Dienstag, 30. September 2014

Trouillot, Lyonel: Die schöne Menschenliebe


In seinem Taxi bringt Thomas die junge Anaïse in ein kleines Fischerdorf, das in einem entlegenen Winkel von Haiti liegt. Anaïse ist aus Europa angereist, um einem Familiengeheimnis nachzugehen, das sich wie ein dunkler Schatten über ihrem Leben ausbreitet und dessen Ursprung in jenem Dorf liegt, aus dem auch Thomas stammt. Vor vielen Jahren hat sich dort ein tragisches Unglück ereignet. Der erfolgreiche Geschäftsmann Robert Montès – Anaïse' Großvater – und der ehemalige Polizeichef Pierre André Pierre sind nach einem nächtlichen Brand, der ihre benachbarten Häuser in Schutt und Asche gelegt hat, spurlos verschwunden. Sind die beiden einer Racheaktion zum Opfer gefallen? Oder haben sie selbst das Feuer gelegt, um ihre vermeintlichen Verbrechen zu vertuschen? Thomas warnt Anaïse, dass ihre Nachforschungen zwangsläufig ins Leere laufen werden. Denn er weiß, dass an diesem magischen Ort die Wahrheit allen gehört und niemand seinem Schicksal entfliehen kann.



  • Gebundene Ausgabe: 192 Seiten
  • Verlag: Liebeskind; Auflage: 1., Deutsche Erstausgabe (25. August 2014)
  • Sprache: Deutsch
  • Übersetzung: Barbara Heber-Schärer und Claudia Steinitz
  • ISBN-10: 3954380323
  • ISBN-13: 978-3954380329
  • Originaltitel: La belle amour










 EINE ODE AUF DIE MENSCHLICHKEIT...


Anse-à-Foleur, Haiti

 "Was ist denn so schlimm daran, wenn ich hierherkomme, um herauszufinden, was er gesagt, wovon er geträumt haben könnte? (...) Ich bin gekommen, um das Herz eines unglücklich geborenen jungen Mannes schlagen zu hören, der keinen Ort für sich hatte. Eines Jungen, der viele Annehmlichkeiten aufgegeben hat, um hier zum Leben zu erwachen und dann in ein ungewisses Anderswo zu gehen." (S. 152 f. und S. 171)


Dies sagt Anaïse, deren Vater starb, als sie 3 Jahre alt war. Sie weiß nicht viel über ihren Vater, auch nicht woran er starb, und kaum etwas darüber, woher er kam. Einzig der Name Anse-à-Foleur bietet ihr einen Anhaltspunkt - und der Name ihres Großvaters: Robert Montès.
Der seinerzeit sehr erfolgreiche Geschäftsmann Robert Montès hatte sich
in dem kleinen Dorf am Meer ein Ferienhäuschen errichten lassen, identisch mit und gleich neben dem seines besten Freundes, dem Oberst Pierre André Pierre. In einer friedvollen, lauen Nacht vor 20 Jahren brannten unbemerkt die beiden Häuser ab, der Oberst und der Geschäftsmann verschwanden spurlos.

Natürlich wurden Ermittlungen angestellt - aus der Hauptstadt wurde jemand entsandt, der als der beste Spürhund im Polizeidienst galt. Zwei hochangesehene Männer aus den höchsten Gesellschaftskreisen waren verschwunden, der Minister persönlich sah sich zum Handeln genötigt. Doch die Ermittlungen verliefen anders als erwartet...


"Der Ermittler war mit Fragen, einem Auftrag und dem notwendigen Know-how zu uns gekommen, um Schuldige zu entlarven. Weggefahren ist er mit seinem Kündigungsschreiben in der Tasche und dem Namen für seine Bar: 'L'Anse-à-Foleur'."


Spätestens jetzt wird deutlich, dass es sich bei diesem Buch in keinem Fall um einen Krimi oder Thriller handelt. Den größten Teil der Erzählung macht die Fahrt in das kleine Küstendorf aus - Thomas, der auch in Anse-à-Foleur verwurzelt ist, bringt
Anaïse mit ihren Fragen in seinem Taxi zu ihrem Ziel. Und redet dabei ohne Unterlass. So viel, dass Anaïse zwischendurch sogar einschläft, aber der Leser erfährt dabei einiges über Land und Leute, den Geschäftsmann und den Oberst - und die Menschenliebe.
Schnell wird deutlich, dass es keine Sympathieträger sind, die da einem mutmaßlichen Verbrechen zum Opfer gefallen sind: Robert Montès, der kalt lächelnde Geschäftsmann und Pierre André Pierre, der skrupellose Oberst. Zu keinem Zeitpunkt haben die beiden die Freundschaft des Dorfes gesucht, sie waren mit sich selbst zufrieden. Und alleine die Tatsache, dass die beiden miteinander befreundet waren, mutet schon erstaunlich an.


