich müsste ich es lesen...

    AntwortenLöschen

Durch das Kommentieren eines Beitrags auf dieser Seite, werden automatisch über Blogger (Google) personenbezogene Daten, wie E-Mail und IP-Adresse, erhoben. Weitere Informationen findest Du in unserer Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google. Mit dem Abschicken eines Kommentars stimmst Du der Datenschutzerklärung zu.

Um die Übertragung der Daten so gering wie möglich zu halten, ist es möglich, auch anonym zu kommentieren.