Sonntag, 10. Juni 2018

Togonidze, Ekaterine: Einsame Schwestern

Diesen schmalen Roman aus dem österreichischen Septime Verlag durfte ich im Rahmen einer Leserunde bei Whatchareadin lesen, wo die Autorin netterweise auch einige unserer Fragen beantwortete. 

Georgien ist in diesem Jahr Ehrengast auf der Frankfurter Buchmese. Und mit diesem Buch haben sie schon einmal einen Paukenschlag gesetzt. Weshalb? Lest selbst!









Die siamesischen Zwillinge Lina und Diana sterben unter mysteri­ösen Umständen. Erst danach erfährt ihr Vater Rostom von deren Existenz, und dann, Seite für Seite, über das Leben seiner Töchter und deren unterschiedliche Persönlichkeiten in ihren ergreifenden Tagebucheinträgen.

Die beiden gegensätzlichen Stimmen zeichnen ihre außergewöhnlichen Er­­fahrungen als zwei getrennte Personen auf, die sich einen Körper teilen müssen. Bis ins Teenager-Alter werden die verletzlichen Zwillinge von der Außenwelt verborgen und von der Großmutter umsorgt, die darum kämpft, die beiden in einem verarmten post­sowjetischen Georgien zu beschützen – einer Gesellschaft mit wenig Mitgefühl für Behinderte. Nachdem die Großmutter stirbt, sind Lina und Diana wehrlos und fallen jeder Art von Misshandlung zum Opfer. Sie werden sexuell und psychisch missbraucht, sie werden gezwungen, als Freaks im Zirkus zu arbeiten.

Von der Taille abwärts verbunden, bleibt den Schwestern als einziger Rück­zugsort die Welt ihrer Tagebücher: Lina, unbeschwert und glücklich, ist fähig, sich zu verlieben, schreibt Gedichte, hat eine optimistische und romantische Seele und erfreut sich an den kleinen Dingen des Lebens. Diana, angespannt und bodenständig, kann ihre Situation nicht akzeptieren.

Nur von der Großmutter unterrichtet und versteckt vor der Außenwelt, erweitern die beiden ihren Wortschatz durch Fernsehsendungen und Blättern in Illustrierten. Die daraus entstehende einfache Sprache in ihren Tagebucheinträgen unterstreicht das Bild der Isolation der Zwillinge und macht diesen einzigartigen Roman authentisch.


(Klappentext Septime Verlag)

  • Gebundene Ausgabe: 180 Seiten
  • Verlag: Septime Verlag (19. Februar 2018)
  • Sprache: Deutsch
  • Übersetzung: Nino Osepashvili & Eva Profousová
  • ISBN-10: 3902711744
  • ISBN-13: 978-3902711748












AUCH ICH BIN ... EIN MENSCH!

Quelle: Pixabay
Lina und Diana sind Zwillinge. Doch auch wenn Zwillinge keine allzu seltene Laune der Natur sind - die beiden Mädchen sind etwas Besonderes. Sie teilen sich von der Taille abwärts einen Körper - sie sind siamesische Zwillinge. Hinzu kommt, dass sie nicht etwa wie Abby und Brittany Hensel in den USA das Glück haben, eine starke Familie im Rücken zu wissen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles zu tun, wonach ihnen der Kopf steht - Fahrrad fahren, Führerschein machen, sich im Bikini am Strand aalen - sondern in Georgien aufwachsen. In einer Gesellschaft also, in der Behinderte nicht zum Straßenbild gehören, sondern versteckt werden.

Von dem Leben der beiden Mädchen erfährt der Leser aus Tagebucheintragungen. Diese kommen nach ihrem mysteriösen Tod ans Tageslicht und landen bei ihrem Vater Rostom, der erst von der Gerichtsmedizin erfährt, dass er Töchter hatte. Abwechselnd wird hier erzählt aus dem Leben von Lina und Diana und von Rostom, ihrem Vater, der nicht wahrhaben will, dass er mit diesen Kindern etwas zu tun hat.