"Nichts außer der Grausamkeit konnte die Freundschaft erklären, die Oberst Pierre André Pierre und den Geschäftsmann Robert Montès bis in den Tod verband." (S. 93)


Ein mutmaßliches Verbrechen, das nie aufgeklärt wurde, die Fragen, die auf das Schweigen des Dorfes treffen - Thomas macht auch
Anaïse keine Hoffnung, dass sie die Antworten erhalten wird, nach denen sie vielleicht sucht. Jeder, der den Fall aufklären wollte, kehrte unverrichteter Dinge zurück, aber bereichert um eine besondere Erfahrung.


"Was ändert es, ob ich dir Lügen oder die Wahrheit über ihren Tod erzähle? Kann es ein Verbrechen sein, Glück zu schaffen?" (S. 146)


Dies ist ein wahrlich außergewöhnliches Buch. Allein die Art des Erzählens - es geschieht so gut
François "Papa Doc" Duvalier (1909-1971)
wie nichts, außer am Ende. Aber der Weg ist das Ziel, so sagt man doch so schön, und hier ist es wirklich so. Die Fahrt aus der lauten, heruntergekommenen Hauptstadt Haitis Port-au-Prince
mit ihren großen Armenvierteln in das Küstendorf Anse-à-Foleur hat zugleich etwas Symbolisches: eine Reise durch die Geschichte Haitis, eine Reise in die Vergangenheit, eine Reise zu sich selbst.
Bruchstückhaft erhält
Anaïse gemeinsam mit dem Leser eine Flut an Informationen, und nach und nach präsentiert sich ein kompaktes Bild über die Zustände in Haiti, die Kontraste der Lebenswelten, Anspielungen auf historische Größen wie den langjährigen Diktator 'Papa Doc' - die Parallelen zu den beiden Opfern des mutmaßlichen Verbrechens drängen sich geradezu auf - die Überflutung durch den Tourismus --- und das entlegene Fischerdorf Anse-à-Fouleur, das geradezu wie ein Sehnsuchtsort erscheint.


"Es gibt Städte, die lächeln, und solche, die finster dreinschauen. Solche, die grell angemalt sind wie ein Straßenmädchen, das sich jeden Abend verkleiden muss, um in den Kampf zu ziehen. Und andere, die nichts zeigen, nichts verkaufen, weder angeben noch sich zur Schau stellen, sondern unbefangen lächeln, wenn jemand zu Besuch kommt. So ist meine Stadt am Meer. " (S. 20)


Der Schreibstil ist angenehm, oft poetisch - und wechselt zwischen langen, verschachtelten aber verständlichen Sätzen und sehr kurzen Sätzen. Der Eindruck, dass Thomas, der Taxifahrer, der Reiseführer, der Geschichtenerzähler, der Glückshelfer, ohne Punkt und Komma redet, wird noch dadurch verstärkt, dass in den meist vier- oder fünfseitigen Abschnitten keine weitere Untergliederung stattfindet, kein Absatz, keine Lücke im Text, alles ein Fluss.

Erst gegen Ende lässt Lyonel Trouillot auch
Anaïse zu Wort kommen, einige Seiten lang, und durch ihre Augen erlebt man das Dorf als Fremde. Auch 'Die schöne Menschenliebe' erhält noch das Wort, und hier erfährt der Leser das Besondere, den Zauber, den das Dorf ausmacht. Und die Einsicht, dass es Verbrechen gibt, bei denen die Moral über der Notwendigkeit zu stehen scheint, sie tatsächlich aufzuklären...


"Jeder Mensch sollte der Glückshelfer eines anderen Menschen sein." (S. 32)


Ein beeindruckendes Werk, das sich trotz des nicht allzu großen Umfangs nicht einfach runterlesen lässt. Dazu ein Cover, das fast nebulös und dadurch geheimnisvoll wirkend einen Blick auf das Fischerdorf Anse-à-Foleur gewährt. Für mich ein rundum stimmiger Roman, der auch nach dem Lesen noch nachhallt.

Ich danke dem Liebeskind-Verlag ganz herzlich für die Überlassung des Rezensionsexemplars und die Möglichkeit, diese kleine Perle für mich zu entdecken.

© Parden








Lyonel Trouillot
Lyonel Trouillot
 Lyonel Trouillot, 1956 in Port-au-Prince geboren, zählt zu den wichtigsten Autoren Haitis. Anfang der achtziger Jahre verließ er sein Heimatland und ging ins Exil in die USA. Nach seiner Rückkehr engagierte er sich als Autor für die Demokratiebewegung in seinem Land. Sein Debütroman »Straße der verlorenen Schritte« erschien 1998 in Frankreich, seitdem hat er sechs Romane veröffentlicht, darunter »La belle amour humaine«, der für den renommierten Prix Goncourt nominiert wurde. Lyonel Trouillot lehrt Kreolische und Französische Literatur in Port-au-Prince.



 ► Quelle Text und Bild

  

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