Manchmal kann die Idylle auch die Hölle sein. Wie das Dorf "Unterleuten" irgendwo in Brandenburg. Wer nur einen flüchtigen Blick auf das Dorf wirft, ist bezaubert von den altertümlichen Namen der Nachbargemeinden, von den schrulligen Originalen, die den Ort nach der Wende prägen, von der unberührten Natur mit den seltenen Vogelarten, von den kleinen Häusern, die sich Stadtflüchtlinge aus Berlin gerne kaufen, um sich den Traum von einem unschuldigen und unverdorbenen Leben außerhalb der Hauptstadthektik zu erfüllen. Doch als eine Investmentfirma einen Windpark in unmittelbarer Nähe der Ortschaft errichten will, brechen Streitigkeiten wieder auf, die lange Zeit unterdrückt wurden. Denn da ist nicht nur der Gegensatz zwischen den neu zugezogenen Berliner Aussteigern, die mit großstädtischer Selbstgerechtigkeit und Arroganz und wenig Sensibilität in sämtliche Fettnäpfchen der Provinz treten. Da ist auch der nach wie vor untergründig schwelende Konflikt zwischen Wendegewinnern und Wendeverlierern. Kein Wunder, dass im Dorf schon bald die Hölle los ist…
(Klappentext Luchterhand Literaturverlag)
- Gebundene Ausgabe: 640 Seiten
- Verlag: Luchterhand Literaturverlag (8. März 2016)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3630874878
- ISBN-13: 978-3630874876
DORFFUNK...
Unterleuten - ein kleines Dorf in Brandenburg, unweit der Hauptstadt, verströmt das träumerische Flair ländlicher Idylle. Hier scheint die Welt noch in Ordnung, weshalb sich zu den alteingesessenen Bewohnern, die schon die DDR-Zeiten überstanden haben, auch Neuzugezogene gesellt haben, die dem Rummel der Großstadt entfliehen wollen. Ausgedehnte Flächen von Feldern und Wiesen sowie große Flecken Kiefernwälder haben auch den Naturschutz auf den Plan gerufen, denn die selten gewordenen Kampfläufer, 'fleckige Vögel von Größe und Statur einer Mülltüte', haben dort eine Heimstatt gefunden, was es zu erhalten gilt.
Dass das Gleichgewicht im Dorf ein empfindliches ist, stellt sich rasch heraus, als eine Investmentfirma dort einen Windpark errichten will. Alte Konflikte brechen auf, neue gesellen sich hinzu, vom Widerstand gegen die Windräder bis hin zu heimlicher Vorteilnahme fiinden sich hier alle Motive. Und unmerklich wandelt sich die dörfliche Idylle in eine Hölle...
"Wenn ich in Unterleuten eins gelernt habe, dann dass jeder Mensch ein eigenes Universum bewohnt, in dem er von morgens bis abends recht hat."
Da es hier um die Darstellung der Dynamik in der Dorfgemeinschaft Unterleutens geht, hat sich Juli Zeh nicht mit einem einzelnen Hauptcharakter begnügt. Derer gibt es hier viele, und jeder von ihnen wird im ersten Drittel des Buches ausgiebig vorgestellt, so dass sich der Leser tatsächlich ein Bild der verschiedenen Personen machen kann. Die Haltung der Dorfbewohner untereinander im Allgemeinen und der einzelnen Personen im Besonderen wird so plausibel und nachvollziehbar, und bei jedem Perspektivwechsel kann man das Empfindes des einzelnen nachvollziehen, mit seiner persönlichen Sichtweise im Recht zu sein. Juli Zeh selbst vergleicht dies mit einem Kaleidoskop: mit jedem Dreh ergibt sich ein ganz anderes Bild.
Dass die unterschiedlichen Sichtweisen und das Verhältnis der einzelnen Bewohner zueinander zwangsläufig zu Konflikten führen müssen, versteht man als Leser nach der eingehenden und detaillierten Einführung der Personen - zumal hier wenig miteinander geredet wird, sondern vielmehr übereinander. 'Dorffunk' nennt Juli Zeh dieses Phänomen, und sie gibt dem Funktionieren der Gerüchteküche hier einen großen Raum. Gerüchte, Legenden, Verleumdungen bilden regelrecht die Grundlage für den neuesten Konflikt und beeinflussen die Handlungen und Entscheidungen der Menschen - und so viel sei hier vorweggenommen: danach ist nichts mehr, wie es vorher war.
