Dienstag, 16. August 2022

Hosseini, Khaled: Am Abend vor dem Meer

Ein Jahr ist vergangen, seit die USA mit ihren verbündeten dieses Afghanistan Hals über Kopf verlassen haben. Die Bilder der Menschen auf dem Kabuler Flughafen werden uns in den Medien wieder vor Augen geführt. Der SPIEGEL veröffentlicht eine mehrteilige eindringliche Artikelserie über diese Zeit. Erschütternd...

Afghanistan spielte dann hier und vor allem im Drachenläufer eine Rolle. Erst kürzlich schrieb ich über dieses Buch. Drachenläufer ist ein weltweit bekannt gewordener Roman von Khaled Hosseini. Dessen Familie flüchtete einst selbst aus Afghanistan, auch weitere seiner Bücher behandeln die Heimat des Autors.

Warum mir der schmale Band mit dem Titel Am Abend vor dem Meer, der hier vor mir liegt, erst vier Jahre nach seinem Erscheinen auffällt, liegt an eben diesem Drachenläufer, den ich erst kürzlich auf unserem Blog, insgesamt aber erneut zum Thema machte.

Warum dieses Buch? Wer erinnert sich an das Bild des kleinen dreijährigen Syrers Alan Kurdi am Strand des Mittelmeeres? In der blauen halblangen Hose und dem roten T-Shirt, dem Schopf mit den kurzen tiefschwarzen Haaren, die Knie leicht angezogen, die Ärmchen schlaff und eng am Körper, liegt der Kleine da am Strand. Ertrunken. Am Abend nach dem Meer. Im September 2015.

Diesem Jungen und den tausenden Ertrunkenen im Mittelmeer auf dem Weg nach Europa widmet der weltbekannte Autor dieses wunderschön von Dan Williams illustrierten Buch. Übersetzt wurde es aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens.




D
as Buch. Es beginnt mit einem Blick in die Kindheit, mach Homs. Der Blick eines fiktiven Syrers auf Olivenbäume, Ziegen, Kühe auf einer Wiese mit Wildblumen, klappernde Kochtöpfe der Großmutter – ein Blick zurück in den Frieden.

Es scheint als spricht der Vater zum Sohn, er erzählt ihm, dass er und die Onkel, seine Brüder auf dem Dach von Großvaters Hof lagen und in die Weite Syriens blicken.

„In der geschäftigen Altstadt gab es eine Moschee für uns Muslime, eine Kirche für unsere christlichen Nachbarn und für alle einen herrlichen Suk, wo man um Goldanhänger feilschte, um frische Lebensmittel und Brautkleider.“



Doch dann kommen die Proteste, dann kommt der Krieg. Es regnet Bomben vom Himmel. Das sind die Erinnerungen des kleinen Sohnes, die der Vater erwähnt, zu denen auch gehört:

„Du weißt, dass ein Bombenkrater als Schwimmbecken dienen kann, du weißt, dass dunkles Blut ein gutes Zeichen ist, helles ein schlechtes.“ Der Junge hat gelernt, dass Haut unter den Trümmern eines eingestürzten Hauses in der Sonne keuchtet. So findet man die Menschen, die Freunde die Familie.

 


Es bleibt nur ein Ausweg: Der Zug an das Meer, an dem sich Afghanen, Somalier, Iraker, Eritreer und Syrer treffen. „Alle warten ungeduldig auf den Sonnenuntergang, alle fürchten ihn. Alle suchen ein Zuhause.“ AM ABEND VOR DEM MEER.

 

 

Und dann steigen sie ein in das Boot, dem sie vertrauen müssen. Der Vater betet zu Gott, der das Boot sicher über das Meer geleiten möge. „... du bist eine kostbare Fracht, die kostbarste Fracht, die es jemals gab. Das soll das Meer wissen...“ 

 

 

Der Vater hat den Sohn bei der Hand genommen. Vertrauen vermittelnd, welches ihm selbst fast abhanden kommt, wissend, dass er den Jungen nicht vollkommen beschützen kann. 

Der Strand am Zielland ist leer...



Illustrationen. In Grün, Blau, Gelb und orange-roten Tönen der Frieden, in Grau und Schwarz die Bomben und der Krieg. Blau, dunkel, bedrohlich das Meer mit dem Schlauchboot darauf. Es sind die Illustrationen, die  die kurzen Texte erst erlebbar machen. Man liest langsam die wenigen Zeilen, es braucht letztlich nur wenige Worte und die richtigen Bilder. Khaled Hosseini und Dan Williams haben ein feines Buch geschaffen, das man sich gelegentlich wieder ansehen sollte, wenn man zweifelt.

* * *

Wir leben hier in einem Wohlstand, wegen dem wir uns kaum vorstellen können, dass es Menschen gibt wie der Familie des kleinen Alan Kurdi, die sich ohne einen anderen Ausweg zu sehen, zu dieser Überfahrt entschließen.  Es gibt Menschen in unserem Land, die haben kein Verständnis für Organisationen wie Sea-Eye e.V. die 2015 gegründet wurde, um Menschen auf den Fluchtrouten auf dem Mittelmeer zu retten.

Abdullah Kurdi taufte 2019 ein ehemaliges Forschungsschiff mit interessanter Geschichte auf den Namen seines jüngsten Sohnes, des kleinen Jungen in der blauen Hose und dem roten Shirt. In zwölf Einsätzen rettete die Allan Kurdi 927 Menschen. Das Schiff musste allerdings im Juli 2021 verkauft werden, denn die italienische Politik der Festsetzung von Rettungsschiffen verursachte zu hohe Kosten. Mit der Sea-Eye 4 widmet sich der Verein weiter der Rettung von Flüchtlingen auf dem Meer.

Mit diesen Zeilen möchte ich daran erinnern. 

* * *


Khaled Hosseini und Dan Williams haben auf ihre Art aufmerksam gemacht auf die Situation im Mittelmeer, die wir wegen eines anderen grausamen Konfliktes, dem Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, oft vergessen oder zumindest verdrängen.


Der Autor, der 1965 in Kabul geboren wurde, ging bereits nach dem Einmarsch der Roten Armee (1979) mit seiner Familie ins USA-Exil. Hosseini studierte Medizin und ist außerdem seit 2006 Sonderbotschafter des UNHCR. Er lebt mit seiner Familie in Kalifornien und gründete die Khaled Hosseini Foundation, eine NGO, Menschen in Afghanistan Hilfe anbietet, die sie gerade wieder dringend nötig haben.

Dan Williams ist Künstler und Illustrator, Er lebt in London und arbeitet für namhafte Magazine und Zeitschriften wie National Geographic, Rolling Stone und das Wall Street Journal.

Der Übersetzer Henning Ahrens lebt in Frankfurt am Main. Er übersetzt Khaled Hosseini, Richard Powers, Hanif Kureishi und Jennifer Egan.





© Bücherjunge

1 Kommentar:

  1. Ich habe beruflich auch immer wieder mit Flüchtlingsfamilien zu tun. Die angedeuteten Ereignisse auf der Flucht sind sehr bewegend und reißen die schwere Traumatisierung der überlebenden Familienmitglieder an. Wir hier leben wahrlich privilegiert.

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