Sonntag, 6. März 2016

Wells, Benedict: Vom Ende der Einsamkeit


»Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind: Man weiß nie, wann er zuschlagen wird.« 

Jules und seine beiden Geschwister wachsen behütet auf, bis ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben kommen. Als Erwachsene glauben sie, diesen Schicksalsschlag überwunden zu haben. Doch dann holt sie die Vergangenheit wieder ein. Ein berührender Roman über das Überwinden von Verlust und Einsamkeit und über die Frage, was in einem Menschen unveränderlich ist. Und vor allem: eine große Liebesgeschichte.

(Klappentext Diogenes Verlag)


  • Gebundene Ausgabe: 368 Seiten
  • Verlag: Diogenes; Auflage: 1 (24. Februar 2016)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3257069588
  • ISBN-13: 978-3257069587











Hiermit danke ich vorablesen.de sowie dem Diogenes Verlag, dieses Buch als Rezensionsexemplar lesen zu dürfen!








DAS LEBEN IST KEIN NULLSUMMENSPIEL...




Rück mit dem Stuhl heran
Bis an den Rand des Abgrunds
Dann erzähl ich Dir meine Geschichte.
(F. Scott Fitzgerald)


Dieses Zitat ist dem Roman vorangestellt - und ist gewissermaßen auch als Aufforderung an den Leser zu verstehen. Denn man muss bereit sein, sich ganz dicht an den Rand des Abgrunds zu begeben, um der Geschichte lauschen zu können - manchmal sogar noch ein wenig über den Rand hinaus.

Jules Moreau ist es, den der Leser durch die Geschichte über einige Dekaden hinweg begleitet - ihn und die Menschen, die in seinem Leben von Bedeutung sind. Der Roman handelt von Jules und seinen beiden Geschwistern, die ihre Eltern früh durch einen Unfall verlieren, und wie dieses Ereignis sie für ihr weiteres Leben prägt und verändert. Mit elf Jahren bereits kommt Jules mit seinem Bruder und seiner Schwester in ein Internat, wo sich ihre Wege sogleich trennen - jedes der drei Kinder geht auf seine ganz eigene Weise mit dem Verlust der Eltern um. Und für Jules beginnt so ein Weg der Einsamkeit, ständig mit dem Gefühl verhaftet, dass dies nicht sein wahres Leben ist.


"...und tief in mir spürte ich, dass das alles ohnehin nicht mein wahres Leben war. Dass ich es noch immer mit jenem, in dem meine Eltern noch lebten, tauschen würde. Dieser Gedanke kam mir immer wieder, er war wie ein in meine Seele gewebter Fluch." (S. 151)


Einzig in seiner Schulkameradin Alva entdeckt Jules während seiner Internatszeit eine Art Seelenverwandtschaft, einen Spiegel von Verlust, Einsamkeit und Trauer, dem Wissen hinter dem Sein. Eine unverbrüchlich scheinende Freundschaft, die mit dem Abitur jedoch jäh ein Ende findet. Etliche Jahre später erst ein vorsichtiger erneuter Kontakt, brüchig und unsicher, schließlich ein langer Besuch, der eine Entscheidung bringen wird, ob sie an die alte Freundschaft anknüpfen werden können. Und dazwischen immer wieder Begegnungen zwischen Jules und seinen beiden Geschwistern, die nach dem Auseinanderdriften der Wege in der Zeit nach dem Tod der Eltern inzwischen zu sicheren Polen im Leben von Jules geworden sind. Jeder scheint seinen festen Platz im Leben gefunden zu haben, allen Schicksalsschlägen zum Trotz - und doch: nichts ist sicher und von Dauer.


"Das Leben ist kein Nullsummenspiel. Es schuldt einem nichts, und die Dinge passieren, wie sie passieren. Manchmal gerecht, so dass alles einen Sinn ergibt, manchmal so ungerecht, dass man an allem zweifelt. Ich zog dem Schicksal die Maske vom Gesicht und fand darunter nur den Zufall." (S. 299)


Eine leise Erzählung ist es, die Benedict Wells hier präsentiert - und gleichzeitig eine Geschichte wie ein reißender Fluss. Denn man wird hier unweigerlich hineingezogen in die Strudel der Gefühle, die der gerade mal 31 Jahre alte Schrifsteller so anschaulich und verdichtet schildert, dass die Grenzen zwischen Gelesenem und Erlebtem verschwimmen und verschwinden. Derart berührt hat mich lange kein Buch, und allein das Wissen, dass es wie hier gelingen kann, Gefühle in einer solchen Intensität zu Papier zu bringen, treibt mir gleich wieder die Tränen in die Augen.

Dabei ist der Roman zu keiner Zeit gefühlsduselig oder kitschig, ganz im Gegenteil. Der Leser hat Teil an Jules Gedankengängen und Gefühlen und stellt sich mit ihm den so elementaren Fragen des Lebens. Das Geschilderte wirkt unglaublich authentisch und nachvollziehbar, und natürlich ist es nicht allein die Geschichte, die den Leser derart berührt, sondern es sind die eigenen Erfahrungen im Leben, die eigenen Erinnerungen an Schmerz, Verlust und Trauer, die durch das, was der Autor Jules widerfahren lässt, an die Oberfläche kommen. Dadurch wird der Leser zum Teil der Geschichte, auch über den Rand des Abgrunds hinaus.


