Sonntag, 23. Dezember 1866:
Der 21-jährige Tjark Ulrich Honken Evers stammt von der Insel Baltrum und ist Schüler der Seefahrtsschule in Timmel bei Aurich. Tjark Evers will seine Eltern zu Weihnachten mit seinem Besuch auf Baltrum überraschen. Also überredet er zwei Fischer, ihn mit ihrem Ruderboot am eisigen frühen Morgen des 4. Advents 1866 nach Baltrum überzusetzen. In seinem Seesack befinden sich neben Kleidung und anderen persönlichen Sachen ein Notizbuch,in das er sonst seine trigonometrischen Aufgaben einträgt, ein Bleistift und, als Weihnachtsgeschenk, eine Kiste mit Zigarren für den Vater.
Dichter Nebel liegt über dem Wasser und schränkt die Sicht auf wenige Meter ein, als die beiden Fischer ihn am vermeintlichen Baltrumer Sandstrand absetzen und eiligst den Rückweg antreten.
Was sie nicht wissen und was Tjark zu spät bemerkt:
Nicht Baltrum, sondern eine Sandplat, eine bei Ebbe trocken gefallene Sanddüne im Wattenmeer also ist es, auf der er steht. Vom rettenden Strand der Insel Baltrum trennen ihn einige Kilometer.
Nun weiß Tjark, dass er dem Tode geweiht ist, er mit dem Aufkommen der Flut im eisigen Meerwasser ertrinken wird.
Wir können nur ahnen, was in dem jungen Mann vorgegangen sein muss, als er seine aussichtslose Lage erkannte:
Eben noch in weihnachtlicher Vorfreude auf das Wiedersehen mit Eltern und Geschwistern und kurz darauf die grausame Erkenntnis, dass er wegen eines tragischen Irrtums sein junges Leben im kalten Wasser der Nordsee verlieren würde!
Ganz sicher fühlte er eisiges Erschrecken, Angst, Verzweiflung, Wut.
Vielleicht auch Hoffnung auf Rettung durch ein zufällig vorbeikommendes Schiff?
Keine Chance jedenfalls, Baltrum schwimmend zu erreichen: Wassertemperaturen von nur ca. 3°C lähmen bereits nach kurzer Zeit jeden Körper, jeden Muskel durch Unterkühlung.
Es fällt schwer, sich vorzustellen, in welcher Gemütslage sich Tjark Evers in den letzten Minuten seines Lebens befunden haben mag.
Sicher ist:
Mit vor Kälte klammen Fingern und das Wasser bereits an den Knien, schreibt er in bewundernswert schöner Schrift und mit bemerkenswerter Nüchternheit letzte Zeilen für seine Eltern und Geschwister, legt Notizbüchlein samt Bleistift in die entleerte Zigarrenkiste, umschlingt das Ganze mit seinem Haltstuch und übergibt es der See.
Die Zigarrenkiste samt Inhalt wird im Januar 1867 am Strand von Wangerooge angespült.
Die Leiche von Tjark Evers bleibt verschwunden.
***
Die Novelle "Auflaufend Wasser" ist ein feines Stück Gegenwartsliteratur und erzählt die traurige Geschichte des jungen Matrosen Tjark Evers, der 1866 einen tragischen Tod im Wattenmeer vor der Insel Baltrum fand.
Dem Autorenteam Astrid Dehe und Achim Engstler gelingt es, sich wunderbar einfühlsam in die Psyche des jungen Tjark Evers zu versetzen und aus seinem subjektiven Erleben der traumatischen Situation sowie aus seinen mutmaßlichen Emotionen, Gedankengängen und Reflexionen zu schöpfen.
Das Büchlein ist dabei sowohl erschütternde Schilderung des objetiven Geschehens als auch das Angebot einer anrührenden (fiktiven) Darstellung seines inneren Erlebens und seiner Emotionen.
Ich teile übrigens in keiner Weise die andernorts in der einen oder anderen Rezension geäußerte Einschätzung, die der Novelle an einigen Stellen eine "sprachliche und erzählerische" Überzeichnung bescheinigen, sondern
bin viel mehr der Meinung, dass wir es hier mit einem sprachlichen und stylistischen Meisterwerk zu tun haben.
Dieses kleine Buch, das mir in einer hübschen Ausgabe aus "Die Kleine Reihe" der Büchergilde Gutenberg vorliegt, vereint alles, was ein Bestseller-Kandidat haben muss:
Eine zu Herzen gehende wahre Story mit hoher schriftstellerischer Güte!
Was will man mehr?
