VOM MYTHOS DER NORMALITÄT...
Isor ist ein besonderes Kind - und ja, auch ein schwieriges Kind. Es spricht nicht, reagiert nicht auf seine Eltern, kommt kaum zur Ruhe, nimmt nichts von dem an, was die Eltern ihm beibringen möchten. Isor bekommt Wutanfälle, deren Ursache oft unklar ist, und sie beruhigt sich unversehens, wenn im Fernsehen japanische Sendungen laufen. Dies erfahren wir im ersten Kapitel, wenn abwechselnd aus Sicht der Mutter und des Vaters die Kindheit Isors im Zeitraffer erzählt wird, immer auch mit den Eindrücken und Empfindungen der Eltern einhergehend. Ein hartes Schicksal gerade auch für diese. Ärzte und Fachleute helfen nicht weiter, niemand findet eine Antwort auf die Frage, was mit diesem Kind los ist, bis die Eltern beschließen: Schluss jetzt. Niemand bekommt Isor mehr zu Gesicht, die Familie bleibt isoliert.
Während der Vater eher verzweifelt-hilflos auf Isors "Naturgewalten" reagiert, obschon seine Liebe dabei auch deutlich wird, bemüht sich die Mutter eher um ein Verstehen der Verhaltensweisen ihrer Tochter - sie versucht den Sinn dahinter zu sehen, was es ihr erleichtert, diese hinzunehmen. Durch die tagebuchartigen Skizzen und protokollartigen Stellungnahmen der Eltern ist dies ein sehr eindringliches Leseerlebnis - was für Bilder im Kopf dabei entstehen! Im zweiten Kapitel kommt es dann zu einem abrupten Perspektivwechsel. Die Eltern bitten den alten Nachbarn Lucien, für einige Stunden auf Isor aufzupassen. Daraus entwickelt sich unversehens eine tiefe Freundschaft zwischen dem Mittsiebziger und der anfangs 13jährigen Isor, und es ist Lucien, aus dessen Sicht die Ereignisse der folgenden Jahre erzählt werden. Diese Freundschaft bewirkt allmählich eine Veränderung des Mädchens, das plötzlich Fähigkeiten zeigt, die zuvor nicht zu ahnen waren. Das dritte Kapitel schließlich beinhaltet erneut einen Perspektivwechsel samt Ortswechsel weg von Paris - und eine große Überraschung, die hier natürlich nicht verraten wird.
Haben mich die Perspektivwechsel und dadurch auch die Änderung des Schreibstils zunächst irritiert, fand ich den Roman letztendlich doch herausragend komponiert. Auch habe ich im Verlauf aufgehört, mich über einige unlogische oder wenig vorstellbare Details zu wundern, sondern beschlossen, diese Erzählung eher als ein modernes Märchen zu sehen. Sehr gut gefallen hat mir dabei die empathische Haltung allen Figuren gegenüber, die auch mit dem Mythos von Normalität bricht.
Ein überaus interessant konstruierter Debütroman (die Autorin war gerade einmal 21 Jahre alt, als sie ihn schrieb), der mich überrascht und fasziniert hat. Leseempfehlung!
© Parden
Wechsel von Perspektive und Schreibstil: das liest sich interessant
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