Deutsch genug? - Warum wir endlich über Russlanddeutsche sprechen müssen
Schon der Klappentext beginnt mit Klischees beziehungsweise Vorurteilen:
„Sie wählen rechts, sprechen nur russisch und unterstützen Putin?“ Noch ein paar gefällig? Lauwarmer Wodka mindestens "sto" Gramm; Russen sind kinderlieb, gewaltsam, haben keine Gardinen an den Fenstern, die Ehefrauen sind ziemlich dick und grell geschminkt, Russen und damit auch Deutschrussen, neigen zu mafia-ähnlicher Bandenbildung....
Damit habe ich gleich mal ein paar gängige Klischees von „früher“ mit genannt, wobei, die Wohnblöcke der Offiziersfamilien mit den fehlenden Gardinen und den außen wild geführten Antennenkabeln habe ich gesehen. Dass aus jungen hübschen Frauen nach der Hochzeit Matrioschkas werden, kann ich schon aus fehlender eigener Ansicht nicht bestätigen. Überhaupt fehlt der Kontakt, ich kenne nämlich keine Deutschrussen (Nur eine vor Jahren zugewanderte Ukrainerin, die einen Freund heiratete). Und die letzten Briefpartner waren Kinder aus Ulan-Ude und Irkutsk und das ist fünfzig Jahre her. Im Russischunterricht bekam man, wenn man wollte, Adressen zum Briefe schreiben....
Aber hier geht es ja um „Deutschrussen“. Aber wenn die kein astreines Deutsch sprechen, dann sind es wohl „Russen“?. Egal woher sie kommen oder kamen, aus Kasachstan, Sibirien, Georgien, dem Kaukasus oder der Ukraine, russisch sprachen alle von über 30 Jahren, so auch Ira (Irina) Peter, die kam nämlich 1992 aus Kasachstan, in ihrem sowjetischen Pass stand die Nationalität immer drin, also Russe, Kasache, Deutscher, Pole, Ukrainer, Jude...
Sie lädt die Leserinnen und Leser ein, „...2,4 Millionen Menschen kennenzulernen, von denen die meisten seit über 30 Jahren in diesem Land leben. Menschen, die keine fremden Nachbarn mehr sein mögen.“
Inhalt: Persönlich bin ich immer ziemlich angefressen, wenn in Bezug auf DDR-Geborene von einer „doppelten Diktaturerfahrung“, schlimmer noch von einer „doppelten Diktatursozialisierung“ gesprochen wird. Besonders, wenn die die Attestierung flächendeckend 35 Jahre nach der Wiedervereinigung erfolgt.
Doch wie ist das bei den „Russlanddeutschen“?
Teilweise sind die Familien schon seit mehreren hundert Jahren in Russland ansässig. Orientierte sich schon Zar Peter I. (der Große) nach Europa, tat dies eine deutsche Prinzessin von Anhalt-Zerbst, die als Zarin Katharina die Große genannt wurde, umso mehr. Und sie kamen, die Handwerker und Landwirte, deren wirtschaftliches Existenz in den verschiedenen deutschen Kleinstaaten unsicher geworden war. Land, eine Weile keine Steuern, Religionsfreiheit waren verlockend genug. Das ging soweit alles gut, bis nach dem ersten Weltkrieg. Zuerst die Kollektivierungen und Enteignungen (Kulaken) in den sich nach und nach bildenden Sowjetrepubliken und dann die Deportationen nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion im Juni 1941.
Ira Peter attestiert den den eingewanderten Deutschen eine „postsowjetische Belastungsstörung“ und wo die hehr rührt, darum geht es in ihrem Buch.
Aus den Kapiteln des Buches kann man nicht so ohne weiteres rauslesen, wass einen da erwartet. Die heißen zum Beispiel:
• Die übernatürlichen Kräfte unserer Eltern• Wie Russlanddeutsche zu ihrem Schäferhund kamen• Wie aus Waldemars Schläger wurden• Kleinkasachstans Kinder• Die Würde meiner Eltern ist antastbar• Das große Schweigen oder• Angst wählt Angst
Wann ist man DEUTSCH genug?
Die Sowjetunion hat „irgendwann“ ihre deutschen Staatsangehörigen rehabilitiert, teilweise zogen Familien wieder zurück in die alten Heimat, zum Beispiel nach Wolhynien, andere blieben wo sie waren, die Peters in Kasachstan. In den ehemaligen Häusern (bis 1941) lebten jetzt andere Menschen und Rückübertragung (Ist das ein deutscher Begriff?) War nicht vorgesehen.
Die Bundesrepublik sah es Anfang der Neunziger als Pflicht, etwas für die „Auslandsdeutschen“, die gleich doppelt unter Diktaturen gelitten hatten, erst Stalin, dann Hitler und wieder Stalin, die Sowjetunion nach Stalin, war auch nicht viel besser. Am Anfang war es einfach, der sowjetische Pass und Geburtsurkunden reichten aus, später brauchten die Familien mehr Nachweise, auch einige Generationen zurück. Skurril: Der Nachweis, dass ein Opa in der SS gewesen war, „bewies“ das Deutschsein teils unmittelbar. Ein CSU-Politiker polemisiert dann mal, dass es nur einen deutschen Schäferhund in der Familie der Urgroßeltern gebraucht hätte... (Daher das Schäferhundkapitel)
Die übernatürlichen Kräfte der Eltern erwiesen sich in der Anstrengung erst einmal nach Deutschland
(und bloß nicht nach Thüringen, so Onkel Wowa aus Stuttgart) zu kommen, und dann anzukommen.
