Ein großes Generationsporträt unserer Zeit
Isabell und Georg sind ein Paar. Ein glückliches. Wenn die Cellistin Isabell spätabends von ihren Auftritten mit dem Orchester nach Hause geht oder der Journalist Georg von seinem Dienst in der Redaktion auf dem Heimweg ist, schauen sie oft in die Fenster fremder Wohnungen, dringen mit ihren Blicken in die hellen Räume ein. Bei abendlichen Spaziergängen werden sie zu Voyeuren. Regalwände voller Bücher, stilvolle Deckenlampen, die bunten Vorhänge der Kinderzimmer. Signale gesicherter Existenzen, die ihnen ein wohliges Gefühl geben. Das eigene Leben in den fremden Wohnungen erkennen. Doch das Gefühl verliert sich.
Mit der Geburt ihres Sohnes wächst nicht nur ihr Glück, sondern auch der Druck und die Verunsicherung. Für Isabell erweist sich die Rückkehr in ihren Beruf als schwierig: Während des Solos zittern ihre Hände, nicht nur am ersten Abend, sondern auch an den folgenden. Gleichzeitig verdichten sich in Georgs Redaktion die Gerüchte, der Verlag würde die Zeitung verkaufen. Währenddessen wird ihr Haus saniert. Im Treppenhaus hängt jetzt ein Kronleuchter, im Briefkasten liegt eine Mieterhöhung. Für die jungen Eltern beginnt damit ein leiser sozialer Abstieg. Isabell und Georg beginnen mit einem Mal zu zweifeln, zu rechnen, zu vergleichen. Jeder für sich. Je schwieriger ihr Alltag wird, desto mehr verunsichert sie, was sie sehen. Die gesicherten Existenzen mit ihren geschmackvollen Wandfarben sagen jetzt: Wir können, ihr nicht. Was vertraut und selbstverständlich schien – die Cafés, Läden, der Park, die Spielplätze mit jungen Eltern –, wirkt auf einmal unzugänglich. Gegenseitig treiben sich Isabell und Georg immer mehr in die Enge, bis das Gefüge ihrer kleinen Familie zu zerbrechen droht.
Kristine Bilkau zeichnet in ihrem Debütroman »Die Glücklichen« das präzise Bild einer nervösen Generation, überreizt von dem Anspruch, ein Leben ohne Niederlagen zu führen, die sich davor fürchtet, aus dem Paradies vertrieben zu werden.
- Gebundene Ausgabe: 304 Seiten
- Verlag: Luchterhand Literaturverlag (16. März 2015)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3630874533
- ISBN-13: 978-3630874531
Ich danke dem Luchterhand Literaturverlag ganz herzlich für die Möglichkeit, dieses Buch als Rezensionsexemplar lesen zu dürfen!
LEBENSTRÄUME...
Während man vom Kind zum Erwachsenen heranreift, findet man immer mehr darüber heraus, wer man eigentlich ist, und trifft Entscheidungen, um Lebensentwürfe zu realisieren. So auch Isabell und Georg, ein junges Paar mit einem kleinen Kind. Sie fühlen sich wohl in ihrem Beruf - sie ist eine begabte Cellistin, er ein erfolgreicher Journalist - und haben gerade den Traum von einer kleinen Familie verwirklicht.
In ihrem Stadtviertel voller Flair und der Altbauwohnung, in der Isabell bereits als Kind gewohnt hat, genießen sie das Leben zu dritt, nichts scheint wichtiger als die geregelten Abläufe, die Verbundenheit miteinander.
Doch ein kleiner Missklang schleicht sich ein, als Isabell nach der Geburt ihres Sohnes wieder im Orchestergraben sitzt. Als sie ihr Solo spielt, beginnen ihre Hände zu zittern - winzig beim ersten Mal, doch mit jedem Auftritt ärger. Gleichzeitig mehren sich die Gerüchte, der Verlag würde Georgs Zeitung verkaufen. Plötzlich scheint nichts mehr sicher.
... nimmt dann das Cello und vergewissert sich, dass sie ohne Probleme, ohne den Hauch eines Zitterns spielen kann; ihre Fähigkeit ist unbeschädigt, ihre Hände sind gesund, wenn sie für sich allein spielt. Dann ist alles möglich, ist alles eine Suche, sie und das Cello wachsen zusammen, werden zu einem Organismus mit einem Kreislauf aus Ruhe und Kraft, aus Bewegung und Klang. Doch im Theater kehrt die Angst zurück, jeder Abend ist wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, kein unkontrolliertes Zittern, nein, es kommt auf den Punkt genau, wenn sie verwundbar ist. (S. 79)
Isabell lässt sich krankschreiben, verliert das Engagement am Theater, und Georg muss sich ebenfalls nach einer neuen Stelle umschauen, nachdem die Zeitung verkauft ist. Gleichzeitig wird nach umfassender Sanierung des Hauses die Miete erhöht. Der Druck und die Verunsicherung wachsen. Isabell spricht nicht über ihr Problem, hat Sorge, dass das Zittern real wird, sobald sie es benennt, hofft, es gehe so vorüber, zieht sich in sich zurück. Georg fühlt sich zunehmend als Versager, der seine Familie nicht versorgen kann, die Alternativen scheinen reizlos, kein anderer Job, kein anderes Haus zumutbar. Was geschieht, wenn Lebensträume platzen?
