Freitag, 20. Oktober 2017

Salzmann, Sasha Marianna: Außer sich


Sie sind zu zweit, von Anfang an, die Zwillinge Alissa und Anton. In der kleinen Zweizimmerwohnung im Moskau der postsowjetischen Jahre verkrallen sie sich in die Locken des anderen, wenn die Eltern aufeinander losgehen. Später, in der westdeutschen Provinz, streunen sie durch die Flure des Asylheims, stehlen Zigaretten aus den Zimmern fremder Familien und riechen an deren Parfumflaschen. Und noch später, als Alissa schon ihr Mathematikstudium in Berlin geschmissen hat, weil es sie vom Boxtraining abhält, verschwindet Anton spurlos. Irgendwann kommt eine Postkarte aus Istanbul – ohne Text, ohne Absender. In der flirrenden, zerrissenen Stadt am Bosporus und in der eigenen Familiengeschichte macht sich Alissa auf die Suche – nach dem verschollenen Bruder, aber vor allem nach einem Gefühl von Zugehörigkeit jenseits von Vaterland, Muttersprache oder Geschlecht.

Wer sagt dir, wer du bist? Davon und von der unstillbaren Sehnsucht nach dem Leben selbst und seiner herausfordernden Grenzenlosigkeit erzählt Sasha Marianna Salzmann in ihrem Debütroman Außer sich. Intensiv, kompromisslos und im besten Sinn politisch.

(Klappentext Suhrkamp Verlag)


  • Gebundene Ausgabe: 366 Seiten
  • Verlag: Suhrkamp Verlag; Auflage: 2 (11. September 2017)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3518427628
  • ISBN-13: 978-3518427620











SCHERBENLEBEN...




 Ich habe diesen Roman, der mit fünf weiteren Büchern auf der diesjährigen Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, nun vor einigen Tagen beendet und ganz gegen meine Gewohnheit nicht sofort eine Rezension verfasst. Der Klappentext lässt nicht einmal ansatzweise erahnen, worum es in diesem Buch überhaupt geht. Gerade das aber lässt sich hier auch schlecht auf den Punkt bringen.

Eine autobiografische Fiktion sei ihr Roman, verrät
Sasha Marianna Salzmann zu ihrem Debüt. Es geht hier um vieles, wobei die Suche Alis nach ihrem Zwillingsbruder Anton tatsächlich den kleinsten Raum einnimmt. Es geht um Geschwisterliebe, Geschlechterumwandlung als radikale Selbstbestimmung, um sowjetische Familiengeschichten, Migration in jeder Hinsicht.


"Die ganze Zeit hat sie so Zeug vor sich hin gesprochen, sie hätte uns nicht hierherbringen sollen, alles selbstverschuldet, das habe sie jetzt davon. Dann sagte sie, Migration tötet, es klang wie eine Warnung auf einer Zigarettenschachtel: Migration fügt Ihnen und den Menschen in ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu." (S. 297)


Die Autorin selbst ist in Moskau aufgewachsen, mit zehn Jahren dann mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen als jüdischer Kontingentflüchting. Auch hat
Sasha Marianna Salzmann länger in Istanbul gelebt, wo mit Hilfe eines Stipendiums dieser Roman entstand. Die Eckdaten ihrer Biografie spiegeln sich in dem Hauptcharakter Ali. Insofern war beim Lesen stets die Frage präsent, wie viel von der Autorin sonst noch in Ali und ihre Geschichte eingeflossen ist. Istanbul beispielsweise nennt Sasha Marianna Salzmann selbst einen 'Sehnsuchtsort', "...weil ich in Istanbul in mir war, nicht außer mir, das passiert mir sehr selten."


"Sie war sich nicht sicher, wem sie schon welche Geschichte erzählt hatte, sie war sich ihrer eigenen Geschichte nicht mehr sicher, was sie eigentlich tat in einer Stadt außerhalb der Zeit, suchte sie wirklich ihren Bruder oder wollte sie einfach nur verschwinden. Sie zitterte." (S. 123)

Ali wirkt wie getrieben. Sie ist auf der Suche. Doch weniger tatsächlich nach ihrem Zwillingsbruder, wie der Leser bald bemerkt. Vielmehr nach - ja, nach was? Vielleicht am ehesten nach sich selbst, nach ihrem Platz in der Welt, nach ihren Wurzeln. Ali ist immerzu unterwegs, nirgends wirklich zu Hause, nichts steht fest, selbst und gerade das Ich scheint zu bröckeln. Istanbul ist schließlich die Stadt, in der Ali erstmals einen Ort erfährt, der sich annähernd wie Zuhause anfühlt. Aber auch dort treibt eine innere Unruhe sie immer weiter, an immer neue Orte.


