Samstag, 18. September 2021

Park, David: Reise durch ein fremdes Land

Von Beruf Fotograf sieht Tom die durch den Winter zum Erliegen gekommene Welt um sich herum wie durch die Linse seiner Kamera. Schon immer hat er sein Leben auf diese Art betrachtet, und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass er es anhand von Fotografien erzählen kann. All diese Bilder kommen ihm nun in den Sinn: das erste Foto, das er von seiner Frau geschossen hat, die Aufnahmen von Familienfeiern, die ihm seinen Lebensunterhalt sichern, und diejenigen, die er stets zu machen geträumt hat, Fotos jenseits der gängigen Sehgewohnheiten. Tom hat sich längst damit abgefunden, dass er kein großer Künstler ist. Doch wie soll er damit leben, dass er kein perfekter Ehemann ist? Und dass er vor allem seinem anderen, seinem ältesten Sohn Daniel kein guter Vater war? Tief in seiner Kamera versteckt, gibt es ein Foto von Daniel, das Toms ganze Schuld und ganzes Leid zeigt. Je intensiver Toms innere Zwiegespräche mit Daniel auf dieser Reise werden, desto mehr hofft er, Erlösung und Vergebung zu finden.
 
 
 
 
  • Herausgeber ‏ : ‎ DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG; 1. Edition (17. September 2021)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Übersetzung: Michaela Grabinger  
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 200 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3832180028
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3832180027
  • Originaltitel ‏ : ‎ Travelling in a Strange Land
 
 
 
Titel und Klappentext des neuen Romans von David Park - übrigens der erste, der auch ins Deutsche übersetzt wurde - sprachen mich gleich an. Und zu meiner großen Freude erhielt ich nach meiner Bewerbung bei NetGalley tatsächlich ein Rezensionsexemplar. Dieser Roman ließ mich gleich nach den ersten Seiten nicht mehr los - und doch musste ich ihn aufgrund seiner für mich großen emotionalen Wucht immer wieder zur Seite legen. Für mich eine großartige Entdeckung - aber lest selbst:



 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 SPRACHGEWALTIG UND VON EMOTIONALER WUCHT - EINE ENTDECKUNG!

 
 
Erster Satz: "ich betrete das vereiste Land, ohne zu wissen, welchem Teil der Welt es angehört."


Zu Beginn des Romans hatte ich kurz das Gefühl von übervorsorglichen Eltern, als Tom und seine Frau die letzten Vorbereitungen trafen, damit der Familienvater in aller Frühe endlich starten konnte, um einmal quer durch England zu fahren zu seinem grippeerkrankten Sohn. Ziel der Reise ist es, Luke trotz des heftigen Wintereinbruchs und der abgesagten Flüge rechtzeitig vor Weihnachten nach Hause zu holen und dort gesund zu pflegen.


"Wir müssen ihn nach Hause bringen." Der Satz kann in dem vereisten Wagen nirgendwohin, hängt in der Luft und erstarrt zu Schweigen...


Doch kaum hatte Tom die Wagentür zugeschlagen und nach anfänglich etwas unbeholfenen Versuchen endlich die Fahrt aufgenommen, tauchte ich wie mit einem Sog ein in die Erzählung, die, obschon im Grunde ein Kammerspiel, mich nicht mehr loslassen wollte. Abgesehen von wenigen zufälligen Begegnungen und Telefonaten mit seiner Frau und seinen Kindern ist Tom die ganze Zeit über alleine und fährt Kilometer um Kilometer durch ein schneebedecktes England, das ein so ganz anderes Bild bietet als sonst.

Leise ist die Welt plötzlich, zusammengeschrumpft auf ein endloses Weiß, die Straße, deren Richtung die Stimme des Navis vorgibt, und Toms Gedanken. Die Gedanken springen von der Gegenwart und der gestellten Aufgabe, Luke zu erreichen und gemeinsam mit ihm heimzukehren, immer wieder in die Vergangenheit, und so entspinnt sich vor den Augen des Lesers ein Leben voller Bilder, denn Tom ist Fotograf und betrachtet die Welt meistens durch eine Linse. Aber es entpuppt sich nach und nach auch ein ganzes Leben, und was anfangs nur andeutungsweise auftaucht, wird letztlich zu dem alles beherrschenden Thema: Daniel, Toms älterster Sohn.


"Ich stolpere schneeblind dahin, voller Angst, ich könnte jeden Augenblick in eine offene Spalte stürzen oder an der Felskante in die plötzliche Leere treten und mit rudernden Armen etwas zu fassen suchen, woran ich mich festhalten kann, um den unaufhörlichen Fall zu beenden."


Was im Alltag gelingt - das Verdrängen von Gedanken, Erinnerungen, Gefühlen - schafft Tom nun auf seiner langen einsamen Fahrt durch die weiße Kälte nicht mehr. Anfangs versucht er noch, aufkommende Bilder durch laute Musik zu übertönen, doch schließlich überlässt er sich einzelnen Szenen der Vergangenheit, Bildschnipseln eines Familienlebens, das irgendwann in eine Schieflage geriet, eigenen Gefühlen von Trauer, Mutlosigkeit und Schuld, nur schwer zu ertragen.

Sprachgewaltig, voller Metaphern und Bilder, poetisch und von emotionaler Wucht - so schickt David Park den Leser mit Tom gemeinsam auf die Reise zu dessen innersten Dämonen, bis auch das letzte versteckte Bild zutage tritt. Ein sehr leiser Roman, der jedoch die innere Dynamik einer Lawine entfaltet und den Leser ohne Gnade mitreißt, literarisch ganz große Kunst.


"Dort am anderen Ufer steht ein Haus. Ein Haus, in dem Licht brennt. (...) Doch wie soll ich hinkommen? Es geht nur über den zugefrorenen See. Wer nimmt mich bei der Hand? Wer leitet mich jetzt? Ich blicke hinter mich, aber es ist nur der brausende Wind in den Bäumen zu hören, der den Schnee verstäubt und die ganze Welt frösteln lässt."


Äußerlich geschieht nicht viel, innerlich bebt die Erde - die Spannung zieht sich durch, was war mit Daniel, was ist geschehen, und wird Tom die erhoffte Erlösung endlich finden? Selten, dass ich derart empathisch bei einer Romanfigur war, die Melancholie und Trauer mich so berührte, und der Funke Hoffnung am Ende mich derart erleichterte. Der Weg ist nicht zuende, der Schnee beginnt zu schmelzen...

Für mich eine großartige Entdeckung, und ich hoffe, dass künftig noch mehr Romane von David Park ins Deutsche übersetzt werden...


© Parden 

 

 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
David Park, 1953 geboren, ist ein vielfach ausgezeichneter nordirischer Schriftsteller. Er erhielt u. a. den Authors’ Club First Novel Award, den Bass Ireland Arts Award for Literature, den American Ireland Fund Literary Award und mehrfach den University of Ulster McCrea Literary Award. Des Weiteren stand er dreimal auf der Shortlist für den Irish Novel of the Year Award und auf der Longlist des Sunday Times EFG Short Story Award. Er lebt in County Down in Nordirland.
 
 
 
 

1 Kommentar:

  1. Kammerspiele: Der Ausdruck passt sehr oft zu deiner Bücherwahl, finde ich. Liebe Grüße, Uwe

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