Auf dem Heimweg schaut er wieder in die Fenster der anderen, dringt mit seinem Blick in ihre hellen Räume ein. Früher haben er und Isabell das oft gemeinsam gemacht. Zusammen schauten sie in fremde Zimmer. Bei abendlichen Spaziergängen wurden sie zu Voyeuren. Regalwände voller Bücher, geschmackvolle Deckenlampen, moderne, offene Küchen, die bunten Vorhänge der Kinderzimmer. Signale gesicherter Existenzen, die ihnen immer ein wohliges Gefühl gaben. Das eigene Leben in den fremden Wohnungen erkennen. Inzwischen (...) lässt ihn seine Nachbarschaft im Stich. Sie stößt ihn davon. Die gesicherten Existenzen mit ihren geschmackvollen Wandfarben sagen alle dasselbe: Wir können, du nicht. (S. 200 f.)
Isabell, die das kommende Unheil nicht wahrhaben will, trotzig Einkäufe tätigt wie zu den Zeiten, als das kein Problem war, so lange es eben noch geht. Und Georg, der zu rechnen beginnt, zum sparsamen Mahner wird, Discounter nun statt Bioladen. Ängste, Schuldgefühle, Unsicherheit - und über allem die Sprachlosigkeit.
Es fehlen die Worte, die eine gemeinsame Lösung finden lassen könnten, die Verständnis für die Situation des anderen bringen würden, die wieder eine Gemeinsamkeit entstehen lassen könnten. So irrt jeder einzeln für sich wie ein Trabant durch die Unsicherheit, isoliert sich immer mehr, fühlt sich unverstanden und am Rande des Erträglichen. Das stark geglaubte Familienband zerfasert, droht zu zerreißen, in den Abgrund der Scherben der Lebensentwürfe zu trudeln.
Sie verachtet seine Vernunft und nimmt ihm seinen Mangel an Eitelkeit übel. Eine gewisse Eitelkeit, die verhindert, dass sie sich den miesen Umständen vorauseilend anpassen, dass sie eins werden mit den miesen Umständen, dass sie diese Umstände eigentlich erst heraufbeschwören. (S. 224)
Kristine Bilkau wählt in ihrem Debütroman eine distanzierte Erzählweise, lässt den Leser abwechselnd aus der Sicht Isabells und Georgs an den Geschehnissen teilhaben. Dabei legt sie in glasklarer Sprache Gefühle und Gedanken auf den Seziertisch, so dass der wachsende Druck, die zunehmende Sprachlosigkeit, der Verlust der Hoffnung trotz der distanzierten Sicht der Dinge greifbar, spürbar werden.
Neben den sehr authentischen Charakteren präsentiert Kristine Bilkau darüber hinaus mit der Infragestellung von Lebensentwürfen ein Thema, das auch den Leser mit einbezieht. Jeder kann seiner Situation entsprechend etwas aus der Erzählung herauslesen, für sich als wesentlich und bedeutsam herausfiltern, wird dazu verführt, sich mit Themen und Fragen des Lebens zu beschäftigen.
Ich frage mich, wie lange es hier so weitergehen kann. Ich fühle mich wie unter Wasser. Ich tauche, ich halte die Luft an, eine Weile wird es noch gehen, aber ich weiß, lange halte ich es nicht mehr durch. (S. 195)
Ein melancholisch gestimmter Roman, der aber nicht in die Hoffnungslosigkeit abgleitet, sondern eine Perspektive bietet, der Titel durchaus passend gewählt.
Für mich eine überraschende Entdeckung, die ich hiermit sehr gerne weiterempfehle!
© Parden
Kristine Bilkau, 1974 geboren, war 2008 Finalistin des Literaturwettbewerbs Open Mike in Berlin und 2009 Stipendiatin der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin. 2010 erhielt sie das Stipendium des Künstlerdorfes Schöppingen und 2013 nahm sie an der Bayerischen Akademie des Schreibens des Literaturhauses München teil. Sie arbeitet als Journalistin für Frauen- und Wirtschaftsmagazine und lebt mit ihrer Familie in Hamburg. „Die Glücklichen“ ist ihr erster Roman.
► Quelle Bild und Text
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