Samstag, 22. April 2017

Felten, Michael: Die Inklusionsfalle






So geht es nicht! Michael Felten bezieht eindeutig Position. Er ist kein Gegner schulischer Inklusion. Aber er wagt auszusprechen, was viele ahnen und nicht wenige bitter erleben: So, wie es läuft, läuft es falsch. Felten beschreibt die Wirklichkeit einer ebenso übereilten wie unterfinanzierten Inklusionseuphorie. Und er deckt Hintergründe auf: Missverständnisse, Fehldeutungen – vor allem aber eine Fülle kindeswohlferner Motive. Gleichzeitig macht er deutlich: Inklusion ist eine Chance, wenn man bereit ist, ehrlich zu sein.

(Klappentext Gütersloher Verlagshaus)


  • Gebundene Ausgabe: 176 Seiten
  • Verlag: Gütersloher Verlagshaus (27. Februar 2017)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3579086723
  • ISBN-13: 978-3579086729








Ich danke dem Gütersloher Verlagshaus ganz herzlich, dieses Buch als Rezensionsexemplar lesen zu dürfen!
Gütersloher Verlagshaus






ENDLICH EINMAL KRITISCHE TÖNE!



Eine weithin unterschätzte Entwicklung vollzieht sich gegenwärtig. Unter dem hehren Banner der Inklusion werden viele Schulen derzeit umgekrempelt. Immer öfter werden normal oder hoch begabte Kinder zusammen mit leicht oder auch schwer behinderten in einer Klasse unterrichtet, ohne dass die dafür nötigen Ressourcen und Kompetenzen vorhanden wären und ohne dass der Sinn dieser Maßnahme grundsätzlich erwiesen wäre.

Dieses Buch spricht die Probleme der derzeitigen Inklusionsentwicklung offen an: die Unterfinanzierung, die fehlenden Qualifikationen sowie die Irrtümer und Grenzen des Konzepts Gemeinsames Lernen. Es gibt einen Überblick über Praxiserfahrungen und Forschungsbefunde, die in der Inklusionsdebatte bisher in nicht genügender Weise wahrgenommen wurden. Und es skizziert die Maxime, nach der wir den schulischen Umgang mit Behinderung für alle Beteiligten gestalten sollten: 'So viel hochqualitative Integration wie sinnvoll und möglich - anspruchsvoller getrennter Unterricht überall da, wo nötig!'


"Selbst Befürworter der Inklusion merken anscheinend immer deutlicher, dass nicht nur auf ihrem Rücken, sondern auch durch ihr Mitwirken eine Art Menschenversuch stattfindet, der prinzipiell fragwürdig und darüber hinaus unzureichend ausgestattet ist." (S. 33)


Inklusion mit der Brechstange - das ist der Eindruck, den die Schulpolitik der letzten Jahre v.a. in NRW hinterlässt. Ob nun aus ideologischen Gründen oder aufgrund einer Sparstrumpf-Maxime: Förderschulen sollen flächendeckend geschlossen und alle Kinder möglichst nur noch in Regelschulen beschult werden  - ob die Bedingungen dafür nun gegeben sind oder nicht. Wer sich gegen die radikalen Inklusionsbestrebungen ausspricht, gerät rasch in die Ecke desjenigen, der sich auf Veränderungen nicht gut einlassen kann oder, schlimmer noch, mit der These vom 'unwerten Leben' zu sympathisieren.

Doch wodurch ist überhaupt die seit nunmehr etlichen Jahren zunehmende Inklusionsentwicklung angestoßen worden? Ursache ist die UN-Behindertenrechtskonvention von 2008, die sich mit den Themen Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung befasst. U.a. soll dadurch das Recht behinderter Menschen auf Bildung verbindlich gesichert werden. Allerdings ist es einem Missverständnis durch einen Übersetzungsfehler zu verdanken, dass das Bildungssystem in Deutschland - und allen voran in NRW - derart revolutioniert wurde.


