Sonntag, 22. April 2018

Treuenfeld, A.v.: Israel


Momente seiner Biografie

Geschichtsbücher. Sie sind heute so anders, als vor Jahrzehnten. Ich meine natürlich nicht Lehrbücher. Die verfolgen einen etwas anderen Zweck als zum Beispiel das Buch „ISRAEL – Momente seiner Biografie“ der Andrea von Treuenfeld. Begegnet bin ich der freien Journalistin Auf der Buchmesse in Leipzig, hier las sie aus diesem Buch.

In dieser Woche begannen die Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Gründung des Staates Israel. Am 14. Mai 1948 proklamierte David Ben Gurion im heutigen Museum Eretz Israel den neuen Staat, während ringsherum die Armeen der Nachbarstaaten die Gewehre durchluden.

Siebzig Jahre in kurzen Episoden Revue passieren zu lassen, kein Jahr dabei zu vergessen und die ganze Palette palästinensisch – israelischer Eigenheiten, Besonderheiten, Gemeinsamkeiten vor dem Leser auf 203 Seiten auszubreiten, Andrea von Treuenfeld hat dies sehr gut hinbekommen.


„Jahr für Jahr“ werden wir durch die Geschichte geführt. Manchmal sind es aber auch Jahrestage, wenn zum Beispiel ein Jubiläum ansteht, wie zum Beispiel der hundertste Jahrestag der sogenannten Balfour-Deklaration, in sich im November 2017 Großbritannien einverstanden erklärte, dem jüdischen Volk eine nationale Heimstätte zu gewähren.


Quelle: wikipedia
„Die Regierung Seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, mit der Maßgabe, dass nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nicht-jüdischen Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und den politischen Status der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könnte.“ (Seite 201)

Dies schrieb A.J. Balfour (Außenminister) an Lord Rothschild, den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden Englands.
Und folgerichtigerweise reist am 2. November 2017 Benjamin Netanyahu nach England. Er traf sich da mit Theresa May und Nachkommen der Balfours und Rothschilds. (Seite 201)



© URDD
Die israelische Unabhängigkeitserklärung wird mittelbar auf diese Deklaration zurückgeführt. Großbritannien hat sich gerade in den Jahren vor dem Abzug aus Palästina nicht gerade mit Ruhm bekleckert, immer lavierend zwischen arabischen und jüdischen und vor allem unter Berücksichtigung „eigener“ Interessen, überließen sie 1948 die Bewohner der ehemaligen osmanischen Provinz ihrem Schicksal. Und prompt schlugen sie aufeinander ein. Der sogenannte Unabhängigkeitskrieg ist natürlich für die Jahre ab 1948 in diesem Buch sofort präsent, wie auch alle folgenden militärischen Auseinandersetzungen.

Die Rolle der Briten ist eine erhebliche. Sie hatten das Völkerbund-Mandat zum Schutz der Provinz Palästina. Ringsum hatten sich bereits Staaten nach dem 1. Weltkrieg gebildet, bis auf Ägypten bestanden diese als selbstständige Staaten noch nicht. Die Republik Syrien wurde gar erst 1946 ausgerufen. Trotz UNO-Resolution 181 vom 29.11.1947, die die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat vorsah, kam es nicht dazu. Durch den ständigen Zuzug von Juden aus vor allem osteuropäischen Staaten sahen sich die palästinensischen Araber sehr benachteiligt und wehrten sich dagegen, unterstützt durch die arabischen Nachbarstaaten.

Die Geschichte der EXODUS ist exemplarisch für die lavierenden Handlungen der Briten. Das überfüllte Flüchtlingsschiff (4500 Passagiere statt 400) sollte geentert werden, es wurde mehrfach gerammt, es gab eine Reihe von Verletzten. Diese und weitere Kranke wurden in Krankenhäuser gebracht, die Passagiere auf drei Schiffe verteilt und nach Frankreich zurückgeschickt. Es wäre vielleicht nur eine Episode geblieben, wäre da nicht der Umstand, dass die „Reise“ in Hamburg am 8. September endete und dort wurden
„Unter den Augen der Weltöffentlichkeit... diese Menschen, die nur wenige Jahre zuvor von Deutschen in Zügen deportiert und in Konzentrationslagern gequält wurden waren, wieder eingesperrt. Dieses mal von britischen Alliierten, die erst am 6. Oktober die Lager öffneten und die Überlebenden ziehen ließen.“ (Seite 145)

Es ist wohl verständlich, wenn der Besuch des israelischen Ministerpräsidenten in London auch wegen dieser Geschichte eine besondere Bedeutung hat, wie so vieles Symbolträchtige während der siebzig Jahre.

