Es war gut, dieses Werk im Rahmen einer Leserunde zu lesen, da es dort nicht nur einen intensiven Meinungsaustausch dazu gab, sondern auch viele Hinweise zum Hintergrund, die ich ansonsten womöglich verpasst hätte. Zum Gesamteindruck kann man hier weiterlesen:
Ein Haus, drei Etagen und jede Menge Geheimnisse
Arnon und Ayelet haben seit der Schwangerschaft Probleme mit dem Sex.
Damit die Dinge wieder ins Lot kommen zwischen ihnen, passen Ruth und
Hermann, das reizende ältere Ehepaar von nebenan, gern auf ihre kleine
Tochter auf. Ein Stockwerk drüber hadert Chani Doron, die »Witwe« (ihr
Mann ist ständig auf Geschäftsreise), mit ihrem Leben und Dvorah
Edelman, ehemalige Richterin und tatsächlich verwitwet, träumt in der
obersten Etage nachts davon, ihr Über-Ich werde amputiert. Lügen und
Selbsttäuschung durchdringen Alltag und Familienleben. Nevo wirft Licht
in die dunklen Winkel der menschlichen Natur und ist seinen Figuren
zugleich mitfühlender Freund. Einfach davonkommen aber lässt er sie
nicht ...
(Klappentext dtv)
- Gebundene Ausgabe: 320 Seiten
- Verlag: dtv Verlagsgesellschaft (12. Januar 2018)
- Sprache: Deutsch
- Übersetzung: Markus Lemke
- ISBN-10: 3423281316
- ISBN-13: 978-3423281317
- Originaltitel: Shalosh komot
EIN FREUD-EN-HAUS...
Tel Aviv |
Der Autor widmet sich nacheinander allen drei Etagen des Hauses, wodurch der Leser die Möglichkeit hat, die dort wohnenden Parteien näher kennenzulernen. Im Grunde sind es dadurch jedoch drei Geschichten, die sich von unten nach oben durch die Stockwerke bewegen, ohne wirklich eng miteinander verknüpft zu sein - eben so, wie auch die Nachbarschaft lediglich eine lose ist.
Im Erdgeschoss wohnt eine junge Familie mit zwei Kindern, und zwischen den Eltern ist seit der letzten Geburt das Sexleben zum Erliegen gekommen. Der Familienvater bemüht sich sehr, seiner Rolle gerecht zu werden, verrennt sich jedoch bald in die Vorstellung, dass der alte Nachbar von nebenan, der gelegentlich gemeinsam mit dessen Frau auf seine ältere Tochter aufpasst, sich an der 7Jährigen vergangen haben könnte. Je mehr er darüber nachdenkt, desto mehr steigert er sich in diese Idee hinein, bis alles in eine unumkehrbare Schieflage gerät...
In der Etage darüber wohnt eine vom Leben frustrierte Frau, die von den anderen Hausbewohnern hinter vorgehaltener Hand als 'Witwe' bezeichnet wird. Ihr Mann ist jedoch nur ständig auf Geschäftsreise, so dass sie für die Kinder alleine verantwortlich ist. Ständig zu Hause, wächst ihre Unzufriedenheit, und sie beginnt an allem zu zweifeln, v.a. an ihren eigenen Fähigkeiten - und an ihrer Wahrnehmung. Als der kriminelle Bruder ihres Ehemanns plötzlich bei ihr auf der Schwelle steht, beginnt sie mit diesem eine Affäre. Oder vielleicht doch nicht?
Im obersten Stockwerk schließlich lebt eine verwitwete pensionierte Richterin, die versucht, sich von dem übermächtigen Schatten ihres toten Ehemanns zu befreien. Auch das Zerwürfnis mit ihrem einzigen Sohn versucht sie zu kitten, was zu Lebzeiten ihres Mannes nicht mögich war.
Eshkol Nevo lässt die drei Personen ihre Geschichte jeweils selbst erzählen - Monologe, die in unterschiedlicher Form präsentiert werden. Der junge Familienvater aus dem Erdgeschoss erzählt seine Gedanken einem nicht näher bezeichneten Freund, die Frau aus der Etage darüber schreibt einer Freundin einen langen Brief, und die Richterin spricht ihrem Mann auf einen in der Schublade gefundenen Anrufbeantworter - in zweiminütigen Sequenzen, jeweils vom Piepton unterbrochen. Einen zusammenhängenden Roman ergibt das in meinen Augen nicht, auf bereits zurückgelassene Etagen geht die Erzählung anschließend kaum noch ein, höchstens einmal durch eine flüchtige Bemerkung.