"Die Verabsolutierung des Inklusionsprinzips durch den Bundestag wurde dadurch mögich, dass der englische Terminus 'general education system' fälschlicherweise mit dem deutschen Begriff der 'allgemeinen Schulen' (im Unterschied zu den Förderschulen) gleichgesetzt wurde. 'General education system' entspricht aber eindeutig dem, was wir als 'allgemeinbildendes Schulsystem' (im Unterschied zu berufsbildenden Schulen) verstehen, und zu diesem gehören nach deutschem Verständnis eindeutig auch die Förderschulen." (S. 64)


Michael Felten, der selbst seit 35 Jahren als Gymnasiallehrer arbeitet, geht auf dieses umstrittene Thema nicht polemisch ein, sondern lässt Fakten für sich sprechen. Langzeitbeobachtungen, einzelne Beispiele aus der Praxis, gesammelte Klagelisten von Lehrern bei den Personalräten, Stimmen aus Fachgruppen und Verbänden, kritische Stimmen in bundesdeutschen Leitmedien, veränderte und unzureichende Ausbildungsinhalte sowohl bei Lehrern als auch bei Sonderpädagogen - eine beeindruckende Sammlung negativer Aspekte der radikalen Inklusion präsentiert der Autor hier und zeigt damit auf, wie bedrohlich die Lage in der Bildungspolitik bereits ist.

Jeder, der Kinder hat, kann nachvollziehen, was in Eltern vorgeht, deren Kind in ihrer Entwicklung beeinträchtigt oder gefährdt ist. Zufriedenheit, ein selbständiges und auskömmliches Leben mit einem vernünftigen Beruf - das wünschen sich Eltern doch für ihr Kind. Die Möglichkeit der Inklusion beinhaltet für Eltern auch ein Versprechen und damit eine ungeheure Verlockung. Der Makel des 'Nichtnormalen' veschwindet, der beruflichen und sozialen Zukunft des Kindes scheint nichts mehr im Wege zu stehen, die Stigmatisierung durch den Besuch einer Förderschule bleibt aus. Doch die Praxis an den Schulen holt Eltern wie Schüler rasch ein.


"Verhaltensauffällige Schüler (ES) verteilt man möglichst flächendeckend, um die Problemquote an den Regelschulen möglichst gering zu halten. Im Gegenzug erhält der einzelne Problemschüler aber jetzt kaum sonderpädagogische Betreuung, denn Doppelbesetzung gibt es nur wenige Stunden pro Woche, die Regellehrer sind entsprechend chronisch überfordert." (S. 70)


Der Blick über den Tellerrand - also in die Inklusionspolitik anderer Länder - zeigt auf, dass überall dort, wo die Ressourcen, die finanziellen, fachlichen und räumlichen Bedingungen nicht gegeben sind, Inklusion nur auf dem Papier existiert und mit 'Behindertenfreundlichkeit' wenig zu tun hat. Dort, wo die Bedingungen besser sind, läuft die Inklusion jedoch auch nicht immer reibungslos - so gibt es seit der PISA-Studie beispielsweise in nordischen Ländern eine zunehmende Leistungsorientierung und Privatisierung im Schulischen, d.h. leistungsorientierte Kinder finanzstarker Eltern besuchen immer häufiger auch Privatschulen (ohne Inklusion).

Dabei spricht sich Felten durchaus grundsätzlich für alle Bemühungen aus, die behinderten Kindern bessere Entwicklungs- und Bildungschancen verschaffen wollen. Die konkrete Umsetzung und Ausgestaltung muss jedoch ALLEN Kindern zugute kommen - weder für Förderkinder noch für Regelkinder düfen inklusionsbezogene Entscheidungen zu unangemessenen Belastungen führen. Das Wohl des Kindes muss im Vordergrund stehen - und besondere Maßnahmen, die zur Beschleunigung oder Herbeiführung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen erforderlich sind, gelten nicht als Diskriminierung. Förderschulen können dabei zu den 'besonderen Maßnahmen' gezählt werden.


"Zum Wohl des Kindes bedarf es weiterhin unterschiedlicher Settings." (S. 86)

Michael Felten spricht sich letztlich dafür aus, das Schulsystem nicht zu revolutionieren, sondern zu optimieren. Dazu gehören für ihn u.a. (verkürzt dargestellt):

  • eine erhöhte Durchlässigkeit zwischen allen Schulformen
  • eine kontinuierliche Weiterbildung der Regellehrer
  • eine flächendeckende und hochqualitative Sicherung der Möglichkeiten zu Gemeinsamem Unterricht in allen Schulformen
  • die Sicherung eines breiten Angebots an hochspezialisierten Sonderpädagogen
Eine übertriebene und unterfinanzierte Inklusion führt nicht nur zu Bildungschaos für alle Schüler, sondern auch zu einer massiven Überlastung der Lehrer, zu ständigem und unnötigem Frust und zu erhöhten Erkrankungsraten. Felten schließt sich hinsichtlich einer sinnvollen Ausgestaltung der Inklusion in deutschen Klassen dem Forderungskatalog des Verbandes lehrerNRW vom 24.2.2016 an. Und er plädiert dringend für den Erhalt der Förderschulen, damit das Wahlrecht der Eltern nicht beschnitten wird und v.a. damit für jedes Kind der tatsächlich geeignete Förderort gefunden werden kann - gemäß der Maxime: 'So viel hochqualitative Integration wie mögich, sinnvoll unterstützende Separation überall da wo nötig!'.

