Nun ist der Roman auch gelesen, und es war eine sehr diskussionsfreudige Leserunde bei LB. Ganz unterschiedlich waren da die Eindrücke, und es war überaus interessant, diese zu verfolgen. Mich selbst allerdings hat das Buch eher etwas ratlos zurückgelassen. Weshalb? Das kann man hier nachlesen...
In den Augen seines Vaters ist Nelson eine Enttäuschung. Wer will schon ein Kind, das weder Freunde noch Selbstbewusstsein besitzt? Je intensiver der verunsicherte Junge sich nach Zuwendung sehnt, desto stärker sondert sich der Vater ab, bis er irgendwann ganz aus dem Leben seines Sohnes verschwindet. Doch in einem Punkt hat er sich getäuscht. Nelson ist nicht allein. Jonathan, sein bester Freund aus dem Pfadfinderlager, ist das genaue Gegenteil von Nelson: bei allen beliebt, pragmatisch und mit einer unverwüstlichen Leichtigkeit ausgestattet. Was aber treibt jemanden wie Jonathan dazu, sich mit einem Außenseiter anzufreunden? Und stand Jonathan wirklich immer so rückhaltlos zu ihm? Das Leben im rauhen Wisconsin verlangt Nelson, Jonathan und dessen Familie Prüfungen ab, die Freundschaft und Loyalität auf eine harte Probe stellen.
(Klappentext Klett-Cotta)
- Gebundene Ausgabe: 477 Seiten
- Verlag: Klett-Cotta; Auflage: 2. Druckaufl. (11. Februar 2018)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3608983139
- ISBN-13: 978-3608983135
- Übersetzung: Dorothee Merkel
- Originaltitel: The Hearts of Men
VON PFADFINDERN, FREUNDSCHAFT UND MEHR...
Ganz bewusst stelle ich hier meiner Rezension den Klappentext (oben) voran, damit deutlich wird, was mich an dem Buch reizte - und was ich erwartete. Ich erwartete einen Roman über eine Freundschaft zwischen zwei heranwachsenden Jungen, vielleicht auch über die beiden als Erwachsene - und wie sich diese Freundschaft im Laufe der Zeit verändert.
Nun, der erste Abschnitt, der im Sommer 1962 spielt, erfüllte diese Erwartung vollkommen. Nach drei Seiten war ich dem Roman bereits verfallen, weil Nickolas Butler so eindringlich und bildhaft schreibt, dass ich richtiggehend begeistert war. Nelson steht im Mittelpunkt des Geschehens und ist mit seinen 13 Jahren ein einsamer Junge. Strebsam und pflichtbewusst, aber ohne Freunde und ohne die Anerkennung seines Vaters. Nun, im Sommer, befindet sich Nelson wie jedes Jahr im Pfadfinderlager und bläst morgens als erstes mit seiner Tompete die Reveille - das Signal für alle Pfadfinder, sich zum Flaggenhissen zu sammeln. Auch hier ist er einsam, und lediglich Wilbur, der alte Leiter des Pfadfinderlagers, hegt eine gewisse Sympathie für den Heranwachsenden. Und da gibt es noch Jonathan Quick, den zwei Jahre älteren Jungen aus Nelsons Nachbarschaft, der sich ihm gegenüber meist freundlich verhält. Allerdings irgendwie auf eine unverbindliche Art. Doch Nelson wagt zu hoffen, dass die Freundschaft echt ist. Die Ereignisse in dem Pfadfinderlager spitzen sich zu, die heitere, unbeschwerte Atmosphäre nimmt allmählich zunehmend bedrohliche Züge an, nach dem Sommer wird nichts mehr so sein wie zuvor - vor allem nicht für Nelson. Ihm stehen harte Prüfungen bevor, die ihn verändern werden. Und ihm wird klar sein, was er von der Freundschaft zu Jonathan zu erwarten hat.
"Es ist ein herrlicher Tag, und Nelson wünscht sich, wie schon so oft, er hätte einen Freund, mit dem er sich die Zeit vertreiben könnte. Irgendein anderer Junge, der neben ihm am Feuer säße und mit dem er sich über Baseball, Bücher, Verdienstabzeichen oder die Schule unterhalten könnte. Aber er ist allein. Natürlich ist er das." (S. 127)
Nach ca. einem Drittel des Buches beginnt jedoch plötzlich ein ganz anderer Abschnitt, der im Sommer 1996 spielt. Wieder ist das Pfadfinderlager das Ziel, doch den alten Wilbur gibt es dort nicht mehr. Jonathan ist mit seinem 16jährigen Sohn Trevor dorthin unterwegs, doch nicht ohne eine ordentliche Ladung an Flaschen mit Hochprozentigem. Trevor freut sich nur halbherzig auf das Lager, denn schließlich bleibt seine Freundin Rachel zu Hause - und er vermisst sie jetzt schon. Am Abend vor dem Pfadfinderlager treffen Jonathan und Trevor auf Nelson, der das Lager inzwischen leitet, seitdem er aus dem Vietnamkrieg wieder da ist. Der nette gesellige Abend eskaliert zunehmend - und Jonathan spielt hierbei keine rühmliche Rolle. Trevor wird in dieser Nacht viele seiner Illusionen und Ideale verlieren und als ein anderer erwachen.
