Freitag, 13. Juni 2025

Renard, Alice: Hunger und Zorn

  

Wenn die kleine Isor von ihren Streifzügen zurückkehrt, kann ihre Mutter nur erahnen, wo sie war. Mit den Fingern löst sie die Zöpfe der Tochter, findet Löwenzahnblüten, Grashalme, einen Käfer. Erzählen wird Isor nichts – denn Isor ist nicht wie andere Kinder. Sie spricht nicht, lernt nicht, lebt in stummen Gedanken und tobenden Wutausbrüchen. Gefangen in einer Realität, die nicht die ihre ist, treibt sie ihre Eltern in die Verzweiflung. Bis sie eines Tages auf Lucien von nebenan trifft und in dem vorsichtigen, einsamen Alten eine verwandte Seele erkennt. Alice Renard erzählt von einem ungewöhnlichen Mädchen und einer ungleichen Freundschaft, vom Brodeln unter der Oberfläche, vom Mythos der Normalität und der Suche nach einer Welt, die groß genug ist für das Unerwartete. (Verlagsbeschreibung)

DNB / Unionsverlag / 2025 / ISBN: 978-3-293-00627-0 / 160 Seiten
 

  
Kurzmeinung: Welche Möglichkeiten gibt es für ein besonderes, schwieriges Kind? Interessant konstruierter Debütroman mit verschiedenen Perspektiven...


 

 

 

 

 

 

 

 

 

VOM MYTHOS DER NORMALITÄT...

 


Isor ist ein besonderes Kind - und ja, auch ein schwieriges Kind. Es spricht nicht, reagiert nicht auf seine Eltern, kommt kaum zur Ruhe, nimmt nichts von dem an, was die Eltern ihm beibringen möchten. Isor bekommt Wutanfälle, deren Ursache oft unklar ist, und sie beruhigt sich unversehens, wenn im Fernsehen japanische Sendungen laufen. Dies erfahren wir im ersten Kapitel, wenn abwechselnd aus Sicht der Mutter und des Vaters die Kindheit Isors im Zeitraffer erzählt wird, immer auch mit den Eindrücken und Empfindungen der Eltern einhergehend. Ein hartes Schicksal gerade auch für diese. Ärzte und Fachleute helfen nicht weiter, niemand findet eine Antwort auf die Frage, was mit diesem Kind los ist, bis die Eltern beschließen: Schluss jetzt. Niemand bekommt Isor mehr zu Gesicht, die Familie bleibt isoliert.

Während der Vater eher verzweifelt-hilflos auf Isors "Naturgewalten" reagiert, obschon seine Liebe dabei auch deutlich wird, bemüht sich die Mutter eher um ein Verstehen der Verhaltensweisen ihrer Tochter - sie versucht den Sinn dahinter zu sehen, was es ihr erleichtert, diese hinzunehmen. Durch die tagebuchartigen Skizzen und protokollartigen Stellungnahmen der Eltern ist dies ein sehr eindringliches Leseerlebnis - was für Bilder im Kopf dabei entstehen! Im zweiten Kapitel kommt es dann zu einem abrupten Perspektivwechsel. Die Eltern bitten den alten Nachbarn Lucien, für einige Stunden auf Isor aufzupassen. Daraus entwickelt sich unversehens eine tiefe Freundschaft zwischen dem Mittsiebziger und der anfangs 13jährigen Isor, und es ist Lucien, aus dessen Sicht die Ereignisse der folgenden Jahre erzählt werden. Diese Freundschaft bewirkt allmählich eine Veränderung des Mädchens, das plötzlich Fähigkeiten zeigt, die zuvor nicht zu ahnen waren. Das dritte Kapitel schließlich beinhaltet erneut einen Perspektivwechsel samt Ortswechsel weg von Paris - und eine große Überraschung, die hier natürlich nicht verraten wird.

Haben mich die Perspektivwechsel und dadurch auch die Änderung des Schreibstils zunächst irritiert, fand ich den Roman letztendlich doch herausragend komponiert. Auch habe ich im Verlauf aufgehört, mich über einige unlogische oder wenig vorstellbare Details zu wundern, sondern beschlossen, diese Erzählung eher als ein modernes Märchen zu sehen. Sehr gut gefallen hat mir dabei die empathische Haltung allen Figuren gegenüber, die auch mit dem Mythos von Normalität bricht. 

Ein überaus interessant konstruierter Debütroman (die Autorin war gerade einmal 21 Jahre alt, als sie ihn schrieb), der mich überrascht und fasziniert hat. Leseempfehlung!


© Parden

 

 

 

 

 

Alice Renard, geboren 2002 in Paris, studierte mittelalterliche Literatur an der Sorbonne. Sie beschäftigt sich intensiv mit den Themen Neurodiversität und Hypersensibilität. Im Alter von sechs Jahren wurde Renard selbst als frühreif eingestuft, mit vierzehn Jahre begann sie zu schreiben. 2023 erschien ihr Debütroman Hunger und Zorn, der für den Prix Fémina, den Prix du Monde und den Prix des lectrices ELLE nominiert war und mit dem Prix Méduse und dem Prix littéraire de la Vocation ausgezeichnet wurde. (Quelle: Unionsverlag)

 

 

1 Kommentar:

Durch das Kommentieren eines Beitrags auf dieser Seite, werden automatisch über Blogger (Google) personenbezogene Daten, wie E-Mail und IP-Adresse, erhoben. Weitere Informationen findest Du in unserer Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google. Mit dem Abschicken eines Kommentars stimmst Du der Datenschutzerklärung zu.

Um die Übertragung der Daten so gering wie möglich zu halten, ist es möglich, auch anonym zu kommentieren.