***
Schicksal
Die Rückkehr der Zigarrenkiste nach Baltrum
Als ein großes wichtiges Ereignis wurde am 19. März 2002 beim Heimatverein der Insel die Rückkehr „der Zigarrenkiste“ nach Baltrum gefeiert. Horst Evers persönlich, Nachfahre des Verunglückten, der die Zigarrenkiste samt Inhalt als Schicksalszeugnis im Wattenmeer der Nachwelt hinterließ, übergab sie an Ingeborg Brämer, Vorsitzende des Heimatvereins Baltrum e.V..
Tjark Ulrich Honken Evers starb am 23. Dezember 1866 im Nebel über dem Wattenmeer zwischen Langeoog und Baltrum. Im Baltrumer Kirchenbuch heißt es:
„Der Verunglückte besuchte die Navigationsschule in Timmel. In den Weihnachtsferien wollte er seine Eltern besuchen und kam am 22. Dezember in Westeraccumersiel an. Am Morgen des anderen Tages (sonntags) bestieg er mit einem Langeooger ein Boot, das sie jeden an den heimatlichen Strand setzen sollte. Zwischen sechs einhalb und sieben Uhr morgens fuhren sie ab. Ein ziemlich dicker Nebel verhinderte aber den Blick in die Ferne. Die Bootsleute ruderten zuerst nach dem Langeooger Strand, wo sie den Mann von Langeoog aussetzten. Von da wollten sie zum Baltrumer Strande zurudern. In der festen Meinung, diesen Strand erreicht zu haben, legte man an und der Verunglückte stieg aus, und die Bootsleute fuhren wieder ab. Es war aber nicht der heimatliche Strand, den der Verunglückte betreten hatte, sondern eine Sandbank auf der er in der steigenden Flut seinen Tod gefunden. Der Unglücksfall wurde am 5. Januar 1867 bekannt. Am 3. Januar ist an der Insel Wangerooge in einer Cigarrenkiste, die mit einem Taschentuch umwunden war, das Taschenbuch des Verunglückten angetrieben worden...“
Der Wortlaut des bis heute erhalten gebliebenen Textes (Ausschnitt):
„Liebe Eltern, Gebrüder und Schwestern, ich stehe hier auf einer Plat und muß ertrinken, ich bekomme euch nicht wieder zu sehen und ihr mich nicht. Gott erbarme sich über mich und tröste euch. Ich stecke dieses Buch in eine Sigarren Kiste. Gott gebe, daß Ihr die Zeilen von meiner Hand erhaltet. Ich grüße euch zum letzten Mal. Gott vergebe mir meine Sünden und nehme mich zu sich in sein Himmelreich. Amen.
An Schiffer H. E. Evers Baltrum
T U H Evers
Ich bin T. Evers von Baltrum.
Der Finder wird gebeten, dieses Buch meinen Eltern zuzuschicken an Cpt. H. E. Evers Insel Baltrum“
(Baltrumer Kirchenbuch Jg. 1866 und Gerhard Canzler, Aurich (1986): Baltrum, zitiert in Heidi Gansohr-Meinel, Jever (2001): Baltrum – Eine kleine Insel und ihre Bewohner).
Tjark Ulrich Honke Evers war gerade 21 Jahre alt, als er umkam. Man hat seinen Leichnam nie gefunden.
Die Geschichte der Familie Evers ist eng mit der Insel Baltrum verbunden. Der Vater des Verunglückten war der Schiffer Honke Eilts Evers. Dessen einzig überlebender Sohn, also der Bruder von Tjark Ulrichs Honke Evers war der Kapitän und spätere Gemeinde- und Kirchenvorsteher Eilt Honken Evers – Urgroßvater von Horst Evers, der die Zigarrenkiste nun dorthin zurückbrachte, wo sie der Ansicht des Heimatvereins Baltrum nach hingehört: nämlich nach Baltrum.
Die Kiste ist lange Zeit im Besitz der Familie Evers gewesen, war aber schon einmal auf Baltrum im Heimatmuseum ausgestellt. Die Familie ist heute in Esens beheimatet und im dortigen Heimatmuseum war das Fundstück zuvor zu sehen. In den vergangenen vier Jahren war die Zigarrenkiste an das Nordseehaus in Wilhelmshaven ausgeliehen worden. Jetzt freut sich der Heimatverein Baltrum, dieses gut erhaltene, wohl auch erschütternde und ans Herz gehende Dokument aus der Geschichte der Insel Baltrum einem interessierten Publikum in der Inselkammer im Nordseehaus präsentieren zu können.
Sabine Hinrichs
Dichter Nebel liegt über dem Wasser und schränkt die Sicht auf wenige Meter ein, als die beiden Fischer ihn am vermeintlichen Baltrumer Sandstrand absetzen und eiligst den Rückweg antreten.