"Ich bin nicht wie du, ich bin kein Tier, das vor sich hin grast und alles hinnimmt, wie es kommt. Ich will nichts von diesem Leben, in dem es alles gibt, aber niemand etwas will. Ich will nichts von diesem Schnickschnack, den ihr für die Erfüllung eures Lebens haltet, weil ihr sonst nichts habt, woran ihr glauben könnt." (S. 118)


Doch Ali sucht nicht nur im Hier und Jetzt. Sie sammelt auch Bruchstücke der Vergangenheit auf. Ausführlich schildert die Autorin hier die Geschichten der vorherigen Generationen, die alle die Themen Migration, Verlust von Lebensträumen, Zugehörigkeit, Alkohol, Gewalt und grenzenlose innere Einsamkeit vereinen. Aufbrüche, Umzüge, Zerwürfnisse zwischen Moskau, Berlin und Istanbul, Haltlosigkeit und Bodenlosigkeit prägen die Biografien, brüchige Wurzeln. Ali betrachtet diese Scherben, kann sie jedoch nicht zu einem Ganzen fügen, aus dem losen Flickenteppich der Erinnerungen entsteht keine Wahrheit.


"Sie sprach in mehreren Sprachen gleichzeitig, mischte sie je nach Farbe und Geschmack der Erinnerung zu Sätzen zusammen, die etwas anderes erzählten als ihren Inhalt, es klang, als wäre ihre Sprache ein amorphes Gemisch aus all dem, was sie war und was niemals nur in einer Version der Geschichte, in einer Sprache Platz gefunden hätte." (S. 258)


Die Gestaltung des Romans entspricht der Getriebenheit Alis. Hier wird alles andere als linear erzählt, und jeder Figur lässt die Autorin dieselbe Sorgfalt zukommen, so dass Alis Suche oftmals aus dem Fokus gerät. Der Ausgestaltung der Szenen ist die Nähe Salzmanns zum Theater anzumerken; sie sind geprägt durch eine dramaturgische Kraft sowie durch einen ungeheuren Reichtum der Bilder. Eine kraftvolle Sprache, getragen von Bildern und Dialogen, zieht sich durch den Roman.


"Mustafa schaute sie an. Er hatte sehr müde Augen, eine sehr müde Haut, sie bildete tränenförmige Ausstülpungen, die langsam von den Wangenknochen nach unten zogen, in Zeitlupe tropfte seine Haut von seinem Gesicht. Große, runde Sogpupillen, die ohne jeden Ausdruck auf Ali ruhten." (S . 32)


All dies zählt durchaus zu den positiven Seiten des Buches, und es ist für mich nachvollziehbar, dass dieser Debüt-Roman auf der Shorlist des Deutschen Buchpreises gelandet ist. Der Roman beschäftigt den Leser auch über die eigentliche Lektüre hinaus, was ich ebenfalls zu den Stärken zählen würde. Aber - und hier kommt ein großes Aber - da ist noch der Punkt, wie es mir persönlich beim Lesen erging.
Für mich war diese Lektüre ein großer, persönlicher Kampf. Seite um Seite musste ich diesem Roman abringen, nach ein paar Abschnitten hatte ich dann wieder genug und legte das Buch wieder weg. Selten habe ich mich einmal so schwer getan mit einem Roman. Das lag zum einen an den sperrigen Charakteren, die einfach keine Nähe zuließen, zum anderen aber eben auch an der Sprunghaftigkeit der Erzählung, an dem Nicht-Linearen, der Düsternis, der sich durchziehenden Melancholie. Ich hatte immer das Gefühl, Menschen beim Vor-Sich-Hin-Vegetieren zuzuschauen - hinter jeder Kulisse kam Abfall, Niederträchtigkeit und Einsamkeit zum Vorschein.


