In seinem Roman erzählt Anthony Doerr kenntnisreich und in einer
wunderschönen Sprache, kunstvoll miteinander verwoben, die Geschichte
zweier Jugendlicher im Zweiten Weltkrieg, der blinden Marie-Laure, die
mit ihrem Vater aus dem besetzten Paris nach Saint-Malo flieht, und des
jungen Waisen Werner, der in der Wehrmacht eingesetzt wird. Unaufhaltsam
treibt die Geschichte sie aufeinander zu, spannend, labyrinthisch und
atemlos.
(
Klappentext btb Verlag)
- Taschenbuch: 528 Seiten
- Verlag: btb Verlag (11. Juli 2016)
- Sprache: Deutsch
- Übersetzung: Werner Löcher-Lawrence
- ISBN-10: 3442749859
- ISBN-13: 978-3442749850
- Originaltitel: All the Light We Cannot See
VIELSCHICHTIG, PHILOSOPHISCH, BILDGEWALTIG...
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Saint-Malo |
2015 bekam dieses Buch den Pulitzer-Preis für Literatur zugesprochen,
was beinahe logisch war, da Anthony Doerr mit "All the Light We Cannot
See" in den USA einen überragenden Erfolg gefeiert hat. Doch auch
hierzulande hat es der Roman auf die Bestsellerlisten geschafft - und
zahlreiche positive Rezensionen haben mich letztlich neugierig werden
und zum Buch greifen lassen.
Die Erzählung spielt im Wesentlichen
auf drei Ebenen zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten.
So erhält der Leser Gelegenheit, die beiden Hauptcharaktere - das
französiche Mädchen Marie-Laure LeBlanc sowie den deutschen Jungen
Werner Hausner - kennenzulernen und von Kindesbeinen an ab 1934 in ihrer
Jugend zu begleiten. Das wundervolle ist: Kindern steht die Welt offen,
ungezählte Möglichkeiten bieten sich ihnen, nichts ist undenkbar.
"Was du alles sein könntest",
ist dementsprechend ein Satz, der in diesem Roman immer wiederkehrt.
Doch die Lebensbedingungen und die Umstände der Zeit lassen die Zahl der
Möglichkeiten rasch schwinden, führen auf eine Spur, die keine
Rücksicht nimmt auf Träume, Wünsche, Talente - und Werte. Marie-Laure
und Werner wachsen zu einer Zeit auf, in der Hitler in Deutschland die
Macht ergreift und geraten schließlich auch in die Wirren des Zweiten
Weltkrieges.
Marie-Laure erblindet im Alter von sechs Jahren und
lebt mit ihrem Vater in Paris. Dieser arbeitet im 'Muséum National
d'Histoire Naturelle', wohin er seine kleine Tochter häufig mitnimmt. Um
ihren Orientierungssinn zu schärfen, unternimmt der Vater mit
Marie-Laure tägliche Spaziergänge durch das Pariser Viertel, in dem sie
wohnen und fordert das Mädchen stets von einem anderen Startpunkt aus
auf, nach Hause zurückzufinden. Aus anfänglicher Verzweiflung wird
zunehmende Sicherheit, so dass sich Marie-Laure schließlich kaum noch
hilflos fühlt. Auch sonst bemüht sich der Vater sehr darum, seine
Tochter in Welten einzuführen, die ihr ansonsten womöglich verschlossen
blieben. So erkundet sie ganze Abteilungen in dem Museum, wobei es ihr
vor allem die Muscheln und Schnecken angetan haben, die sie erstasten
kann. An Geburtstagen hat das Mädchen knifflige Rätsel zu lösen, und
immer wieder einmal gibt es ein neues Buch von Jules Verne in
Blindenschrift. Als Paris von den Deutschen besetzt wird, flieht der
Vater mit Marie-Laure in die Bretagne nach Saint-Malo, zu einem kauzigen
Onkel, der in der Stadt am Meer ein großes Haus bewohnt. Mit sich führt
der Vater den wohl kostbarsten Schatz des Museums: einen wertvollen,
sagenumwobenen Edelstein, das 'Meer der Flammen'.
"Das
Gehirn ist natürlich in völlige Dunkelheit eingeschlossen, Kinder. Es
treibt in klarer Flüssigkeit im Inneren des Schädels, nie im Licht. Und
doch leuchtet die Welt, die es in unseren Gedanken schafft. Sie fließt
über mit Farbe und Bewegung. Und wie, Kinder, erschafft uns das Gehirn,
das ohne einen Funken Licht lebt, diese helle, strahlende Welt? (...)