Was sie nicht wissen und was Tjark zu spät bemerkt:
Nicht Baltrum, sondern eine Sandplat, eine bei Ebbe trocken gefallene Sanddüne im Wattenmeer also ist es, auf der er steht. Vom rettenden Strand der Insel Baltrum trennen ihn einige Kilometer.
Nun weiß Tjark, dass er dem Tode geweiht ist, er mit dem Aufkommen der Flut im eisigen Meerwasser ertrinken wird.
Wir können nur ahnen, was in dem jungen Mann vorgegangen sein muss, als er seine aussichtslose Lage erkannte:
Eben noch in weihnachtlicher Vorfreude auf das Wiedersehen mit Eltern und Geschwistern und kurz darauf die grausame Erkenntnis, dass er wegen eines tragischen Irrtums sein junges Leben im kalten Wasser der Nordsee verlieren würde!
Ganz sicher fühlte er eisiges Erschrecken, Angst, Verzweiflung, Wut.
Vielleicht auch Hoffnung auf Rettung durch ein zufällig vorbeikommendes Schiff?
Keine Chance jedenfalls, Baltrum schwimmend zu erreichen: Wassertemperaturen von nur ca. 3°C lähmen bereits nach kurzer Zeit jeden Körper, jeden Muskel durch Unterkühlung.
Es fällt schwer, sich vorzustellen, in welcher Gemütslage sich Tjark Evers in den letzten Minuten seines Lebens befunden haben mag.
Sicher ist:
Szenenfoto aus dem Film "Die Zigarrenkiste", vom Verfasser digital bearbeitet |
Die Zigarrenkiste samt Inhalt wird im Januar 1867 am Strand von Wangerooge angespült.
Die Leiche von Tjark Evers bleibt verschwunden.
***
Die Novelle "Auflaufend Wasser" ist ein feines Stück Gegenwartsliteratur und erzählt die traurige Geschichte des jungen Matrosen Tjark Evers, der 1866 einen tragischen Tod im Wattenmeer vor der Insel Baltrum fand.
Dem Autorenteam Astrid Dehe und Achim Engstler gelingt es, sich wunderbar einfühlsam in die Psyche des jungen Tjark Evers zu versetzen und aus seinem subjektiven Erleben der traumatischen Situation sowie aus seinen mutmaßlichen Emotionen, Gedankengängen und Reflexionen zu schöpfen.
Das Büchlein ist dabei sowohl erschütternde Schilderung des objetiven Geschehens als auch das Angebot einer anrührenden (fiktiven) Darstellung seines inneren Erlebens und seiner Emotionen.
Ich teile übrigens in keiner Weise die andernorts in der einen oder anderen Rezension geäußerte Einschätzung, die der Novelle an einigen Stellen eine "sprachliche und erzählerische" Überzeichnung bescheinigen, sondern
bin viel mehr der Meinung, dass wir es hier mit einem sprachlichen und stylistischen Meisterwerk zu tun haben.
Dieses kleine Buch, das mir in einer hübschen Ausgabe aus "Die Kleine Reihe" der Büchergilde Gutenberg vorliegt, vereint alles, was ein Bestseller-Kandidat haben muss:
Eine zu Herzen gehende wahre Story mit hoher schriftstellerischer Güte!
Was will man mehr?
***
Schicksal
Die Rückkehr der Zigarrenkiste nach Baltrum
Als ein großes wichtiges Ereignis wurde am 19. März 2002 beim Heimatverein der Insel die Rückkehr „der Zigarrenkiste“ nach Baltrum gefeiert. Horst Evers persönlich, Nachfahre des Verunglückten, der die Zigarrenkiste samt Inhalt als Schicksalszeugnis im Wattenmeer der Nachwelt hinterließ, übergab sie an Ingeborg Brämer, Vorsitzende des Heimatvereins Baltrum e.V..