"Wir wollen alle das Beste für Unterleuten. Jeder auf seine Weise."
Auf 640 Seiten lässt sich Juli Zeh viel Zeit beim Erzählen. Gerade im zweiten Drittel des Buches hatte ich tatsächlich das Gefühl, eine Straffung hätte der Erzählung gut getan. Die erzählten Episoden zogen sich für mein Empfinden teilweise arg in die Länge, die Dynamik zog noch nicht an, und so hatte ich in dieser Phase nach jeweils einigen Seiten bereits das Gefühl, das Buch erst einmal wieder zur Seite legen zu wollen. Dabei erweist sich die Autorin als eine genaue Beobachterin, und sie seziert nachgerade minutiös die Motive der einzelnen Personen heraus: altes und neues Unrecht, Untreue, Eifersucht, verpasstes Glück - oder aber Träume vom zukünftigen Glück. Das letzte Drittel von 'Unterleuten' gestaltete sich dann glücklicherweise zunehmend spannend, da sich die Geschehnisse hier zuspitzen. Einige Überraschungen ergeben noch einmal erstaunliche Wendungen, und am Ende erwartet den Leser noch ein Knalleffekt. Dieser hat mir persönlich ein besonderes Vergnügen bereitet.
Ein eher distanzierter, fast analytischer Schreibstil, der dennoch flüssig zu lesen ist, charakterisiert für mich hier die Erzählweise Juli Zehs. Obschon die Charaktere dem Leser nahezu plakativ vor Augen geführt werden, hatte ich zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, hier Sympathien oder Antipathien vergeben zu müssen oder zu wollen. Dazu trug die eher distanzierte Betrachtungsweise der Autorin sicherlich bei.
"Die Unterleutner lösen Probleme auf ihre Weise. Sie lösen sie unter sich."
Ein letztlich faszinierender Roman über ein zutiefst menschliches Phänomen: niemand will etwas Böses, und trotzdem geschieht es. Und daher trotz der empfundenen Langatmigkeit in einigen Passagen durchaus lesenswert und unterhaltsam...
© Parden
Unterleuten gibt es zwar nicht wirklich - aber Juli Zeh hat es so anschaulich beschrieben, dass man es nahezu vor sich sieht. Und so gibt es auch tatsächlich eine eigene Website des Dorfes - Flurkarte und die Vorstellung der einzelnen Dorfbewohner inbegriffen, die dort teilweise sogar mit ihrem Facebook-Account verlinkt sind...
Auch die ortsansässige Gastronomie, der Märkische Landmann in Unterleuten, hat eine eigene Seite im Web erhalten - einschließlich der aktuellen Speisekarte.
Und selbst das Buch, auf das sich eine Person in dem Roman immer wieder bezieht: 'Dein Erfolg' von Manfred Gortz, ist nach 'Unterleuten' ebenfalls erschienen und soll Gerüchten zufolge von Juli Zeh selbst verfasst worden sein. Eine rundherum überzeugende Angelegenheit also.
Der Luchterhand Literaturverlag schreibt über die Autorin:
Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, Jurastudium in Passau und Leipzig, Studium des Europa- und Völkerrechts, Promotion. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Schon ihr Debütroman „Adler und Engel” (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Rauriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003), dem Ernst-Toller-Preis (2003), dem Carl-Amery-Literaturpreis (2009), dem Thomas-Mann-Preis (2013) und dem Hildegard-von-Bingen-Preis (2015).
► übernommen vom Luchterhand Literaturverlag
Diese "Art" von Merchandising ist verblüffend.
AntwortenLöschenIn der Tat - für mich das Schaffen einer täuschend echten Realität. Sehr konsequent.
LöschenTolke Rezension, lese gerne Zeh, aber sie ist sperrig. Buch liegt schon auf meinem Stapel ;)
AntwortenLöschenLiebe Grüße, Tina
Sperrig trifft es irgendwie, ja. Trotz allem gefällt mir ihr Schreibstil. Ich bin gespannt auf Deine Meinung, Tina!
LöschenAlso ich schaue gerade den ZDF-Dreiteiler. Und ich habe keine Ahnung, ob ich das buch lesen will.
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