Freitag, 30. September 2016

May, Karl: Der verlorene Sohn...


oder
Der Fürst des Elends

Was eigentlich ist ein Kolportageroman? Liest man die Definition, wir nehmen wikipedia zu Hilfe, dann passt das irgendwie zu der Schaffungsphase des Autors:

"Der Ausdruck Kolportage (frz.: porter à col, ‚am Hals/Kragen tragen‘, sinngemäß: ‚auf den Schultern tragen‘) bezeichnete den Vertrieb von Büchern in Einzellieferungen durch Hausierer (Kolporteure). Das Verb kolportieren bezeichnet in Anlehnung an seine ursprüngliche Bedeutung heute das Verbreiten von Gerüchten, unbelegten Nachrichten und Gesellschaftsklatsch, beispielsweise in Boulevardzeitungen und der Regenbogenpresse oder auch im Internet… Kolporteure stammten meist aus einfachen sozialen Verhältnissen und sahen nicht selten in der Kolportage die einzige Möglichkeit, ihr tägliches Brot zu verdienen. Mit kleinen Bauchläden zogen sie durchs Land und vertrieben auf schlechtem, billigem Papier gedruckte Schriften. Manchmal lasen sie auch daraus vor. Für die ländliche Bevölkerungsschicht des 18. und 19. Jahrhunderts waren Kolporteure die wichtigsten Literaturlieferanten und Nachrichtenüberbringer, denn kaum ein Bauer besaß eigene Bücher oder hatte Zugang zu Leihbibliotheken.“ [1]


Es gab direkt Kolportageverleger, einer davon Heinrich Gotthold Münchmeyer und in dessen Verlag brachte Karl May seine fünf Kolportageromane heraus, Das heiß, sie erschienen in Fortsetzungen. Der dritte Roman war Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends.

Den zweiten dieser Fortsetzungsromane bekam ich irgendwann in den 80zigern in die Hände, eine Freundin meiner Schwester besaß die Bände Die Liebe des Ulanen. Ein Hoch auf die Preußen und immer drauf auf die Franzosen. Der Roman erzählte die Geschichte derer von Greifenklau und spielte von 1815 bis 1870/71. Nun ja… Inzwischen stehen die Bände tatsächlich sogar in meinem Regal.

Jahre später verbrachte ich einige Monate auf einem Lehrgang mit einem Kollegen, dessen Steckenpferd die Karl May Romane waren. Nun, eigentlich interessierten die mich nicht so sehr, aber der Hinweis, dass es neben den Amerika- und Orientgeschichten diese Fortsetzungsromane gibt, brachte mich dazu ein paar davon zu lesen. Darunter der nun hier zu besprechende Roman. Vor einigen Wochen fand ich die kostenlose eBook-Version in der Fassung von 1884 bis 1886. Der Lieferungshefte waren es 101. [2]

Was haben wir denn hier nun vorliegen?
Schauen wir mal kurz in die Geschichte.


Bei der Geburt eines Bruders starb die Mutter der jungen und überaus hübschen Baronesse Anna v. Helfenstein. Diese hat einen Milchbruder, da sie als Baby an der Brust der Försterin lag, die einen Sohn geboren hatte. Jahre später kommt der Förstersohn Gustav Brandt nach diversen Studien zurück, Alma v. Helfenstein freut sich ungemein ihn wiederzusehen. Doch hat sie einen hinterlistigen und falschen Cousin, der ein rechter Schurke und immer in Geldnöten ist. Außerdem wünscht der Herr Papa sein Töchterchen zu verheiraten und zwar standesgemäß. Nun hat der Cousin Franz zwei Nebenbuhler. Übrigens soll Gustav der Schmuggelei im Erzgebirge das Handwerk legen, er ist Polizist…

Da der Roman es insgesamt auf 2411 Seiten bringt [3] muss es zu gewaltigen Verwicklungen kommen. Gustav wird von Franz des Doppelmordes bezichtigt, der Bräutigam und der Papa der Baroness liegen in ihrem Blute, ersterer erschossen aus Gustavs Büchse, die Kehle des zweiten machte Bekanntschaft mit Gustavs Rasiermesser. Fies…

Doch Gustav, verurteilt zum Tode, wird vom König begnadigt und kann auf dem Transport zum Zuchthaus fliehen, es helfen ihm zwei Pascher. Diese haben außerdem mit dem Ableben oder besser mit dem Überleben des hochadeligen Brüderchens zu tun.

