DER FÄHRMANN...
Der Roman befasst sich mit dem Leben und Wirken des Jón Magnússon Ósmann, einem Fährmann am Skagafjord, im 19. Jahrhundert. Erzählt wird aus der Ich-Perspektive eines anonymen Ich-Erzählers, der Ósmann bei seinen Wanderungen durch Island immer wieder einmal begegnet. Zu Beginn eines jeden Kapitels wird von der aktuellen Wetterlage und den Auswirkungen auf die Bevölkerung berichtet, und anschließend erwähnt, wie viele Winter Ósmann bereits überlebt hat. In jedem Fall ist dieser Punkt erwähnenswert, denn die Winter sind unglaublich hart, die Todesrate von jung bis alt hoch.
Ósmann betreibt eine Seilfähre am Fabelstrand, bringt Menschen, Tiere, Waren über die Bezirkswasser. Doch er bewirtet die Fahrgäste auch in seiner kleinen Hütte, erzählt ihnen Geschichten und trägt selbstgereimte Verse vor. Dazu gibt es stets einen tüchtigen Schluck aus seiner "Braunen", der nie versiegenden Flasche mit Hochprozentigem. Ósmann liebt die Robbenjagd, seinen Fluss Ós, die Weite des Eises. Er ist stark wie ein Bär und verliert auch bei den traditionellen Ringkämpfen selten. Doch er hat auch eine zarte Seite, liebt die Poesie, und lebt inmitten von Natur und Mythologie.
Doch so stark er auch sein mag - auch Ósmann kann die zahlreichen Unfälle am Ós nicht verhindern, wenn Ungeduldige nicht auf die Fähre warten mögen, sondern versuchen, mit dem Pferd den Fluss zu durchqueren. Nicht selten verschwinden sie in den Wassern und treiben ins Meer hinaus oder werden tot ans Ufer gespült. Für Ósmann schwer zu ertragen, denn er ist der Fährmann, der mit der Aufgabe betraut ist, die Menschen sicher über den Fluss zu bringen.
Noch schwerer aber wiegen die persönlichen Schicksalsschläge, der Verlust von nahestehenden Menschen durch die stetige Auswanderungswelle nach Amerika, durch Wegzug und Tod. Mit jedem Verlust scheint sich Ósmanns melancholische Ader zu verstärken, die Gedanken düsterer zu werden, die Lichtblicke seltener. Und doch liebt er das Land, das Eis und die Wasser und käme selbst nie auf die Idee, irgendwo anders hinzugehen.
Ósmann erinnerte mich zwischenzeitlich ein wenig an den Fährmann Charon in der Unterwelt, der seine Fahrgäste in die Vorhölle bringt. Er sieht Menschen und Geister gleichermaßen, bringt sie ans andere Ufer, das Totenreich ist nie weit weg. Leben und Mythologie sind nicht voneinander trennbar, und durch Schmidts Schilderungen gewann ich den Eindruck, dass das in Island auch gar nicht anders sein kann.
Selten habe ich solch einen atmosphärischen Roman gelesen, so detaillierte Bilder beim Lesen vor Augen gehabt - die Schreibweise von Joachim B. Schmidt ist beeindruckend. Es ist spürbar, wie sehr im Island des 19. Jahrhunderts der Mensch Land, Eis und Wasser das Leben abtrutzen musste, die Kälte, die Hungersnot, die Armut, das ewige Eis, die unwirtlichen Bedingungen, die Krankheiten, die hohe Kindersterblichkeit, der ewige Alkohol, um die Umstände besser ertragen zu können... Und dagegen steht die raue Schönheit der Natur, in der man sich verlieren kann.
Dies ist kein leichter Roman. Man begibt sich mitten hinein in das Erleben Ósmanns, dessen Lebensfreude mit jedem Schicksalsschlag mehr schwindet. Melancholie und Schwermut nehmen immer mehr zu, das Leseerlebnis wird entsprechend bedrückender. Obschon der Schreibstil eigentlich eher distanziert ist, musste ich gerade zum Ende hin doch mehr als einmal schlucken. Dennoch kann man den Roman auch als eine große Liebeserklärung an Island sehen.
Ósmann hat es wirklich gegeben - seine lebensbroße Bronze-Skulptur steht heute noch am Strand des Skagafjord und erinnert an den beliebten Fährmann, der über 40 Jahre lang Menschen, Tiere und Waren über den Fjord beförderte.
Ein in mehr als einer Hinsicht beeindruckender Roman...
© Parden
Ich würde irgendwann gern mal eine Island-Tour machen. Da muss man ja auch ein Buch mitnehmen. In diesem Fall könnte man "nachsehen"...
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