Sonntag, 18. April 2021

Wells, Benedict: Hard Land

Missouri, 1985: Um vor den Problemen zu Hause zu fliehen, nimmt der fünfzehnjährige Sam einen Ferienjob in einem alten Kino an. Und einen magischen Sommer lang ist alles auf den Kopf gestellt. Er findet Freunde, verliebt sich und entdeckt die Geheimnisse seiner Heimatstadt. Zum ersten Mal ist er kein unscheinbarer Außenseiter mehr. Bis etwas passiert, das ihn zwingt, erwachsen zu werden. Eine Hommage an 80’s Coming-of-Age-Filme wie The Breakfast Club und Stand By Me – die Geschichte eines Sommers, den man nie mehr vergisst. 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
  • Herausgeber : Diogenes; 3. Edition (24. Februar 2021)
  • Sprache : Deutsch
  • Gebundene Ausgabe : 352 Seiten
  • ISBN-10 : 3257071485
  • ISBN-13 : 978-3257071481
  • Originaltitel : Hard Land
 
 
 
 
Geschlagene fünf Jahre ist es her, dass ich hier im Blog Benedict Wells Roman "Vom Ende der Einsamkeit" vorgestellt habe. Dort bezeichnete ich den Autor als neuen Lieblingsschriftsteller, doch erst jetzt habe ich endlich einen weiteren Roman von ihm gelesen, seinen neuesten. Und damals wie heute ist meine Rezension gespickt mit lebensklugen Sätzen, Zitaten aus dem Roman - begleitet von dem heimlichen Wunsch, diese Bücher eines Tages erneut zu lesen. Angestoßen durch einen der Charaktere im Buch werde ich nun zwar keine Sammlung 'erster Sätze' aus Romanen anlegen, diese wohl aber zukünftig auch meinen Rezensionen hinzufügen. Der erste Eindruck zählt - und hier nahm mich tatsächlich gleich der erste Satz gefangen... Ein herzliches Dankeschön wieder einmal an den Diogenes Verlag, dem ich das Rezensionsexemplar über Whatchareadin zu verdanken habe...
 

















ZWISCHEN EUPHORIE UND MELANCHOLIE…


Quelle: Pixabay

„Entdecke die 49 Geheimnisse von Grady“ heißt es auf dem Schild einer Kleinstadt in Missouri. Sam ist fünfzehn und kennt kein einziges, und auch sonst besteht sein Leben eher aus Tiefpunkten. Bis er seinen Ferienjob in einem alten Kino anfängt. Dort trifft er nicht nur auf den schlagfertigen Cameron und den in sich gekehrten Sportler Hightower, sondern auch auf die draufgängerische und etwas ältere Kirstie, in die er sich verliebt. Doch alle drei haben gerade ihren Abschluss gemacht und werden im Herbst wegziehen. Sam bleibt also nur dieser eine Sommer mit seinen Freunden. Nur wenige Wochen, in denen er nicht nur die Geheimnisse seines Heimatorts entdeckt, sondern auch, wer er selbst ist. Und was es heißt, sich dem Leben wirklich zu stellen.


Der erste Satz: „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“ (S. 11)


Ich war sehr gespannt, wie jemand, der die 80er Jahre nicht miterlebt hat (zumindest nicht bewusst), diese Atmosphäre würde beschreiben können. Nun, Benedict Wells kann. Sehnsucht habe ihn dazu getrieben - und ein intensives Eintauchen in die Filme und Musik dieser Epoche habe ihn dabei unterstützt. Neben einer atmosphärischen Erzählung um einen heranwachsenden Jugendlichen ist der Roman gleichzeitig auch eine Hommage an die Musik sowie an berühmte Coming-of-Age-Filme der 80er Jahre wie ›The Breakfast Club‹ und ›Stand By Me‹. Zeitweise fühlte ich mich geradezu in eine Filmkulisse versetzt, was kitschig geraten könnte, es für mich aber zu keinem Zeitpunkt war.

Sam ist ein unsicherer 15Jähriger, der seit dem Umzug seines besten Freundes keine Kumpel mehr hat und sich am liebsten in seine Bücher vergräbt. Seine Mutter kämpft gegen einen Hirntumor an, und so ist auch das Familienleben überschattet, von seinem Vater fühlt sich Sam nicht verstanden, und seine ältere Schwester ist schon vor längerer Zeit ausgezogen. Als seine Eltern ihn in den Ferien zu seinen gewalttätigen Cousins schicken wollen – er brauche Gesellschaft -, beschließt Sam, stattdessen lieber einen Ferienjob anzunehmen. Und so landet er im altmodischen Kino der kleinen Stadt, und sein Leben beginnt sich zu verändern.