Öffnet eure Augen und seht was ihr sehen könnt, bevor sie sich für immer
schließen."
Werner lebt mit seiner jüngeren
Schwester in einem kleinen Waisenheim im Ruhrgebiet, nachdem sein Vater
beim Bergbau verschüttet wurde. Durch ihre französische Erzieherin
lernen die beiden Kinder auch etwas Französisch, wodurch sie
Radiosendungen verfolgen können, auf die sie eines Tages zufällig auf
ihrem selbstgebauten Weltempfänger stoßen. Die wissenschaftlichen
Sendungen, kindgerecht aufbereitet, wecken bei Werner die Neugierde. In
einem Notizbuch sammelt er Fragen über die Welt und das Leben, von denen
er sich eines Tages erhofft, die Antworten zu finden. Neben der
Neugierde zeichnet Werner aber auch eine außerordentliche Intelligenz
aus sowie ein technisches Talent, das sich in der Nachbarschaft
herumzusprechen beginnt. Schließlich wird ein hochrangiger
Nationalsozialist auf den Jungen aufmerksam - und verschafft ihm einen
Platz in Schulpforta, einem Internatsgymnasium zur Förderung Begabter.
Dort werden allerdings nicht nur Talente gefördert, sondern auch
nationalsozialistisches Gedankengut gehegt und eingeimpft. Werner gerät
in eine Maschinerie, die er nicht aufzuhalten vermag, und selbst als er
der Schule durch einen vorzeitigen Eintritt in eine Spezialeinheit der
Wehrmacht entkommen kann, entflieht er damit nicht der gnadenlosen
Ideologie. Feindsender von Widerstandskämpfern sollen von ihm und seiner
Einheit aufgespürt werden - in Russland, Polen, Österreich und
schließlich: in Saint Malo in Frankreich.
Während der Leser
Marie-Laure und Werner in den Jahren ihres Heranwachsens begleitet, gibt
es einen dritten Erzählstrang, der 1944 in Saint-Malo spielt. In eben
dem Ort, in dem Marie-Laure nach wie vor lebt und in dem ihr Onkel über
einem Sender die Résistance mit Daten versorgt. Und in demselben Ort, in
den Werners Einheit schließlich vorgedrungen ist, um eben jenen Sender
ausfindig und die Betreiber unschädlich zu machen. Als die Bomber der
Alliierten im August 1944 über Saint-Malo auftauchen, ist Werner noch
genau fünf Straßen von Marie-Laure entfernt...
Eine vielschichtig
und kunstvoll gewobene Erzählung präsentiert Anthony Doerr hier.
Perspektiven, Zeitebenen, Themen unterschiedlichster Art wechseln
einander ab, ohne dass es wie ein unangemessener Bruch wirkt und ohne
dass ein Detail unpassend dominiert: ein Kaleidoskop kleiner
Momentaufnahmen. Wie die Wellen des Meeres überlagert dabei jede
Bewegung der Erzählung das Vorherige - und doch sind die Schichten
darunter nur überdeckt, nicht aber verschwunden. Alles ist miteinander
verwoben, und jeder Erzählstrang steuert schließlich auf das Geschehen
1944 in Saint-Malo zu, wo Lebenswege sich kreuzen - wie und auf welche
Art auch immer.
Bildgewaltig kommt die Erzählung daher,
philosophisch durchzogen der Text, poetisch oftmals die Sprache. Auch
wenn sich der Roman viel Zeit lässt beim Erzählen, sorgen die
vielschichtige Handlung, die komplexe Entwicklung der Charaktere sowie
die realitätsnahen Beschreibungen des Kriegsalltags mit authentischem
Zeitkolorit trotz einiger Längen dafür, die Spannung aufrechtzuerhalten
und lassen den Leser neben all der Brutalität und den Schrecken auch
Oasen der Menschlichkeit erleben. Ein kleines Licht in dunkler Zeit.
Beeindruckend.
© Parden
Der
btb Verlag schreibt über den Autor:
Anthony Doerr, 1973 in Cleveland geboren, gilt seit der Veröffentlichung
des Erzählbands "Der Muschelsammler" 2002 als literarisches Talent. Für
"Alles Licht, das wir nicht sehen" wurde er unter anderem mit dem
renommierten Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Das Buch stand auf Platz eins
der New York Times Bestsellerliste. Für seine Erzählungen hat er
bislang vier Mal den renommierten "O. Henry Prize" erhalten. Im Jahr
2007 wurde Anthony Doerr von der britischen Literaturzeitschrift
"Granta" auf die Liste der "21 Best Young American Novelists" gesetzt.
Er lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Boise, Idaho.
► übernommen vom btb Verlag