"Mein Stammbaum weist keinerlei Defekte auf! (...) Hätte ich solche Kinder gezeugt, hätte ich mich gleich umgebracht!" (S. 84 f.)


Die Tagebucheintragungen von Diana und Lina sind eher leise und dennoch intensiv. Zum Teil typische Gedanken und Stimmungsschwankungen Jugendlicher, zum Teil Notizen, die einen guten Einblick bieten in die Situation, für immer an jemand anderen gebunden und niemals allein zu sein. Die beiden Mädchen leben bis zu ihrem 16. Lebensjahr abseits der Stadt bei ihrer Großmutter, die Mutter starb bei ihrer Geburt. Die bescheidene Rente der Großmutter lässt die Zwillinge in Armut leben, Fleisch gibt es selten, Süßigkeiten sind ein Luxus. Und doch wachsen die beiden recht behütet auf, die Großmutter bringt ihnen Lesen und Schreiben bei, und als sie die Möglichkeit entdecken, jede für sich ein Tagebuch zu führen, haben sie endlich eine Nische entdeckt, ihre so unterschiedlichen Persönlichkeiten zu Wort kommen zu lassen.

Als die Großmutter stirbt, ist niemand mehr da, der Lina und Diana beschützt - wehrlos werden sie zum Opfer. Erst als Untersuchungsobjekt der Ärzte, später als Freaks im Zirkus. Nie werden sie als das gesehen, was sie sind: zwei jugendliche Mädchen in einem gemeinsamen Körper. Diana ist dabei pragmatischer und eher sachlich veranlagt, Lina dagegen verträumt und romantisch. Stets werden die beiden als eins gesehen, als Monstrosität betrachtet und behandelt - und Misshandlungen ausgesetzt.
Die Lektüre ist trotz der eher einfachen Sprache in den Tageucheinträgen eine schwere und bedrückende. Der Kniff mit den Tagebüchern ist dabei von Ekaterine Togonidze geschickt gewählt worden, wird so doch der Schwerpunkt nicht auf die Behinderung selbst gelegt, sondern darauf, was das für die beiden Mädchen bedeutet, für ihr Leben, ihre Gefühle, ihre Gedanken. So wird der Leser nicht ungewollt ebenso zum Zuschauer einer Freakshow, wie die Besucher des Zirkus, in dem die Mädchen gezwungen sind aufzutreten.

Die Lektüre macht betroffen - nicht allein aufgrund der Eindringlichkeit, die gerade auf den letzten Seiten der Tagebücher entsteht. Sie macht betroffen angesichts der Vielfalt des Menschseins - und der Ignoranz dieser Tatsache. Menschen mit Behinderungen - totgeschwiegen, weggesperrt, angestarrt, misshandelt, missbraucht, entseelt.


"So viel habe ich gewollt und nichts bekommen, nichts ist mir gelungen... Ich wollte allen ins Gesicht sagen: Auch ich bin eine von euch. Auch ich bin ... ein Mensch." (S. 176)


Leben ist Vielfalt. Und dieser Roman senisibilisiert - für Toleranz, für Akzeptanz, für ein Ja zu allen Facetten des Menschseins. Ein beeindruckendes Debüt, das lange nachhallt...


© Parden










Der Septime Verlag schreibt über die Autorin:

Ekaterine Togonidze wurde 1981 geboren. 2011 erschien ihre erste literarische Veröffentlichung. Für ihre Arbeiten wurde sie mehrmals ausgezeichnet, zuletzt erhielt sie 2012 den renommierten Saba-Preis. Ekaterine Togonidze war 2013 offizieller Gast der Leipziger Buchmesse, im gleichen Jahr war sie auch Stipendiatin des Literarischen Colloquiums Berlin.

Ekaterine Togonidze prägt seit über fünf Jahren Georgiens Literaturlandschaft. Mit ihrem ersten Roman Einsame Schwestern war sie die erste Schriftstellerin, die das Thema »Körperliche Behinderung« in Georgien literarisch verarbeitete und zur Diskussion brachte.


übernommen vom Septime Verlag

1 Kommentar:

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