„… da vergaß ich die Zeit und ließ mich mitreißen, und ich fühlte mich so, wie ich mich schon mein ganzes Leben lang fühlen wollte: übermütig und wach und mittendrin und unsterblich.“ (S. 192)


Im Kino trifft sich sozusagen der Club der Außenseiter - und so erlebt Sam zum ersten Mal seit dem Weggang seines Freundes Zugehörigkeit außerhalb der Familie. Auch wenn das eine Freundschaft auf Zeit zu sein scheint, bietet sie Sam die Möglichkeit, stundenweise der Enge und der Angst in seiner Familie zu entkommen. Zwischen Euphorie und Melancholie pendeln die Ereignisse dieses Sommers, und der*die Leser*in pendelt mit ihm. Freundschaften, die erste Liebe, Mutproben, Musik und Filme, Hoffnung und Zukunftsvisionen, Ängste und Schuldgefühle, die Erforschung der 49 Geheimnisse von Grady – und der Ernst des Lebens. Eine Menge Themen für die wenigen Wochen, und doch gerät dadurch alles in einen Wandel.

‚Hard Land‘ ist nicht nur der Titel dieses Romans, sondern gleichzeitig auch der Titel eines fiktiven Gedichtbandes von Gradys einzigem (und ebenfalls fiktivem) Schriftsteller. Dieser Gedichtband zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman und wirft nicht nur erhellende Einblicke auf das Geschehen um Grady und seine Geheimnisse, sondern auch auf das Erwachsenwerden an sich. Und ebenso wie der Gedichtband sich in fünf Teile gliedert, einem Drama entsprechend, spiegelt sich das wiederum in diesem Roman…


„...und da kapierte ich, (…) dass es nicht die gleichen neunundvierzig Geheimnisse für alle gab, sondern jeder seine eigenen hatte. Es waren die Blaubeermuffins dienstags bei Mrs. Ricks ebenso wie der Mystery Club, das Dach des Kinos und der Schrei des Vogels, der wusste wann es regnete (…) Aber das beste Geheimnis war, wie sich Kirsties Haar im Fahrtwind anfühlte.“ (S. 186 f.)


Benedict Wells lässt sich Zeit mit dem Erzählen seiner Geschichte, so dass nicht nur ausreichend Raum bleibt für eine atmosphärische Schilderung des Kleinstadtlebens (phasenweise erinnerte mich das an die Romane von Kent Haruf) sowie für das Einbinden zahlreicher Filmtitel und Songs (einschließlich Soundtrack für diesen Roman), sondern auch für die Darstellung aller wichtigen Charaktere und nicht nur des Ich-Erzählers Sam. Ganz allmählich schälen sich so auch Sams Eltern und seine Schwester sowie seine neuen Freunde Cameron, Hightower und Kirstie aus den Seiten, was einen Einblick auch in ihren Hintergrund, ihre Gedanken- und Gefühlswelt verschafft. Hauptperson jedoch bleib Sam, der ein Jahr nach diesem einen Sommer die Geschehnisse zu Papier bringt.

Die Erzählung lässt sich flüssig lesen und nimmt den*die Leser*in nicht nur mit auf eine Zeitreise in die 80er Jahre – und womöglich zurück in die eigene Jugend -, sondern auch auf eine emotionale Achterbahnfahrt. Die Wortneuschöpfung ‚euphancholisch‘, die Kirstie in diesem Roman prägt, trifft den Charakter des Romans sehr gut. Gleichzeitig lachen und weinen? Bitte sehr. Dabei gerät die Erzählung glücklicherweise nicht ins Kitschige, sondern weiß an der ein oder anderen Stelle doch auch zu überraschen und ist nebenbei gespickt mit lebensklugen Sätzen. Das Ende mag polarisieren und nicht jedem gefallen, aber für mich passt es zu dem Motto: ‚Hommage an die Coming-of-Age-Filme der 80er Jahre‘, und insofern war es für mich stimmig…


„Ich dachte nur noch von Tag zu Tag, und allmählich begriff ich: Trauer ist kein Sprint, Trauer ist ein Marathon. Und auf dieser Strecke gab es Stellen, an denen es besser lief, und andere, an denen ich kaum Luft bekam.“ (S. 274)


Eine warmherzige, humorvolle und gleichzeitig berührende Geschichte voller 80er-Jahre-Flair. Über den Schmerz des Erwachsenwerdens und ein Lebensgefühl, das man nur einmal erlebt. Atmosphärisch, euphancholisch, glaubhaft, voller Sehnsüchte. Lesen – am besten nicht nur einmal!



© Parden






















Benedict Wells wurde 1984 in München geboren, zog nach dem Abitur nach Berlin und entschied sich gegen ein Studium, um zu schreiben. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit diversen Nebenjobs. Sein vierter Roman, ›Vom Ende der Einsamkeit‹, stand mehr als anderthalb Jahre auf der Bestsellerliste, er wurde u.a. mit dem European Union Prize for Literature (EUPL) 2016 ausgezeichnet und bislang in 37 Sprachen veröffentlicht. Nach Jahren in Barcelona lebt Benedict Wells in Zürich.


 
 

1 Kommentar:

  1. Zeit müsste ich haben. Obwohl ich welche habe. Und jetzt gerade habe ich noch mehr Zeit. Zumindest 11 Tage. Und das ganz ohne Urlaub. Qua Amt eben. Aber der SUB...

    Meine Erinnerungen an die Achtziger sind eher in einen Korridor eingezwängt. (Familie ausgenommen) Trotzdem gibt es zum Glück ein paar Freunde.

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