Weitere Jahre später kommt ein schwerreicher Fürst von Befour nach Sachsen. Dieser sinnt auf Rache, man nennt ihn auch den Fürsten des Elends, der Zusammenhang ist aber nur einem alten Elternpaar und zwei Dienern des hohen Herrn bekannt…

* * *

Das ist der Stoff, aus dem die Träume derer sind, die da im 19. Jahrhundert Zeit und Muße haben nach den Fortsetzungen des „großen sächsischen Lügenboldes“ (Herrmann Kant) förmlich zu lechzen.




Der Text des Kolportageromans ist „hochgelaahrt“ und strotzt von französischen Fremdwörtern und die Gedichte erst, die da ein junger erfolgversprechender Dichter verfasst, die haben es in sich. Aber aus einem eBook kann ja kein Schmalz herauslaufen.

„Ich will dich auf den Händen tragen
Und dir mein ganzes Leben weih´n.
Ich will in deinen Erdentagen
Dir stets ein treuer Engel sein!“
[4] 
Doch die Mädchen reißen sich um den ersten Gedichtband „Heimats-, Tropen- und Wüstenbilder, Gedichte von Hadschi Omanah“. Ober hoher Adel oder Tochter eines jüdischen Händlers. Wem gehört dieses orientalische Pseudonym?

A propos Juden. Das 19. Jahrhundert. Der weitverbreitete Antisemitismus zeigt sich auch hier in der Rolle des ziemlich schmierigen und geldgierigen Händlers, Hehlers und Pfandleihers Salomon Levi, seiner Frau Rebecca und ihrer beider Tochter, der schönen Judith.

„Geld? Nur Geld? Ist Geld wirklich nur Geld? Nein! Geld ist Capital, ist Reichthum, ist Größe. Ist Glück, ist Seeligkeit. Man kann nur dann sein ein Mensch, wenn man hat Geld, viel Geld. Man darf es nicht hinausgeben mit Leichtsinn. Du aber hast dies gethan und wirst es verlieren, das ganze, ganze Geld!“ [5]

Dem gegenüber steht aber auch die Parteinahme Mays für die Armen und Ausgebeuteten, zum Beispiel der sächsischen Weber, den unschuldig ins Abseits gestellten, den von scheinheiligen, scheinfrommen Verwaltern fremden Besitzes verhöhnten Menschen, die die Wege der Alma von Helfenstein und des Gustav Brandt kreuzen. Das gelegentliche Pathetische des Textes wird in diesem Zusammenhang zu nüchterner, eindringlicher Beschreibung des Elends, zu dessen Beseitigung es allerdings eines Fürsten dieses Elends bedarf. Neunzehntes Jahrhundert.

* * *

Übrigens hat Karl May die späteren Buchausgaben nicht autorisiert, gegen die Veröffentlichung hat er auch versucht gerichtlich vorzugehen. Außerdem wurden die Geschichten vom Karl-May-Verlag extrahiert unf in einzelnen Bänden heraus gegeben. Die ursprünglichen "Lieferungen" gliederten sich in fünf Teile:



Erste Abtheilung: Die Sclaven der Armuth.
Ein Doppelmord. (Heft 1 / Seite 1)
Zweites Kapitel: Das Opfer des Wüstlings. (Heft 5 / Seite 103)

Zweite Abtheilung: Die Sclaven der Arbeit.
Der Kampf um die Liebe. (Heft 21 / Seite 481)
Schlagende Wetter. (Heft 33 / Seite 780)


Dritte Abtheilung: Die Sclaven der Schande.
Ein Magdalenenhändler. (Heft 41 / Seite 961)
Eine Balletkönigin. (Heft 48 / Seite 1130)
Drittes Kapitel: Eine Tau=ma. (Heft 54 / Seite 1276)

Vierte Abtheilung: Die Sclaven des Goldes.
Am Spieltische. (Heft 61 / Seite 1441)
Zweites Capitel: Falschmünzer. (Heft 66 / Seite 1573)

 
Fünfte Abtheilung: Die Sclaven der Ehre. 
Krachende Stammbäume. (Heft 71 / Seite 1698)
Zweites Capitel: Gottes Strafgericht. (Heft 79 / Seite 1885)
Drittes Capitel: Ende gut, Alles gut! (Heft 93 / Seite 2209) [5]






 Muss man sowas lesen? Nein. Aber irgendwie haben diese Romane was, etwas, was mich im Gegensatz zu den Geschichten um Winnetow, Old Shatterhand und Co., gereizt hat und mich zwanzig Jahre später mal wieder dazu greifen lässt.

