Samstag, 3. Dezember 2016

Eco, Umberto: Der Friedhof in Prag


Er ist gestorben. Bereits im Februar. Der große Erzähler, der uns das Mittelalter mit einer Rose in das zwanzigste Jahrhundert brachte, so ganz anders als Walter Scott, mit Mönchen statt mit Rittern, mit Mord, statt mit ritterlichem Kampf. Vielleicht ist der riesige Stapel an Mittelalterromanen, die seither geschrieben wurde, ja mit Der Name der Rose verbunden. Ja, das Mittelalter hatte es ihm angetan, und so erzählte er, unglaublich fabulierend von Baudolino, dem Bauernburschen, der da behauptete, mit Kaiser Rotbart auf dem Kreuzzug gewesen zu sein. Eine rechte Lügengeschichte...



Eine sehr weitreichende Lügengeschichte ist auch die von den Protokollen der Weisen von Zion, geboren aus dem Hass auf ein mehrfach vertriebenes Volk, welches in der Diaspora überlebte und auch heute noch der Behauptung ausgesetzt wird, teil einer großen Weltverschwörung zu sein.

"Streng gehütete Geheimnisse des französischen Militärs sind an das Deutsche Reich verraten worden, und die Geheimdienste glauben sofort zu wissen: Das kann nur der jüdische Hauptmann Dryfuss gewesen sein. Zur gleichen Zeit ziehen die Protokolle der Weisen von Zion immer weitere Kreise, jenes gefälschte 'Dokument' für die 'jüdische Weltverschwörung', das fatale Folgen haben wird." (Schutzumschlag)


Seite 13
Es ist der leidenschaftliche Antisemit Simone Simonini ein Italiener aus Paris, der da hin und her laviert zwischen Freimaurern, Bonapartisten, Spionen, Jesuiten und vielerlei Verschwörern. Den Antisemitismus hat er von seinem Großvater geerbt. Seine sprichwörtlichen Leichen sind tatsächliche, die er in der Kanalisation in der Nähe der Seine lagert. Seine Leidenschaft und Profession ist die Fälscherei, die er meisterhaft beherrscht. Und so werden Geheimdienste und "Terroristen" auf ihn aufmerksam, die er beide bedienen wird, mit Protokollen, angeblich entstanden auf einem jüdischen Friedhof in Prag.



Auf diesem Friedhof, dessen ältester Grabstein aus dem 15. Jahrhundert stammt, ist auch der berühmte Rabbi Löw begraben, den den Prager Golem erschaffen haben soll, eine Figur, die es ebenfalls zu literarischem Ruhm brachte. Bezeichnend ist auch, dass die SS neben dem Friedhof ein "Museum einer untergegangenen Rasse" errichtete, ein Museum, welches heute als Jüdisches Museum immer noch besteht. Das ist natürlich ein Ort, der für Verschwörungsromane hervorragend herhalten kann. (Wenn ihr mal wieder in Prag seid...)

Bilder aus wikipedia: Alter Jüdischer Friedhof in Prag

Und so dringt auch Ecos Geschichte tief in die Vergangenheit und erzählt auch von unserer Gegenwart, trotz des Umstandes, dass die Geschichte im 19. Jahrhundert angelegt ist. Eco umreißt die Geschichte des Jahrhunderts mitreißend von der französischen Revolution und die italienische Geschichte, von Garibaldi über die Pariser Commune bis zu jenem Dreyfuss, dessen Urteil ein vor allem antijüdisches, rassistisches ist und im Roman auf einem von Simonini gefälschen Dokuments beruht.

Ein besonderes Merkmal ist, dass Simonini einmal selber erzählt und sich darin mit einem weiteren Erzähler abwechselt, dies übernehmen Gerd Heidenreich und Jens Wawrczeck im Hörbuch beim Hörverlag. So ändert sich der Blickwinkel und gibt der Handlung eine Art Authentizität "zweier" Chronisten

Schon einmal hat sich Umberto Eco, der am 16. Februar 2016 im Alter von 84 Jahren verstarb, den diversen Verschwörungen gewidmet: im Roman Das Foucaultsche Pendel. Ein Buch, welches der Blogger zu seiner Schande gestehen muss, bisher nicht wirklich von ihm gelesen wurde. Kaum stand der "Friedhof" im Regal, passierte dann erst einmal ähnliches. Schwer rein zu kommen in den doch eigentlich so geliebten Stil des Professors Umberto. Vor einigen Wochen schaffte es dann das Hörbuch auf einigen regelmäßigen Autofahrten, dass die Geschichte bewältigt wurde. Seitdem wird das Buch in Etappen gelesen und auch das "Pendel" wird irgendwann einmal dran glauben müssen.

Seite 73
Eco ist ein unglaublicher Erzähler gewesen, sein Übersetzer, hier ist es Burkhart Kroeber, muss schon nicht nur meisterlich italienisch beherrschen, er muss auch ebenso fabulieren können. Der Wortschatz jedenfalls ist immens. Die Verwirrungen des Lesers auch. Doch ebenso sind die Illustrationen im Buch bezeichnend. Sie erinnern an Bilder aus Dickens-Romanen. So kommt dem Leser das Buch wie ein zeitgenössischer Roman vor. Ebenso erinnern die Bilder an bekannte Juden-Klischees: "...schon höre ich auf der hölzernen Treppe, die Schritte des schrecklichen Alten, der mich holen kommt, um mich in sein höllisches Loch zu zerren und mir ungesäuertes Brot in den Mund zu stopfen, in dessen Teig das Blut von Märtyrerkindern geknetet ist..." (Seite 71)



Seite 495
Eco hatte auch einen zuweilen überschäumenden Witz, so gibt er dem Leser am Ende des Romans "unnötige Hintergrundinformationen" folgender Art: "Der ERZÄHLER ist sich bewusst, dass der LESER in der reichlich chaotischen Handlung der hier reproduzierten Tagebücher (mit vielen Vor- und Rückblenden, wie man sie aus dem Kino kennt) den Überblick über die lineare Entwicklung der Fakten von Simoninis Geburt bis zu seinem letzten Eintrag verlieren könnte. Das liegt an der unvermeidlichen Differenz zwischen story und plot, wie man heute sagt, oder schlimmer noch, wie die russischen Formalisten (alles Juden) sagten, zwischen fabula und sjuzet oder Intrige im Sinne von Handlungsverwicklung." (Seite 513)



Aha. Da haben wir den Grund für unsere Verwirrung. Und in dem Wissen, dass es sowieso verwirrend ist und wir als Leser dem nicht entfliehen können, wagen wir uns an nun auch an den gedruckten "Friedhof" als auch an das "Pendel", geduldig lesend, bis am Schluss sich das Eco´sche Rätsel offenbart.

►  DNB / Carl Hanser Verlag / München 2011 / ISBN: 978-3-446-23736-0 / 519 Seiten
►  Umberto Eco: Autorenseite

© KaratelaDD




2 Kommentare:

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