Wilbur, gerade einmal 1,50 Meter groß, ist wirklich kein Glückskind: Seine Mutter stirbt bei der Geburt, sein Vater macht sich aus dem Staub, und sein erstes Zuhause ist der Brutkasten. Als seine Großeltern ihn zu sich holen, erfährt er endlich, was Heimat ist. Doch das Glück währt nicht lang: Sein bester Freund kommt in die Erziehungsanstalt, und seine Großmutter Orla stirbt bei einem Unfall. Wilbur gerät aus der Bahn. Gern wäre er so stark wie Bruce Willis, doch er hält sich für einen ewigen Verlierer. Erst die charmante Aimee bringt ihm etwas anderes bei: Wilbur muss endlich lernen, zu leben.
(Klappentext: dtv)
- Taschenbuch: 608 Seiten
- Verlag: Deutscher Taschenbuch Verl.; Auflage: 1. (1. Dezember 2009)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3423138300
- ISBN-13: 978-3423138307
LEBEN LERNEN...
Wilbur Sandberg ist gerade einmal zweiundzwanzig Jahre alt, als er als suizidgefährdet in eine Klinik eingewiesen wird. Der festen Überzeugung, dort fälschlicherweise eingeliefert worden zu sein, beobachtet Wilbur zunächst einmal das Geschehen und versucht, sich an die Ereignisse vor dem Krankenhaus zu erinnern. Was hatte er als Nichtschwimmer und mit einer fast panischen Angst vor Wasser im Meer verloren? Wilbur merkt, dass ihm die Auszeit vom Alltag gut tut und beschließt, erst einmal in der Klinik zu bleiben.
"Ich bin nicht mehr und nicht weniger ein Fall für den Psychiater als die meisten Menschen, denen ich begegnet bin (...) Für mein Alter besitze ich eine umfangreiche Sammlung von Macken. Ich bin komplex, nicht verrückt (...) Mein Leben hat einen starken Hang zum Tragischen, nicht ich."
Wilbur ist in seinem bisherigen Leben tatsächlich nicht vom Glück verfolgt worden. Seine Mutter starb gleich bei seiner viel zu frühen Geburt, sein Vater war darüber so geschockt, dass er auf Nimmerwiedersehen verschwand. Nach Wochen im Brutkasten kam Wilbur für einige Zeit in ein Kinderheim, bis die Eltern seiner Mutter ihn zu sich nach Irland holten. Dort fasste der verschlossene aber hochintelligente Junge ganz allmählich Vertrauen zu seiner Großmutter Orla, die für ihn einige Jahre lang den Mittelpunkt der Welt darstellte. Die Schule behagte Wilbur dagegen nicht. Immer kleiner geraten als die anderen Kinder, war es für ihn schwer, Anschluss zu finden, und seine geistigen Fähigkeiten waren dem Schulstoff weit voraus. Ausgerechnet sein einziger Freund Conor verursachte schließlich auch noch einen Unfall, bei dem Wilburs Großmutter starb. Der Freund kam in die Erziehungsanstalt, Wilbur zu Pflegeeltern, in Kinderheime, schließlich auch in die Jugendbesserungsanstalt.
"Er war elf Jahre alt. Und das Leben schien ihm nicht mehr der Mühe wert zu sein (...) Nichts von dem, was jetzt noch geschehen mochte, würde von Bedeutung sein. Den Monaten und Jahren, die vor ihm lagen, fehlte alle Wärme und jeder Funke Hoffnung."
In wechselnden Zeitsträngen erzählt Rolf Lappert die Geschichte dieses zu klein geratenen jungen Mannes (ohne Schuhe ist er gerade einmal 1,62 m groß), der auch im Leben stets zu kurz gekommen ist. In der Gegenwart erfährt der Leser von Wilburs Erlebnissen nach der Einweisung in die Klinik, in der Vergangenheit rollt der Autor chronologisch die Kindheit des Jungen vor den Augen des Lesers auf. Doch obwohl Wilbur eindeutig auf der Verliererseite des Lebens steht, ist dies kein bedrückender Roman. Im Gegenteil - Wilbur hadert nie mit den Menschen, die in sein Schicksal verstrickt sind, nur mit dem Schicksal selbst, das es oftmals nicht gut mit ihm meint. Tragikomisch und in einem ruhigen Erzählfluss lässt der Autor Wilburs Geschichte entstehen, starke Bilder prägen die Erzählung, und bis hin zu den Nebenfiguren sind die Charaktere fein gezeichnet, so dass beim Lesen Verständnis für alle Figuren entseht.
"Aber die Zeit hatte längst aufgehört unendlich zu sein und voller Versprechen."
Rolf Lappert schildert die Notlage einer menschlichen Seele, doch gelingt es ihm dabei gleichzeitig stets, seinen unbeschwerten Erzählstil beizubehalten. Andere Rezensenten vergleichen Lapperts Stil mit dem von John Irving, doch da ich immer noch kein Buch des Amerikaners gelesen habe, kann ich zu diesem Vergleich nichts sagen. In jedem Fall nahm mich der melancholisch-heitere Ton der Erzählung gefangen, berührte mich vieles von dem, was ich da las, und ich hätte seitenweise Zitate herausschreiben können, da viele der Formulierungen so unglaublich poetisch-kraftvoll waren.
Ein Zufallsfund, der mich darin bestärkt, Bücher nach dem Bauchgefühl auszuwählen. Titel und Klappentext sprachen mich an, und der Inhalt hielt, was ich mir davon versprach. Erst nachdem ich mit dem Lesen begonnen hatte, erfuhr ich, dass der Roman den Schweizer Buchpreis 2008 gewann und auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2008 stand.
Für mich eines der Lese-Highlights des vergangenen Jahres!
© Parden
Der dtv schreibt über den Autor:
Rolf Lappert, geboren 1958 in Zürich, absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, bevor er sich entschloss, Schriftsteller zu werden. In den Achtzigerjahren unterbrach er für längere Zeit das Schreiben, gründete mit einem Freund einen Jazzclub und reiste kreuz und quer durch Amerika. Zwischen 1996 und 2004 arbeitete er als Drehbuchautor, u.a. für eine Serie im Schweizer Fernsehen. Sein dritter Roman, ›Nach Hause schwimmen‹, wurde 2008 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Für sein Jugendbuch ›Pampa Blues‹ erhielt er 2012 den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis. Rolf Lappert lebt seit Ende 2011 nach vielen Jahren im Ausland wieder in der Schweiz.
► übernommen vom dtv
Wahrscheinlich hast du schon aus professionellen Gründen ein Gespür für solche Themen, liebe Anne.
AntwortenLöschenWoher das Empfinden kommt, kann ich nicht sagen. Aber tatsächlich springen mich solche Themen immer wieder einmal an... :)
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