Tjark Ulrich Honken Evers starb am 23. Dezember 1866 im Nebel über dem Wattenmeer zwischen Langeoog und Baltrum. Im Baltrumer Kirchenbuch heißt es:
„Der Verunglückte besuchte die Navigationsschule in Timmel. In den Weihnachtsferien wollte er seine Eltern besuchen und kam am 22. Dezember in Westeraccumersiel an. Am Morgen des anderen Tages (sonntags) bestieg er mit einem Langeooger ein Boot, das sie jeden an den heimatlichen Strand setzen sollte. Zwischen sechs einhalb und sieben Uhr morgens fuhren sie ab. Ein ziemlich dicker Nebel verhinderte aber den Blick in die Ferne. Die Bootsleute ruderten zuerst nach dem Langeooger Strand, wo sie den Mann von Langeoog aussetzten. Von da wollten sie zum Baltrumer Strande zurudern. In der festen Meinung, diesen Strand erreicht zu haben, legte man an und der Verunglückte stieg aus, und die Bootsleute fuhren wieder ab. Es war aber nicht der heimatliche Strand, den der Verunglückte betreten hatte, sondern eine Sandbank auf der er in der steigenden Flut seinen Tod gefunden. Der Unglücksfall wurde am 5. Januar 1867 bekannt. Am 3. Januar ist an der Insel Wangerooge in einer Cigarrenkiste, die mit einem Taschentuch umwunden war, das Taschenbuch des Verunglückten angetrieben worden...“
Der Wortlaut des bis heute erhalten gebliebenen Textes (Ausschnitt):
„Liebe Eltern, Gebrüder und Schwestern, ich stehe hier auf einer Plat und muß ertrinken, ich bekomme euch nicht wieder zu sehen und ihr mich nicht. Gott erbarme sich über mich und tröste euch. Ich stecke dieses Buch in eine Sigarren Kiste. Gott gebe, daß Ihr die Zeilen von meiner Hand erhaltet. Ich grüße euch zum letzten Mal. Gott vergebe mir meine Sünden und nehme mich zu sich in sein Himmelreich. Amen.
An Schiffer H. E. Evers Baltrum
T U H Evers
Ich bin T. Evers von Baltrum.
Der Finder wird gebeten, dieses Buch meinen Eltern zuzuschicken an Cpt. H. E. Evers Insel Baltrum“
(Baltrumer Kirchenbuch Jg. 1866 und Gerhard Canzler, Aurich (1986): Baltrum, zitiert in Heidi Gansohr-Meinel, Jever (2001): Baltrum – Eine kleine Insel und ihre Bewohner).
Tjark Ulrich Honke Evers war gerade 21 Jahre alt, als er umkam. Man hat seinen Leichnam nie gefunden.
Die Geschichte der Familie Evers ist eng mit der Insel Baltrum verbunden. Der Vater des Verunglückten war der Schiffer Honke Eilts Evers. Dessen einzig überlebender Sohn, also der Bruder von Tjark Ulrichs Honke Evers war der Kapitän und spätere Gemeinde- und Kirchenvorsteher Eilt Honken Evers – Urgroßvater von Horst Evers, der die Zigarrenkiste nun dorthin zurückbrachte, wo sie der Ansicht des Heimatvereins Baltrum nach hingehört: nämlich nach Baltrum.
Die Kiste ist lange Zeit im Besitz der Familie Evers gewesen, war aber schon einmal auf Baltrum im Heimatmuseum ausgestellt. Die Familie ist heute in Esens beheimatet und im dortigen Heimatmuseum war das Fundstück zuvor zu sehen. In den vergangenen vier Jahren war die Zigarrenkiste an das Nordseehaus in Wilhelmshaven ausgeliehen worden. Jetzt freut sich der Heimatverein Baltrum, dieses gut erhaltene, wohl auch erschütternde und ans Herz gehende Dokument aus der Geschichte der Insel Baltrum einem interessierten Publikum in der Inselkammer im Nordseehaus präsentieren zu können.
Sabine Hinrichs
Das Original ist heute im Baltrumer Inselmuseum zu sehen |
Die Autoren:
Astrid Dehe und Achim Engstler bilden seit 2008 ein Autorenteam. Nach Projekten zum Aphorismus und zum Tagebuch-schreiben erschien 2011 ihr erstes gemeinsames Buch, der Essayband „Kafkas komische Seiten“. 2013 folgte ihr belletristisches Debut, die Novelle „Auflaufend Wasser“. Seit 2014 sind Dehe und Engstler Mitglieder des PEN-Zentrums Deutschland.
Auflaufend Wasser
Novelle von Astrid Dehe / Achim Engstler
Büchergilde Gutenberg
(Die Kleine Reihe), 103 Seiten,
Preis: 12,95 (Originalverlagspreis 16,- Euro, Verlag Steidl, Göttingen)
DNB
Der folgende Link führt zu einem sehenswerten Beitrag:
Tjark Evers - Ein Filmbeitrag des NDR
Copyright: TinSoldier
Du hast einen sehr guten und feinsinnigen Blick für literarische Kostbarkeiten. Auch isr diese Rezension sehr schön geworden. Und du bist ja ein richtiger Gutenberg - Mensch.
AntwortenLöschenDankeschön Uwe, nur den Begriff "Gutenberg - Mensch" kenne ich leider nicht...
AntwortenLöschenIch denke, Uwe meint das in Richtung "Büchergilde Gutenberg", weil Du zur Zeit ja so begeistert bist von den Ausgaben dieses Verlags... ;)
LöschenIch finde die Rezension auch wieder sehr gelungen - auch wenn das Buch selbst mich nicht unbedingt anspricht. Die Vorstellung eines solchen Erlebnisses ist derart unglaublich...
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