"Es ist ihm nach Weinen zumute. Er hat das Gefühl, sehr weit von zu Hause entfernt zu sein, sehr weit entfernt von dem jungen Mann, der er geglaubt hatte zu sein." (S. 303)
Und im letzten Drittel schließlich gibt es erneut einen großen zeitlichen Sprung sowie einen weiteren Perspektivwechsel. Im Sommer 2019 plagt sich Rachel als alleinerziehende Mutter mit dem 16jährigen Thomas herum, der sich mit Händen und Füßen gegen die Fahrt ins Pfadfinderlager zu wehren versucht. Doch die Mutter besteht auf das Sommerlager - schließlich benötigt Thomas nur noch wenige Prüfungen, um das Adlerabzeichen zu erhalten, und überhaupt findet sie es allein aus Nostalgiegründen schon notwendig. Thomas' Vater Trevor hätte es sicher so gewollt. Und es ist Nelsons letzter Sommer als Pfadfinderleiter, bevor er sich zur Ruhe setzt. Um es kurz zu machen: auch diesmal wird etwas geschehen, das den heranwachsenden Thomas für immer verändern wird.
"Der Junge nickt. Die schwere Pistole in seiner noch so weichen, kindlichen Hand riecht nach Waffenöl. Er kann den Blick nicht davon losreißen, von dem bläulichen Metall, dem aus Holz geschnitzten Griff." (S. 447)
Der Leser begleitet durch den zeitlich gestaffelten Aufbau des Romans Nelson und Jonathan von der Jugend an bis zum hohen Alter, doch leider bringen es die Zeitsprünge und Perspektivwechsel mit sich, dass Nelson nach dem ersten Abschnitt nur noch eine Rolle am Rande spielt, ebenso wie Jonathan nach dem zweiten Teil. Einzelne Charaktere werden punktuell nahezu plastisch herausgearbeitet, nur um ein paar Seiten später als blasses Abbild weiter zu existieren und kaum mehr etwas von seinen Gedanken und Gefühlen preiszugeben. Andere Charaktere werden eher oberflächlich skizziert und sind so zu keinem Zeitpunkt wirklich greifbar. In jedem Abschnitt muss sich der Leser auf neue Charaktere einlassen sowie auf einen neuen Handlungsschwerpunkt, der jedoch selbst immer wieder durch Rückblenden auf andere Geschehnisse und Charaktere unterbrochen wird.
Nickolas Butler verwebt hier eine Unzahl von Themen miteinander, die für sich genommen durchaus interessant sind, in der Vielzahl jedoch nicht den Raum erhalten, der ihnen zustünde:
- Vater-Sohn-Beziehungen
- die Veränderungen der Funktion und Bedeutung der Pfadfinder im Verlaufe der Jahre
- Pubertät und Erwachsenwerden
- posttraumatische Belastungsstörungen nach Kriegserlebnissen
- Waffen
- Mobbing
- Freundschaft
- Liebe zur Natur und bedrohte Umwelt
- Gewalt in der Ehe
- Vergewaltigung
- Prügelstrafe
- Respekt und Anerkennung
- Parallelen von Pfadfindern und Militär
- Rolle Mann und Frau
- Heldentum
- gesellschaftlicher Werteverfall
- u.v.m.
Nickolas Butler hat sich bemüht, einen sorgfältig komponierten Roman zu präsentieren. In meinen Augen hat er sich hier allerdings eher verzettelt, und das Thema, das durch den Buchtitel in den Vordergrund gerückt wird, ist hier nur eines von vielen. Für mein Empfinden wäre hier weniger mehr gewesen...
© Parden
Klett-Cotta schreibt über den Autor:
Nickolas Butler, geboren 1979 in Allentown, Pennsylvania, wuchs in Eau Claire, Wisconsin auf. Er studierte an der University of Wisconsin und beim University of Iowa Writers' Workshop. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Im Herbst 2013 erschien sein Roman »Shotgun Lovesongs«.
► übernommen von Klett-Cotta
Ein interessantes Interview mit dem Autor zu seinem Roman findet sich ► HIER!
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