Freitag, 21. Juni 2024

Reimann, Brigitte: Die Geschwister

Mitte Juni 2024 stieß ich auf einen Artikel in DIE ZEIT. Überschrieben mit Die Auferstehung schrieb Adam Soboczynski zu Beginn:

„Dass die DDR noch einmal zu einem so großen Ruhm gelangt, hätte noch vor wenigen Jahren kaum jemand gedacht. Sobald ein deutsches Werk international Beachtung findet, darf man sich derzeit sicher sein: Es handelt von diesem kleinen, seit Langem zu Tode analysierten und nach dem Epochenbruch 1989 abgewickelten Land. Es sind vor allem drei Bücher über die DDR...“

Über eines, welches Kontroversen verursachte, habe ich bereits geschrieben, es geht mal wieder um Katja Hoyers Diesseits der Mauer. Hinzu kommt ein ganz neues, Jenny Erpenbeck bekam für ihren Roman Kairos einen internationalen Buchpreis. Schon der Name Erpenbeck, der mir weitestgehend unbekannt war, bietet Stoff genug über Literatur im Zusammenhang mit DDR zu schreiben, jedoch soll es mir um ein drittes Buch gehen, welches hier außerdem genannt wurde.

Brigitte Reimanns Die Geschwister ist eine Erzählung aus dem Jahre 1963, dessen Handlung aber zwei Jahre vorher angesiedelt ist. Wieso kommt plötzlich eine Erzählung, die den Kampf einer Schwester, welche ihren Bruder am Fortgehen aus der DDR hindern möchte, in den USA aktuell zu neuer Aufmerksamkeit?


Auszug aus DIE ZEIT
Die Autorin Brigitte Reimann kannte ich natürlich, sowohl Ankunft im Alltag als auch der unvollendete Roman Franziska Linkerhand, verfilmt unter dem Titel Unser kurzes Leben, finden sich im Regal mit der „vergangenen“ Literatur.

Die Geschwister kam mir bisher nicht unter, aber in dem genannten Artikel las ich, dass man kürzlich eine unzensierte Urfassung fand. Das ist doch reizvoll: Die damals veröffentlichte Erzählung mit einem brisanten Thema bekam 1965 den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste der DDR. Annehmen könnte man hierbei, dass Reimann ein vor allem dem „Sozialistischem Realismus“ verpflichtetes Werk geschrieben hätte, auf der Linie des „Bitterfelder Weges“.

Doch nun finden sich im Frühjahr 2022 in einem Keller eines Wohnhauses in Hoyerswerda große Teile der Originalhandschrift. Dies hier wird kein Textvergleich, keine „Reimann-Exegese“, hier geht es um den Roman, von dem THE NEW YORKER schrieb:
»Brigitte Reimann gelingt es, die berauschende, unmögliche Verlockung Wirklichkeit werden zu lassen: die eigenen Ideale zu leben.«
Wer lebt in diesem Roman die eigenen Ideale?

Elisabeth ist in einer bürgerlichen Familie aufgewachsen. Zwei Brüder hat sie, einer hat sich schon wegbegeben, Konrad, der ehemalige HJ-Führer, der zwar wie seine jüngeren Geschwister die neue Zeit nach 45 begrüßte, die Entwicklung von Land und Gesellschaft aber nicht aushielt. Eltern und Geschwister übergaben ihm Koffer mit persönlichen Dingen in Westberlin, denn als er ging, wollte er nicht auffallen. Und nun ist Konrad weit weg...

Jetzt hegt Uli ähnlich Gedanken. Nicht mehr sein Land sei diese DDR, meint er,  in der die Ursprungsidee verraten wird. Schafft es Elisabeth schaffen, ihn vom Vorhaben abzuhalten, oder muss sie ihn verraten? Wen kann sie ins Boot holen?

Elisabeth hat Kunst studiert, ist Malerin. Momentan arbeitet sie „Im Werk“. Arbeit malen und Arbeiterinnen und Arbeiter. Ihr Mann Joachim leitet das Walzwerk am Rande der Stadt. Er bleibt ziemlich im Hintergrund, während Uli und die kleine Schwester das Geschehen füllen. Uli ist Schiffbauer, wie der große Bruder, auch er meint, dies könne er an der Nordsee wesentlich freier und besser machen.

Die Sache mit Konrad, möchte sie nicht noch einmal erleben:

„Es ist mir gleichgültig, ob mich jemand verurteilt, ist mir gleichgültig, ob hundert oder tausend Leute sagen: Sie hat es verraten – seine eigene Schwester! Ich will nicht noch einmal hören, wie meine Mutter ihrem Sohn ‚auf Wiedersehen‘ sagt, der wenige Stunden später die Grenze überschreiten wird, die nicht nur Stadt von Stadt, Landschaft von Landschaft trennt.

