Mittwoch, 11. März 2015

Gundar-Goshen, Ayelet: Löwen wecken


Ein Neurochirurg überfährt einen illegalen Einwanderer. Es gibt keine Zeugen, und der Mann wird ohnehin sterben - warum also die Karriere gefährden und den Unfall melden? Doch tags darauf steht die Frau des Opfers vor der Haustür des Arztes und macht ihm einen Vorschlag, der sein geordnetes Leben komplett aus der Bahn wirft. Wie hätte man selbst in einer solchen Situation gehandelt? Diese Frage schwebt über dem Roman, der die Grenzen zwischen Liebe und Hass, Schuld und Vergebung und Gut und Böse meisterhaft auslotet.

  • Gebundene Ausgabe: 432 Seiten
  • Verlag: Kein & Aber; Auflage: 1 (1. Februar 2015)
  • Sprache: Deutsch
  • Übersetzung: Ruth Achlama
  • ISBN-10: 3036957146
  • ISBN-13: 978-3036957142














GRAUZONEN...






Es ist ein einziger Moment, der das Leben des israelischen Neurochirurgen Etan Grien von Grund auf verändert: der Moment, in dem er nachts auf einer einsamen Straße einen illegalen Einwanderer überfährt. Um Karriere und Familie zu schützen, entscheidet sich Etan, den Mann nach dem tödlichen Aufprall liegen zu lassen und den Unfall nicht zu melden. Doch dann kontaktiert ihn plötzlich die Ehefrau des Opfers. Sie habe den Unfall beobachtet, und für ihr Schweigen solle er ab sofort Nacht für Nacht den übrigen Einwanderern medizinische Hilfe leisten.
Etan geht darauf ein, doch der gravierenden Auswirkungen dieses Paktes auf sein Leben wird er sich erst bewusst, als er wirklich alles zu verlieren droht...


Und er dachte sich gerade, dies sei der schönste Mond, den er je gesehen habe, als er diesen Mann umfuhr. Und als er ihn umfuhr, dachte er im ersten Moment immer noch an den Mond, dachte weiter an den Mond und hörte dann mit einem Schlag auf, als hätte man eine Kerze ausgeblasen. Er hört die Tür des Jeeps aufgehen und weiß, er ist derjenige, der sie öffnet, er derjenige, der nun aussteigt. Aber dieses Wissen ist nur lose mit seinem Körper verbunden (...) Seine Füße treten auf den groben Wüstensand, er hört ein Knirschen bei jedem Schritt, und dieser Laut beweist ihm, dass er tatsächlich geht. Und irgendwo am Ende des nächsten Schrittes erwartet ihn der Mann, den er umgefahren hat... (S. 7)


Ein falscher Schritt, eine falsche Entscheidung - und das Leben gerät aus der Bahn. Langsam, allmählich, doch unaufhaltsam.

Der israelische Neurochirurg Etan Grien lebt mit seiner Frau Liat und seinen zwei kleinen Söhnen in einem schönen Haus in der Wüstenstadt Beer Scheva. Nach einem anstrengenden Tag in der Klinik fährt er nicht gleich nach Hause, sondern in die entgegengesetzte Richtung, in die Wüste, auf eine Piste, wo er den Jeep voll ausfahren kann, das Radio laut gedreht, den Mond über sich - lebendig!
Doch plötzlich: eine dunkle Gestalt vor dem Auto, keine Möglichkeit zu reagieren, der Aufprall. Als Etan aussteigt, erkennt er, dass er einen Flüchtling überfahren hat, einen Eritreer, und dass dieser so schwere Verletzungen aufweist, dass es keine Überlebenschance gibt. Ein Abwägen: sterben wird der Flüchtling sowieso; wenn Etan die Polizei ruft, wird das Auswirkungen haben, auf seinen Ruf, vielleicht auf seine Karriere, in jedem Fall auf das Bild, das seine Frau von ihm hat. Dann die Entscheidung: liegenlassen und weiterfahren. Am Jeep gibt es keinerlei Spuren, weshalb also nicht weitermachen, als sei nichts geschehen?

Dass das nicht gelingen wird, erkennt Etan spätestens am folgenden Morgen. Vor seiner Haustür eine Eritreerin, die Frau des überfahrenen Flüchtlings. Zeugin des Unfalls - und Überbringerin des Portemonnaies, das Etan unbemerkt am Unfallort verloren hat. Sie, die Rechtlose, die Illegale im Land Israel, sie hat nun Etan in der Hand. Und verlangt von ihm seine Fähigkeiten als Arzt. Für die anderen Rechtlosen, die Flüchtlige, die sich an niemanden wenden können.
Und so beginnt Etan notgedrungen ein Doppelleben. Tagsüber Beruf und Familie, nachts das heimliche Leben als Arzt in einer heruntergekommenen Werkstatt, die nun zur illegalen Klinik umfunkioniert wird. Bald hinterlässt dieses Doppelleben Spuren, bringt Etan an seine Grenzen, lässt Liat misstrauisch werden, seine Arbeit als Neurochirurg leidet unter der Situation. Wie kann das auf Dauer gut gehen?