Hat mich die Tatsache schon gestört, dass es sich hierbei kaum um einen Roman handelt, fand ich es noch viel ärgerlicher, dass mir die Schilderungen der ersten beiden Etagen einfach nicht gefallen haben. Unbeherrscht und sexbesessen der junge Familienvater, abgedreht und nahe am Wahnsinn die Frau aus dem Stockwerk darüber - keine angenehmen Zeitgenossen, und die Handlungen rund um die beiden waren für mich bestenfalls verstörend, was dazu noch jeweils offen endete, so dass ich mit den Geschichten in der Luft hängen gelassen wurde.
Die abschließende Geschichte um die Richterin allerdings hat mir gut gefallen - ein wenig ausgeschmückt hätte mir diese vollkommen als Roman gereicht, und auch so hätte ich einen kleinen Einblick in die gesellschaftliche Lage in Israel erhalten, was wohl in der Intention des Autors lag.
Nicht aufgegangen dagegen wäre dann jedoch bei nur einer Geschichte das Konzept, das Eshkol Nevo seinem Roman zugrunde gelegt hat. Er hat das Haus so gestaltet, dass es das Drei-Instanzen-Modell der Psyche nach Freud repräsentiert: unten das Es (Triebe, Bedürfnisse, Affekte, handelnd nach dem Lustprinzip), in der Mitte das Ich (bewusstes Denken, Selbtsbewusstsein, Regulativ zwischen Es und Über-Ich), und schließlich ganz oben das Über-Ich (Normen, Werte, Gehorsam, Moral, Gewissen). Wem sich dieser Gedanke nicht aufdrängt, dass es sich hier um ein Freud-en-haus handelt und wer sich dazu auch noch nicht das Literarische Quartett vom 20. April 2018 angesehen hat, dem wird diese Interpretation im dritten Teil des 'Romans' demonstrativ (und wortwörtlich) aufgedrängt...
Dieser Interpretationsansatz ist zwar innovativ und erklärt auch einige Aspekte der Erzählung, wirkt für mich aber schon arg konstruiert und experimentell. Da wurde die Erzählung mühsam über ein Konstrukt gestülpt, was ich persönlich als zu gewollt empfand. Als ich in der Vita des Autors las, dass er vor einiger Zeit Psychologie studiert hat, erklärte sich mir, wie Eshkol Nevo auf die Idee kam - doch gefallen hat mir dieser Aufbau letztlich nicht. Auch die häufigen Verweise und Anspielungen auf Psychologen in Israel, seien sie auch noch so ironisch vorgebracht, erzeugten bei mir allenfalls ein müdes Lächeln. Den Einblick in die heutige israelische Gesellschaft dagegen fand ich durchweg interessant.
Der Schreibstil ist angenehm und flüssig zu lesen, doch hat mir die Form mit den drei doch recht isoliert stehenden Geschichten nur mäßig gefallen. Die dritte Erzählung gefiel mir am besten und hat letztlich für den dritten Stern gesorgt - und mich mit dem Rest halbwegs versöhnt...
© Parden
Der dtv schreibt über den Autor:
Eshkol Nevo, geboren 1971 in Jerusalem, gehört heute zu den
wichtigsten Schriftstellern seines Landes. Sein erster Roman ›Vier
Häuser und eine Sehnsucht‹ stand 2005 auf der Shortlist des
bedeutendsten Literaturpreises in Israel, dem Sapir Preis, 2008 wurde er
in Frankreich mit dem Raymond Wallier Preis des Salon du Livre
ausgezeichnet, 2009 war er auf der Longlist des Independent Prize. ›Wir
haben noch das ganze Leben‹, sein zweiter Roman (Golden Book Prize,
Israel 2007, Adei Wizo Preis, Italien 2011), war nicht nur in Israel,
sondern auch in Deutschland ein Bestseller. Sein Roman ›Neuland‹
verkaufte sich in Israel über 130.000 Mal und gewann 2012 als »Book of
the Year« den Steimatzky Preis. 2018 erschien, wiederum mit großer
Aufmerksamkeit, sein Roman ›Über uns‹ in Deutschland.
Eshkol Nevo lebt mit seiner Frau und seinen drei Töchtern in Ra’anana / Israel.
Eshkol Nevo lebt mit seiner Frau und seinen drei Töchtern in Ra’anana / Israel.
► übernommen vom dtv
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