Endlich einmal kritische Töne zum Thema Inklusion - in der Argumentation differenziert und ausgewogen, bezieht Felten eindeutig Position. Er zeigt jedoch nicht nur Hintergründe und Fehlentwicklungen auf, sondern bietet auch Ausblicke und Möglichkeiten von Eltern, Lehrern und Bürgern, den Schülern von heute und morgen zu ihrem Recht zu verhelfen und damit das Wohl der Kinder wieder in den Mittelpunkt zu rücken.

Ein wichtiges Buch!

© Parden










Michael FeltenDas Gütersloher Verlagshaus schreibt über den Autor:

Michael Felten, geboren 1951, arbeitet seit 35 Jahren als Gymnasiallehrer. Er ist auch in der Lehrerausbildung tätig sowie Publizist und Schulentwicklungsberater. Er schreibt für ZEIT-online in der Serie "Schulfrage".

3 Kommentare:

  1. Auch was Seltens: Anne rezensiert ein Sachbuch. Damit hast du mich gerade auch eine Idee gebracht, die mit Inklusion allerdings nicht zu tun an. Sie hat was mit Lehrern zu tun, deren methodische / didaktische Schulung wenige Wochen dauerte und die nun 16 bis 35jährige Schüler, Abturienten und Realschüler, Facharbeiter und Offiziere durch eine ganze Berufsausbildung führen (sollen). Aber in dem Beruf den ich meine gint es keine Inkusion. Höchstens Integration... ;)

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  2. Ich habe das Buch gerade ausgelesen und für meinen Blog eine Rezension geschrieben, die in ein paar Tagen erscheinen wird. Herr Felten spricht aus, was ich seit Jahren denke: Das, was hier unter dem Schlagwort "Inklusion" läuft, ist ein schlechter Witz, bei dem einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Aber die, die glauben, dass da etwas ganz Tolles entsteht, was man kritiklos gutheißen müsste, reagieren entsetzt, wenn ich mich ablehnend dazu äußere. Allerdings wagt es niemand, mir Arroganz, Ahnungslosigkeit oder Ähnliches vorzuwerfen, da ich selbst behindert bin. Aber darf man das Wort "behindert" überhaupt noch sagen, wenn die große Gleichmacherei im Gange ist, bei dem alle über einen Kamm geschoren werden, aber niemandem gerecht wird? Ich habe mit Political Correctness nur wenig am Hut, weil weichgespültes Gerede nur den Blick auf das Wesentliche verstellt.
    Viele Grüße
    Ina

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    1. Deutliche Worte, die bei mir offene Türen einrennen. Ich arbeite in einer Frühförderstelle, also mit Kindern im Vorschulalter, die in ihrer Entwicklung in irgendeiner Form beeinträchtigt sind, z.T. erheblich. Zu unserem Aufgabenfeld gehörte immer schon auch, gemeinsam mit den Eltern nach einer adäquaten Schulform für das einzelne Kind zu suchen. Die Inklusionsbestrebungen in NRW, dazu noch eine Großstadt, die am Limit ihrer finanziellen Belastbarkeit angelangt ist, machen es möglich: die schulische Situation vieler von uns begleiteten Kinder gestaltet sich katastrophal. Bis auf wenige Ausnahmen gibt es kaum noch Eingangsklassen in Förderschulen und oftmals besteht noch nicht einmal die Aussicht auf einen dringend benötigten Integrationshelfer - zumindest nicht, wenn die Eltern nicht willens oder in der Lage sind, Widerspruch einzulegen. Wir gewinnen zunehmend den Eindruck, dass da eine ganze Schülergeneration (oder mehr) vor die Wand gefahren wird, ohne Rücksicht auf Verluste. Von der Belastung für die Lehrer rede ich gar nicht erst. Traurig und katastrophal - anders kann man es nicht beschreiben.

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