- Herausgeber : dtv Verlagsgesellschaft (18. März 2021)
- Sprache : Deutsch
- Gebundene Ausgabe : 224 Seiten
- ISBN-10 : 342328269X
- ISBN-13 : 978-3423282697
ALLES IN ALLEM: ENTTÄUSCHEND...
Erster Satz: Er sah den Mann auf der Bank sitzen, er näherte sich ihm von hinten, er streckte den Arm aus und wollte dem Mann die Hand auf die Schulter legen - aber kurz bevor seine Finger die Schulter berührten, tastete seine Hand ins Leere.
Manche Romane schlage ich achselzuckend zu und sinniere darüber, was das denn jetzt wohl war. Hier erging es mir leider genau so, und auch Tage nach der Lektüre weiß ich nicht genau, weshalb dieser Roman wohl überhaupt geschrieben wurde.
Gegliedert ist die Erzählung in drei Teile.
Im ersten Teil wird geschildert, wie Ferdinand Hestermann, ein deutscher Ethnologe, Sprachwissenschaftler und Hochschullehrer, auf das Wörterbuch des Volkes der Yámana stößt, mitten in London in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Vermutlich muss man Sprachwissenschaftler sein oder eine sonstige Affinität zum Wesen von Sprache haben, um die nahezu manische Faszination Hestermanns für dieses Wörterbuch nachvollziehen zu können. Der Autor streut zum besseren Verständnis dieses eigenwilligen Charakters biografische Daten aus Hestermanns Lebenslauf und Werdegang ein, trotzdem erscheint dieser bis zum Schluss unnahbar und kaum greifbar.
„Hestermann hatte bisweilen das Gefühl, dieses Buch sei nur als Wörterbuch getarnt, in Wahrheit sei es ein Bauplan, eine Anleitung zum Erschaffen eines Teils der Welt, für den Fall, dass diese Welt einst untergehen sollte. Es war eine Kopie der Wirklichkeit in Form von Wörtern, es war ein philosophischer Gral, nichts mehr und nichts weniger.“ (S. 18)
Der zweite Teil des Romans stellt Thomas Bridges vor, der als Adoptivsohn eines britischen Missionars mit dessen Familie Mitte des 19. Jahrhunderts nach Südamerika gelangt und dort auf das Volk der Yámana stößt. Er sucht den Kontakt zu den Mitgliedern der ethnischen Gruppe, die auf Feuerland lebt, und beginnt, deren Sprache zu studieren und einzelne Wörter und deren (verschiedene) Bedeutungen in einem Buch festzuhalten. Am Ende seines Lebens befinden sich dort mehr als 30000 Einträge, und erst ein Diebstahl sorgt dafür, dass das Wörterbuch seinen Weg nach Europa findet.
Als die Nationalsozialisten beginnen, Bücher aller Art zu beschlagnahmen, darunter eben auch völkerkundliche Bücher, setzt Hestermann alles daran zu verhindern, dass „sein“ Wörterbuch dasselbe Schicksal erleidet und damit das Wissen um das Volk der Yámana für immer verschwindet. Damit beschäftigt sich der dritte Teil des Romans, ebenso wie mit der omnipräsenten Bedrohung durch den Nationalsozialismus. Was kann ein Einzelner wie Hestermann dieser heranrollenden Macht entgegensetzen?
Die Themen (Kolonialismus, Missionartum, Ethnologie, Nationalsozialismus und Verfolgung, Sprachwissenschaft u.a.m.) klingen vielversprechend, der Plot und seine Schauplätze ebenso. Doch leider…
Die Hauptcharaktere Ferdinand Hestermann sowie Thomas Bridges gab es wirklich, der Roman bezieht sich auf reale Quellen und Hintergründe. Und doch bleiben die hier gezeichneten Charaktere blass, wirken oftmals nahezu skurril. So scheint sich Ferdinand Hestermann beispielsweise quasi nur von Zigaretten der Marke Lux zu ernähren, gelegentlich unterbrochen von einer Tasse Kaffee und einer Scheibe Zwieback. Diese Details finden in vielen Situationen Eingang, doch der Sinn dieser endlosen Wiederholung erschloss sich mir nicht.
Hestermann erscheint fast misanthropisch, meidet im Allgemeinen den Kontakt zu anderen Menschen und widmet sich lieber seinen Studien. Wichtig für ihn ist nur das wenige, was in eine Aktentasche passt, er klammert sich nicht an irdische Güter - höchstens an eben jenes besondere Wörterbuch. Bei dem Gedanken daran, dass die Nationalsozialisten seine übrige Büchersammlung beschlagnahmen wollen, zuckt er im Grunde nur mit den Achseln. Die Rettung jenes Buches aber scheint sein (letztes und einziges) Lebensziel zu sein, ansonsten wirkt er recht resigniert, dazu naiv und im Grunde lebensuntüchtig. Ähnlich eigentümlich wird auch Thomas Bridges gezeichnet.
„...und manchmal empfand er eine gewisse Leere, fast so, als existiere in ihm eine Erinnerungslücke jenes Lebens, das er zu leben verpasst hatte.“ (S. 38)
Michael Hugentobler verwebt historische Fakten mit fiktiven Ereignissen, was für sich genommen ein legitimer Kniff ist. Hinzu kommen jedoch surreale Sequenzen, die sich im Verlauf steigern – Traumpassagen, Mythen, Schauergeschichten, kafkaesk anmutende Szenen… Mehrfach drängte sich mir beim Lesen der Gedanke „absurdes Theater“ auf, und mit einer derartigen Anhäufung surrealer Szenen konnte ich letztlich nichts anfangen.
Die gesamte Erzählung blieb für mich trotz der angerissenen wichtigen Themen sehr oberflächlich, die Charaktere kamen mir nicht nahe, alles glitt wie in einem Traum an mir vorbei und ich schaute achselzuckend zu. Durch die Internetrecherche habe ich mehr erfahren als durch den Roman selbst, und ich habe bis zum Schluss nicht verstanden, weshalb der Autor das offenbar so wollte. Der Abschnitt über Feuerland hat mich zudem insgesamt enttäuscht - da erfährt man herzlich wenig über Land und Leute, das könnte auch irgendwo im Nirgendwo spielen. Da hatte ich – gerade im Hinblick auf das so zentrale Wörterbuch der Yámana – deutlich mehr erwartet.
Insgesamt wurden hier (zu viele) eigentlich bedeutsame Themen angerissenen, blieben jedoch zu sehr an der Oberfläche um wirklich von Interesse zu sein. Die surrealen Elemente waren für mich zunehmend verstörend, die Charaktere zu überzeichnet und wenig vorstellbar, und letztlich erschloss sich mir nicht einmal, weshalb dieser Roman geschrieben wurde. Alles in allem: enttäuschend…
© Parden
Grundsätzlich hätte das ja was für mich sein können. Feuerland. Bis Patagonien habe ich es ja schon mal geschafft, aber das Terra de los fuegos war „noch“ zu weit weg. Schade.
AntwortenLöschenGruß aus NZ