"Die Einsamkeit in uns können wir nur gemeinsam überwinden."  (S. 351)


Trotz der melancholischen und poetischen Nuance der Erzählung bringt Benedict Wells durch seinen unverkrampften und flüssigen Schreibstil, der so selbstverständlich und nahezu mühelos wirkt, gleichzeitig eine fast leichte Note in die Geschichte. Von anfangs über 800 Seiten immer wieder reduziert, umfasst der Roman jetzt gerade einmal gut 350 Seiten. Mehrere Jahre lang hat Wells daran geschrieben und präsentiert hier nun die überaus eloquente Essenz.

Wie er selbst in einem Interview schilderte, hat der 31Jährige kaum etwas von dem Beschriebenen selbst erlebt - aber die Gefühle hinter den Szenen sind echt: 'Ich nehme dieses Gefühl und schreibe dann eine Szene, in der etwas ganz anderes passiert.' Ohne Studium, ohne Ausbildung, hat Benedict Wells sich das Schreiben selbst beigebracht. 'Vom Ende der Einsamkeit' ist bereits der vierte Roman des Autors - und seinen Worten zufolge sein wichtigster. Im Laufe des jahrelangen Schreibens an diesem Roman ist Wells daran gewachsen: 'Ich musste der Schriftsteller werden, der dieses Buch schreiben kann.'


"...und erst spät habe ich verstanden, dass in Wahrheit nur ich selbst der Architekt meiner Existenz bin. Ich bin es, wenn ich zulasse, dass meine Vergangenheit mich beeinflusst, und ich bin es umgekehrt genauso, wenn ich mich ihr widersetze. Und ich muss (...) begreifen: Dieses andere Leben, in dem ich nun schon so deutliche Spuren hinterlassen habe, kann gar nicht mehr falsch sein. Denn es ist meins." (S. 337)



Lange nicht mehr habe ich für ein Buch so lange zum Lesen gebraucht. Einerseits gab es immer wieder Szenen, die so eindrücklich waren, dass sie sich erst einmal setzen mussten, die eigene Gedankengänge anschoben und persönliche Erinnerungen an die Oberfläche geraten ließen. Das alles braucht seine Zeit. Andererseits aber ist dies auch einer der Romane, die mich wünschen ließen, dass er kein Ende finden möge. Selbst für die letzten sechs Seiten habe ich das Buch noch einmal zur Seite gelegt - einfach, um den Abschied noch ein wenig hinauszuzögern.

Eine fesselnde, berührende, traurige Geschichte, melancholisch und philosophisch, doch dabei ausgesprochen hoffnungsvoll und lebensbejahend. Und ich für meinen Teil habe einen neuen Lieblings-Schriftsteller - wie schön, dass ich ihn entdecken durfte!


© Parden

















Und hier noch ein besonderes Schmankerl. Der Diogenes Verlag hat aus Benedict Wells' Soundtrack zu 'Vom Ende der Einsamkeit' eine Playlist auf YouTube erstellt, die man in einem Rutsch durchhören kann.

Hier geht es zur Playlist










Benedict WellsDer Diogenes Verlag schreibt über den Autor:

Benedict Wells wurde 1984 in München geboren. Im Alter von sechs Jahren begann seine Reise durch drei bayerische Internate. Nach dem Abitur 2003 zog er nach Berlin. Dort entschied er sich gegen ein Studium und widmete sich dem Schreiben. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit diversen Nebenjobs. Sein vielbeachtetes Debüt ›Becks letzter Sommer‹ erschien 2008, wurde mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet und 2015 fürs Kino verfilmt. Sein dritter Roman ›Fast genial‹ stand monatelang auf der Bestsellerliste. Nach Jahren in Barcelona lebt Wells inzwischen wieder in Berlin.

übernommen vom Diogenes Verlag

3 Kommentare:

  1. Der Diogenes Verlag hat auch ein interessantes Angebot. Schöne Rezension.

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  2. Hier hatte ich mich mit der Leseprobe etwas schwer getan. Die Bücher des Autors haben aber was.
    Liebe Grüße
    walli :-)

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  3. Gerade entdeckt auf der Facebook-Seite des Diogenes Verlags:

    "Wir freuen uns mit Benedict Wells über den Literaturpreis der Euopäischen Union für Vom Ende der Einsamkeit.

    Die Begründung der Jury: »Wells hat einen Roman erschaffen, dessen Stärke in den Charakteren liegt, die trotz all ihrer Traurigkeit eine […] Wärme ausstrahlen. […] Dieser Erfolg beruht auf Wells 'außergewöhnlicher Fantasie, eine heutzutage selten anzutreffende Gabe.« "

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