"Ich hätte ihn nicht geheiratet, wenn ich nicht schwanger geworden wäre. Ich hätte ihn verlassen gleich nach dem ersten Streit, gleich nach dem ersten Schlag, als ich sein aufgedunsenes, rotes Gesicht zum ersten Mal sah. Versteh mich nicht falsch, ich bereue es nicht, das heißt, ich bereue es nicht, euch gekriegt zu haben, aber Kinder muss man schnell kriegen, bevor man Zeit hat, sich kennenzulernen und dann enttäuscht zu sein, sonst würde niemand Kinder kriegen... (S. 258)


Auch wenn zu spüren ist, mit wieviel Engagement und Herzblut die Autorin ihr Erstlingswerk geschrieben hat, wie viel Persönliches auch wohl dort eingeflossen ist, kann ich  in der Summe einfach nicht mehr Sterne vergeben, was mir sehr leid tut. Aber neben der Faszination hinsichtlich der Gestaltung des Romans, seiner Bildhaftigkeit und der existentiellen Fragen, die hier gestellt werden, gibt es eben das persönliche Gefühl eines Zuviels und einer phasenweise Unerträglichkeit. Niemand bedauert das mehr als ich.

Dennoch fand ich es spannend, diesen Roman im Rahmen einer Leserunde zu lesen und dabei zu erkennen, wie unterschiedlich er aufgenommen wurde. In jedem Fall war die Lektüre eine bereichernde Erfahrung.

© Parden 


















Der Suhrkamp Verlag schreibt über die Autorin:

Sasha Marianna Salzmann studierte Literatur/Theater/Medien an der Universität Hildesheim sowie Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Sie ist Theaterautorin, Essayistin und Dramaturgin und war Mitbegründerin des Kultur- und Gesellschaftsmagazins freitext. Seit der Spielzeit 2013/2014 ist sie Hausautorin am Maxim Gorki Theater Berlin und war dort bis 2015 Künstlerische Leiterin des Studio Я. Ihre Theaterstücke werden international aufgeführt und sind mehrfach ausgezeichnet. Außer sich ist ihr Debütroman.

übernommen vom Suhrkamp Verlag

4 Kommentare:

  1. Huhu Anne,

    eine sehr schöne Rezension, die ich gut nachvollziehen kann. Auch ich habe dem Buch, nach innerem Kampf und viel Reflektion, drei Sterne gegeben.

    Hier mal nur das abschließende Fazit meiner Rezension:

    "Außer sich" ist vieles: eine epische Familiengeschichte, ein rasant erzählter, mutiger Roman mit einer Unzahl von Themen: Migration, Integration, Fremdenhass, Genderidentität, Inzest und immer wieder Selbstfindung, Selbstverlust... Es passiert unglaublich viel, und es fühlt sich an, als würde alles gleichzeitig passieren, der Schreibstil ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Wucht. Einfach ist das nicht – kein Buch zum nebenher Konsumieren.

    Für mich scheiterte es – oder ich? – jedoch an der Umsetzung, die Drehscheibe drehte sich zu schnell. Ich spürte, dass sich hinter dem, was ich las, etwas Großes verbarg, bekam es im Schwindel der Erzählung jedoch nicht zu fassen.
    Was meine abschließende Bewertung betrifft, bin ich so zwiegespalten wie die Hauptfigur des Buches bezüglich ihrer Identität: letztendlich bleibt es ein Buch, dessen Ehrgeiz, Mut und sprachliche Innovation ich anerkenne, das mich jedoch dennoch nicht vollends überzeugen konnte.

    LG,
    Mikka

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    1. Hallo Mikka,

      vielen Dank für Deinen netten und ausführlichen Kommentar hier! Ja, zwiegespalten - das Wort trifft es genau. Man erkennt einerseits die Größe des Romans, ist aber andererseits damit überfordert.

      Wir lesen uns!

      LG Anne

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  2. Ich weiß nicht warum, aber diese Rezension erinnert mich an DAS GEHEIMNIS DER PRIMZAHLEN. Grund dafür sind wohl die "sperrigen Charaktere". Allerdings könnte ich mir vorstellen den Roman in einem Ritt zu lesen. Da du ihn aber nun, wie immer, hervorragend vorgestellt hast, bleibt er wohl auf dem nie angefassten virtuellen Bücherstapel liegen.

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    1. Also nein, 'Das Geheimnis der Primzahlen' ist ganz anders, glaube es mir... Mich hat es eher an 'Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot' erinnert, aber zum Glück hatte 'Außer sich' doch mehr Positives als das genannte Buch... ;)

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