Den Deutschen ist sicherlich noch in Erinnerung, dass Angela Merkel im Jahr 2008 vor der Knesseth sprach. Es verließen zwar einige Abgeordnete den Saal, die „es unerträglich fanden, dass im Parlament deutsche Worte zu hören waren“, jedoch fand weltweit Beachtung, als sie die historische Verantwortung Deutschlands für Israel zur deutschen Staatsräson erklärte. „Die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.“ Angela Merkel sagte diese Worte anlässlich der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Staatsgründung. (Seite 179)

Weniger ist vielleicht bekannt, dass auch der erste Bundeskanzler, Konrad Adenauer begann, im September 1952 die Verpflichtung Deutschlands gegenüber Israel und dem jüdischen Volk anerkannte. Er unterzeichnete das Luxemburger Abkommen. Es schrieb die Zahlung von drei Milliarden DM (Waren und Dienstleistungen) fest und weitere 450 Millionen für die Unterstützung von Überlebenden der Shoah außerhalb Israels. (Seite 31) Die Regierungschefs der beiden weltweit kritisch betrachteten, jungen und komplizierten Ländern, David Ben Gurion und Konrad Adenauer verband nicht nur Alter und Position. Es war auch Freundschaft. Adenauer besuchte mit 90 Jahren Gurion in dessen Heimat Kibbuz und Gurion reist 1967 zur Beisetzung Adenauer nach Deutschland.

Das dies alles auch umstritten war, weil auf Seiten einiger Israelis von „Blutgeld“ gesprochen wurde, oder weil die Aufnahme diplomatischer Beziehungen erst 1965 geschah – man hatte Angst, im Gegenzug könnte die DDR von arabischen Staaten diplomatisch anerkannt werden – zeigt nur, dass damals wie heute „Staatsräson“ auch auf Widerstand stößt. (Seite 47)

Das Buch ist auf seine Art chronologisch aufgebaut. Es besitzt ein Stichwortverzeichnis und Verzeichnis der Themenkomplexe. Das erste Thema in diesem mit Aliyah überschrieben. עלייה, wörtlich „Aufstieg“, bezeichnet die Rückkehr der Juden nach Eretz Israel. Die allgemeine Bedeutung ist heute „jüdische Einwanderung". Andrea von Treuenfeld erzählt von der Kinder- und Jugend Aliyah, von Äthiopischen Einwanderen, von sowjetischen Juden und von der Operation Fliegender Teppich. Mit dieser Operation wurden im Jahr 1949 insgesamt 49000 jüdische Jemeniten ausgeflogen.

Wie so oft geht in diesem Land Menschlichkeit mit gegensätzlichen Aktionen einher. Man nahm den „rückständigen“ Jemeniten hunderte Babys und Kleinkinder weg, steckte sie in Krankenhäuser und erklärte sie dann für tot. In Wirklichkeit dürften sie an kinderlose Familien in Israel aber auch in Amerika gegeben worden sein.


In einem anderen Beitrag erzählt die Autorin von Arik Einstein (1939 – 2013 / Seite 113), einem Musiker, Sänger und Schauspieler. Seine Songs zählen zum "Soundtrack des Staates", formulierte Netanyahu nach dem Tod des Künstlers, Zehntausende verabschiedeten auf einer öffentlichen Trauerfeier und bei seiner Beisetzung.

Auf der Suche nach dem mir bisher unbekannten Künstler stieß ich auf ein YouTube-Video, was das Problem mit der Aaliyah auf satirische Weise beschreibt. Auch dies beschreibt die Ambivalenz nicht nur einzelner Personen, sondern hier auch einem ganzen Land.








Personen sind ebenfalls ein Themenkomplex. Nehmen wir einfach mal die Friedensnobelpreisträger: Menachem BeginAnwar as-Sadat, Yassir ArafatShimon PeresYitzhak Rabin. Gegensätzlicher geht es kaum. Und doch vereint diese Herren der Umstand, dass erbitterte Gegner, die auch vor Terror nicht zurück schreckten, zu Einigungen kommen können. Von all diesen und noch weiteren erzählt die Autorin im Zusammenhang mit den Ereignissen verschiedener Jahre.