Einundvierzig Jahre gegenüber einer Minute, und doch hatte er das Gefühl, diese eine Minute enthalte viel mehr als sechzig Sekunden, so wie ein DNA-Molekül den ganzen Menschen in sich barg. Und ja, es machte etwas aus, dass es ein Eritreer war. Denn die sahen ihm alle gleich aus. Weil er sie nicht kannte. Weil Menschen von einem anderen Stern notgedrungen etwas weniger menschlich waren. Zugegeben, das klang furchtbar, aber er war nicht der Einzige, der so dachte. Er war nur der, der zufällig einen überfahren hatte.


Einen vielschichtigen und psychologisch dicht gestrickten Roman präsentiert uns Ayelet Gundar-Goshen hier. Es gelingt ihr gut, die Geschehnisse einschließlich der emotionalen Abläufe glaubhaft und nachvollziehbar darzustellen,  dabei aber eine distanzierte Sichtweise beizubehalten - der Leser ist Beobachter der Szenen und benötigt keine Empathie für die Figuren. Über große Phasen empfand ich den Roman, als lägen die Personen vor mir auf dem Seziertisch. Menschen, klar, allerdings eher als Betrachtungsobjekte - und nicht notwendigerweise als Sympathieträger. Aber nicht aufgeklappt, um die inneren Organe zu beschauen, sondern deren Seelenleben.
Die Autorin lässt hier ihre Kenntnisse als Psychologin voll einfließen und zieht den Leser immer mehr in das Gedankenkonstrukt 'Was wäre wenn' hinein. Die Untiefen der Seele werden ergründet; kein Gefühl, kein noch so widerwärtiger Gedanke wird tabuisiert. Außerdem gewährt der Roman sozusagen 'nebenher' echte Einblicke in das Leben in Israel, eben auch mit überraschenden Sichtweisen (Bsp. Verachtung der in Auschwitz ermordeten Juden), Vorurteilen, denen einzelne Bevölkerungsgruppen ausgesetzt sind oder auch dem Einwanderungsproblem. So etwas dürfte niemand anderes als eben ein israelischer Autor schreiben ohne gleich in die Ecke 'judenfeindlich' gestellt zu werden.


Die Sache, die da zwischen ihnen steht, hat ja auch eine Mutter, nicht nur einen Vater. Für ein solches Geheimnis braucht es zwei. Einen, der nicht erzählen, und einen, der nicht wirklich hören möchte.


Ein literarisch anspruchsvoller Roman, der die Grauzonen von Schuld und Sühne, Gut und Böse, Liebe und Hass aufzeigt. Das moralische Spannungsfeld wird im Verlauf immer neu gestaltet, was verdeutlicht, dass es kein einfaches Richtig oder Falsch geben kann. Die Sprache oftmals poetisch, dann wieder derb und vulgär - ebenso gegensätzlich wie die behandelten Themen. Langatmig manchmal und dadurch nicht immer leicht, bei der Stange zu bleiben, letztlich aber beeindruckend.
Das Verschwimmen von Gut und Böse, Schwarz und Weiß, das Spiel mit der Erwartungshaltung des Lesers, die Ernüchterung, die sich am Ende einstellen mag, der Spiegel, den die Autorin der Gesellschaft gnadenlos vorhält - in meinen Augen einfach nur gelungen!

Ein beeindruckender Roman, der sich nicht einfach so herunterlesen lässt, sondern seine Zeit beansprucht. Ein interessantes, psychologisch dicht gewebtes Gedankenspiel, das glaubhaft und darum so erschreckend wirkt. Kein Buch, das Erwartungen erfüllt - aber eines, das einen nachdenklich zurücklässt.


© Parden














Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, studierte Psychologie in Tel Aviv, später Film und Drehbuch in Jerusalem. Für ihre Kurzgeschichten, Drehbücher und Kurzfilme wurde sie bereits vielfach ausgezeichnet. Ihrem ersten Roman, Eine Nacht, Markowitz (2013), wurde der renommierte Sapir-Preis für das beste Debüt Israels zugesprochen.

Quelle Text und Bild

1 Kommentar:

  1. Ich nehme das Buch dann mal mit in der Palästina-Seite auf, weil es ja israelische Literatur ist.

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