Manch einen interessieren diese Geschichten vielleicht noch. Der Mann der sie schrieb ist weltbekannt. Große Literatur schrieb er sicher nicht. Aber manch große Literatur erreichte entschieden weniger Leser.

* * *
 O herrlicher sächsischer Lügenbold, gepriesen sei dein vielgeschmähter Name! Dank dir, du genialer Spinner aus Hohenstein-Ernstthal, dank dir für tausendundeine Nacht voller Pulverdampf und Hufedonnern. Heißen Dank für Äquatorsonne und Präriewind und Wüstensand und Steppengras, für Shatterhand und Hadschi, für Winnetou und Geierschnabel, ungeschmälerter Dank dafür, was immer sie dir auch nachsagen. Religiös-sentimental seiest du gewesen, heißt es. Kann sein, aber mich hast du mit vierzig Bänden nicht religiös gemacht, und sentimental - ich weiß nicht. Von Nationalismus ist die Rede, wenn sie von dir sprechen; wenn das stimmt, dann steck das ein, du prächtiger Schuft, dann mach das nicht wieder, denn Nationalismus geht wirklich nicht mehr, aber offen gestanden, ich hab ihn nie bemerkt, deinen Nationalismus, natürlich nur, weil ich zu dumm dazu war und wohl auch, weil es weiß Gott Nationalistischeres gab als dich, zu jener Zeit, in der ich dich gelesen. Wenn du ein Nationalist gewesen bist, dann nimm mein Pfui zur Kenntnis, aber gleichzeitig und noch einmal meinen Dank, du hinreißender Aufschneider und unübertroffener Bildermacher." [7]

Dem kann ich nichts mehr hinzufügen...

* * *
© KaratekaDD

Abbildungen & Quellen:


Abb 1 bis 3: aus http://karl-may-wiki.de/index.php/Der_verlorne_Sohn
Abb 4: Textkopie aus dem eBook
Abb 5 bis 9: Weltbild Ausgaben (2011) http://www.karl-may-buecher.de/allpicsverlag.php?_idvon=60&_verlagid=5

[1] Seite „Kolportage“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 4. Februar 2016, 18:23 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Kolportage&oldid=151071150 (Abgerufen: 30. September 2016, 16:19 UTC)  
[2] Siehe May, Karl: Der verlorene Sohn, Karl-May-Gesellschaft, eBook, Seite 2  
[3] Seite „Karl Mays Kolportageromane“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 15. Juli 2016, 06:52 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Karl_Mays_Kolportageromane&oldid=156155147 (Abgerufen: 30. September 2016, 16:45 UTC) 
[4] Siehe May, Sohn, Seite 132  
[5] Ebenda, Seite 311
[6] http://karl-may-wiki.de/index.php/Der_verlorne_Sohn
[7] Kant, Hermann: Die Aula, Berlin 1971, S. 421

4 Kommentare:

  1. Ich lese ja fast alles, aber von Karl May bin ich über zwei Seiten nicht hinaus gekommen. Da muss ich eines der besonders langweiligen Bücher erwischt haben. Es war zu Zeiten, wo ich noch Ferien hatte, aber die Bücher haben mich nie wieder gereizt. Mein Vater kennt sie schon.
    Liebe Grüße walli

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  2. Karl May - für uns sind nur die Bücher aus dem Verlag Bamberg 'echte' Karl May Bücher, *lach*. Mein Sohn hat einige davon im Regal stehen (teilweise alte aus meiner Kindheit, teilweise Geburtstagsgeschenke, weil gewünscht). Tatsächlich hatte mein Sohn eine Karl May Phase, und er hat sämtliche Bücher im Regal auch mehrfach gelesen. Irgendwie tröstlich, dass diese alten Werke - erfunden oder nicht - nicht einfach in der Versenkung verschwinden. Ich persönlich habe nicht allzu viel von ihm gelesen und nie einen wirklichen Bezug dazu gefunden. Aber Winnetou musste sein! ;)

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    1. Auch wenn die vier Exemplare Die Liebe des Ulanen ebenfalls aus dem Bamberger Verlag stammen, Karl May gehört nach Radebeul. Punkt! ;)Ansonsten hab ich noch zwei Winnetow-Bpcher in später DDR-Auflage aus dem Verlag Neues Leben.

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