(und bloß nicht nach Thüringen, so Onkel Wowa aus Stuttgart) zu kommen, und dann anzukommen.
In „Klein Kasachstan“ sammelte man sich erst einmal, Das Ziel der Familie Peter aber die unbedingte „Assimilation“, die „Integration“. In der Familie wurde deutsch gesprochen und Irina, die sich dann Ira nennen lies um weniger aufzufallen, lernte an der Hochschule wieder russisch. Paradox?
Traurig ist eher, dass es zwar der Neunjährigen leicht fiel, anzukommen, die damals 16jährige Schwester hatte es viel schwieriger. Meist in russischsprechenden Gruppen und in Bars - "Russendisko" - unterwegs, für die Realschule zu alt, fürs Gymnasium reichte es nicht. Der Schulunterricht muss so deutlich anders gewesen sein, dass die Jugendlichen mit der offenen, auf Mitarbeit ausgerichteten Form nicht viel anfangen konnten, waren sie eine Art Drill oder ewiges Auswendiglernen gewöhnt.
In vielen Fällen lesen wir vom Erfolg der zugewanderten Deutschen, Ira Peters Beispiel gilt dafür, aber auch davon, dass für ihre Eltern „die deutsche Gesellschaft imm eine Gesellschaft der anderen geblieben war.“ Das Deutschsein gehörte in der Sowjetunion zur Identität. Darauf war man stolz und berief sich drauf. Die Anerkennung, einschließlich der meist nicht anerkannten Berufsabschlüsse in Deutschland führte dazu, „dass sie bis heute am gesellschaftlichen Leben unbeteiligt geblieben sind.“
Gegenüber Zugewanderten besteht oft eine Skepsis, ein bestimmtes Misstrauen (man schaue sich mal die aktuelle US-Einwanderungspolitik an). Schon die vor der Roten Armee flüchtenden Deutschen aus dem Baltikum und dem heutigen Polen, wurden als „anders“ angesehen und bei weitem nicht überall willkommen geheißen. Dabei spielte mit, dass für diese Wohnraum und Arbeit geschaffen werden musste. Das schuf Angst, etwas zu verlieren; genauso empfinden heute die so manche vor 30 Jahren Eingewanderte gegenüber später zugewanderten und heutigen Flüchtlingen.
Auf der anderen Seite haben Medien durch einseitige Berichterstattung über Maffiabanden, Gewaltexzesse zum weiter bestehenden Misstrauen beigetragen, heute weiter befeuert durch die Behauptung von überproportionaler Putin-Befürwortung und „hochprozentiger“ AfD-Wählerei.
Das Buch: Das Buch besticht durch die anschaulichen persönlichen Erfahrungen in einer großen weitverzweigen Familie, tiefe Recherche und wissenschaftlichen Beistand. Sehr sachlich differenziert die Autorin zwischen den Generationen, die nicht allein wegen der unterschiedlichen Einwanderungszeiträume keine homogene Gruppe darstellen, was Medien, oberflächlich gelesen, gesehen oder gehört, vermuten lassen.
Bemerkenswert für das eBook sind die vielen Links, die dem Fußnotenverzeichnis beigegeben sind. Es geht dabei oft, aber nicht nur um Statistik. Ira Peter nimmt "ihre" nichthomogene Gruppe gelegentlich auf die Schippe, insgesamt lesen wir allerdings ein sehr ernstes Buch. Trotzdem hätte mich interessiert, was die Autorin zu Wladimir Kaminers "Russendisko" zu sagen hätte.
Es ist ein erhellendes Buch, eines das Augen öffnen kann, geschrieben von einer 42jährigen Autorin, die sich öffentlich mit „russlanddeutschen“ Themen auseinander setzt. Zu empfehlen ist da noch der Podcast „Steppenkinder“.
* * *
Fazit: Ohne einen „netzbekannten“ Historiker meiner Generation, wäre ich an diesem Buch vorbei geschrammt. Daher zitiere ich seinen Sätze, die ich vorbehaltlos unterschreibe.
„Wer unsere Gegenwartsgesellschaft verstehen möchte, begreifen will, wie sie geworden ist, welche Probleme es in einer Migrationsgesellschaft zu beachten, zu bearbeiten, zu lösen gilt – der kommt an diesem klugen, wunderbar lesbaren, offenen und so viele Perspektiven bietenden Buch nicht vorbei. Es ist nämlich nicht nur ein Buch über Russlanddeutsche – was ausreichen würde für eine exzellente Empfehlung –, es ist ein Buch – und ich benutze das jetzt ganz bewusst, obwohl ich das fast nie so sage! – über uns alle, für uns alle. Danke!“
Danke, Ira Peter, und Dank an Ilko-Sascha Kowalczuk.
- DNB / penguin Verlag / 19.03.2025 / ISBN:978-3-442-31777-6 / 256 Seiten
© Der Bücherjunge
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