Und ich will nicht noch einmal erleben, wie ein Bruder mich im Morgengrauen auf den Mund küsst und ‚alles Gute, Betsy‘ flüstert und weggeht, aus der Familie, meiner Republik und – unerbittliche Konsequenz – aus meinem Leben weggeht.“ (S. 35)
Doch Uli meint: „Ich bin doch nicht aus der Welt. Ich reise nicht an den Südpol und nicht in die Urwälder am Amazonas. Ich gehe... von Deutschland nach Deutschland... Nach Deutschland‘, wiederholt er, erstaunt, als sei ihm das eben erst eingefallen.“ (S. 77)

Als Reimann dies schrieb (1962/63), wusste oder ahnte sie wenigstens, dass dieses Deutschland eine dauerhafte und weitestgehend undurchlässige Trennung erfahren hat. Dabei geht es hier nicht allein darum, Freiheit zu erlangen. Hier ging einer und wollte gehen, der trotz der Erlebnisse im Nationalsozialismus, enttäuscht ist von der fehlgehenden Idee, die das Individuum nur ungenügend betrachtet auf dem gesellschaftlichen Weg.

Das ist der Hauptkonflikt der Erzählung. Er wirkt glaubwürdig, was auch an Brigitte Reimanns Erfahrung mit Bruder Lutz liegt, der ging den Weg des Konrad.

Elisabeth alias Brigitte Reimann, verteidigt ihre Auffassung und ihren Glauben an den Sozialismus.

Die inneren Konflikte der Gesellschaft, zum Beispiel die Fragen wie denn Industriebau und die Werktätigen zu malen sei, ähnlich der Fragen zur Architektur und Wohnungsbau, die die Autorin später in Franziska Linkerhand aufwerfen wird, stellen eine Nebenhandlung dar.

Mit den unterschiedlichen Positionen des Bruders einerseits und andererseits denen eines alten malenden KPD-Arbeiters, stellt sie die Forderungen des sozialistischen Realismus nach "positiven, vorbildhaften, optimistischen Helden mit marxistisch-leninistischer Parteilichkeit" nicht in Frage (Elisabeth), behandelt sie aber viel diffiziler. Die Menschen sind nicht nur schwarz-weiß im Sinne dieser ab 1932 in der Sowjetunion propagierten Kunstrichtung. Damit wird die Geschichte lesbar, es erstaunt fast, dass sie erscheinen konnte. Allerdings liegen hier große Teile des Originals vor, welches den Gedanken, dass die Autorin die Vorgaben für eine sozialistische Kunst und Kultur anfängt, kritischer zu sehen, aufkommen lässt.

Beim Erscheinen der Erzählung gab es viele Diskussionen in Ost und West, macht sie doch die Tragödie, die sich mit der Teilung ergab, „aufs Schmerzlichste erfahrbar.“

Diese sehr lesbare Geschichte aus einer Zeit, die heute den meisten nicht aus eigenem Erleben geläufig ist, sie wurde in meinem Geburtsjahr veröffentlicht, könnte zu einem Kanon lesbarer deutscher Literatur zählen, die uns besonders die Teilungsgeschichte näher bringen kann.

Es scheint nun dreißig Jahre nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten eine Zeit gekommen sein, da bestimmte DDR-Literatur als Möglichkeit der Kunst- und Literaturrezeption wieder hervor tritt. In diesem speziellen Fall tut aber der plötzliche Fund der Originalkapitel, die Brigitte Reimann beim Umzug von Hoyerswerda nach Neubrandenburg 1968 vergaß, sein Übriges. Warum, sie die nicht mitgenommen hat, kann sie uns leider nicht mehr beantworten.

Dafür bekommen wir im Anhang des Buches einen guten Überblick über die seine weitere Geschichte und auch über Änderungen, die die Autorin wohl vornehmen musste. "Rauher und authentischer" sei der Text nun, nachdem diverse Stellen des Originals dem Text der Erstausgabe wieder beigefügt wurden.

Hier liegt sicherlich auch der Grund, warum auf der Grundlage des Originalmanuskripts die Geschichte einer DDR-Autorin neu veröffentlicht wird, die trotz der Tragödie eine ist, die den gesellschaftlichen Weg des Landes nicht ablehnt, bestimmte Schwierigkeiten aber benennt.

Die Herausgeber betonen am Ende, es sei „das vielleicht beeindruckendste zeitgenössische Buch über die menschlichen Konflikte der deutschen Teilung – eine zeitlose Geschichte über Zugehörigkeit und Individualität, über Loyalität und Mut, für die eigene Vorstellung von Freiheit und Glück einzustehen.“ (S. 163)
Es sind die Vorstellungen von allen dreien: Konrad, Uli und Elisabeth. Und Brigitte Reimann.

Das Buch ist durch die vielen Begleittexte von den Titelinformationen bis zum Anhang überaus informativ, betreffend des Buches selbst, die Editionen und natürlich die Autorin. Zu dieser gibt es demnächst sicher noch einiges hier zu lesen, zum Beispiel zum Briefwechsel mit dem Autor Wolfgang Schreyer.




© Bücherjunge (25.06.2024)

1 Kommentar:

  1. Von Jenny Erpenbeck habe ich hier im Blog schon zwei Bücher vorgestellt: Wörterbuch und Gehen, ging, gegangen.

    AntwortenLöschen

Durch das Kommentieren eines Beitrags auf dieser Seite, werden automatisch über Blogger (Google) personenbezogene Daten, wie E-Mail und IP-Adresse, erhoben. Weitere Informationen findest Du in unserer Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google. Mit dem Abschicken eines Kommentars stimmst Du der Datenschutzerklärung zu.

Um die Übertragung der Daten so gering wie möglich zu halten, ist es möglich, auch anonym zu kommentieren.