© URDD
Ereignisse, Gebäude, Konflikte, Organisationen, Kultur und Staat. Das sind die weiteren Themen, an denen man sich beim lesen und beim suchen orientieren kann. Was verbindet Dessau in Sachsen Anhalt mit Tel Aviv? Auch wenn Dessau nicht erwähnt erwähnt wird, hier geht es um die Bauhaus-Architektur, die dem Besucher der תל אביב-יפו – des Frühlingshügels – auffällt.



© URDD
Neun Kulturerbestätten hat das UNESCO-Kommitee bisher in Israel bestätigt. Eines davon ist die herodianische Felsenfestung MASADA am Toten Meer. Der Mythos MASADA ist immer noch gegenwärtig. Der Freitod der knapp 1000 Leute, die nicht in römische Gefangenschaft geraten wollten führte zu der bis Anfang der neunziger Jahre üblichen Abschlussveranstaltung der Grundausbildung israelischer Soldaten mit dem Schwur "Masada [Israel] darf nie wieder fallen". (Seite 157)





Geschichtsbücher.
Sicher kann man eine „Länderbiografie“ schreiben in großem und umfangreichen Stil. Die Momente der Biografie dieses kleinen Landes mit 8.781.500 Einwohnern, das an seiner engsten Stelle 15 km, an der breitesten 135 km bei 470 km Länge aufweist geben vieles preis und laden den Interessenten zum weiteren Nachlesen ein. Recherche ist bei dieser Fülle ein Wort, dass nicht Historikern und Journalisten vorbehalten bleibt. Es ist ein schmales Buch mit einer Reihe von schwarz-weiß Aufnahmen. In Aufmachung und Gestaltung nicht zu vergleichen mit einem anderen Geschichtsbuch: Deutschland – Erinnerungen einer Nation (Neil MacGregor).

Doch das Stöbern darin macht gleichermaßen Spaß. Noch ein Buch sei hier genannt: Das Mittelmeer - Eine Biografie (David Abulafia). Die beiden Bücher wurden hier bereits vorgestellt. Eine Biografie des Mittelmeeres kommt an Jaffa und Tel Aviv nicht vorbei. Und so manches findet sich eben auch bei Andrea von Treuenfeld, deren Stil ein klein wenig an die tagebuchartigen Bücher von Peter Scholl-Latour erinnert.

70 Jahre und „kein Land“ – soll heißen, kein Frieden in Sicht. Das Potential ist da. Aber es bedarf noch viel politischer Arbeit.


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Der Friedensnobelpreisträger und ehemalige Aktivist der terroristischen IRGUN Begin war es, der die Wiedergutmachungszahlungen der Bundesrepublik Deutschland ablehnte. Inwieweit es gut ist, dieser streitbaren und umstrittenen Demokratie westlicher Art im Nahen Osten Waffen zu liefern, ist sicherlich fraglich. Dem aufkeimenden Antisemitismus, unterstützt durch den Antisemitismus bzw. Antiisraelismus islamischer Zuwanderer nicht nur in, aber eben vor allem auch in Deutschland zu begegnen, unterstützt das vorliegende Buch. Wer weiß schon viel von den Ursachen der Staatsgründung, der Urbanisierung und Urbarmachung dieses wüsten- und felsenreichen Landes. Die Staatsräson der Bundesregierung und die Ablehnung des Staats Israel durch arabische Staaten und arabischer Palästinenser müssen in ihrer Gegensätzlichkeit verstanden werden. Sonst kommt man nicht ins Gespräch, sonst ist auch die Politik des eigenen Landes unverständlich und bereitet Sorgen.


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Andrea von Treuenfeld hat Publizistik und Germanistik studiert. Die freie Journalistin besucht regelmäßig Israel und schreibt heute Porträzs und Biografien.

© privat





ISRAEL: Und ein hervorragendes Urlaubsland ist es auch...



© URDD (2009) - Masada



DNB / Gütersloher Verlagshaus / Gütersloh 2018 / ISBN: 978-3-579-08711-5 / 217 Seiten

© Bücherjunge


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