Donnerstag, 4. August 2022

Fontane, Theodor: Das Trauerspiel von Afghanistan

Fontane 1860 - Wikipedia

Nun ist es ein Jahr her, dass sie die freie, die demokratische Welt sich plötzlich aber nicht unerwartet aus einem Land zurück zog, von dem ich vermutlich erstmals hörte, als Präsident Mohammed Nadschibullāh 1979 die Sowjetunion um Hilfe zu Sicherung der Macht in der Demokratischen Republik Afghanistan bat. Zumindest rückte das Land in den Fokus der Welt, vor allem der westlichen Welt, die alles dafür tat, dass die Allianz nicht erfolgreich blieb. Stinger gegen Mi-24 Hind in den Händen von Anhängern eines Osama bin Laden. Doch um den soll es gar nicht gehen.

Als ich Drachenläufer von Khaled Hosseini las, schrieb ich bei den Buchgesichtern eine inzwischen verschollene Buchgeschichte mit dem Titel Drachen über dem Himmel von Kabul. Das ist so lange her, dass die Rezension seltsamerweise keinen Platz auf unserem Blog fand. Es war tröstlich, dass die Kinder in Kabul wieder Wettkämpfe im Drachensteigen veranstalteten.


Als die Sowjets 1989 das Land verließen, wurde oft darüber gesprochen, gegebenenfall schwadroniert, dass es keine ausländische Macht schaffen könnte, dauerhaft ihre Interessen vor Ort zu vertreten.

Plötzlich stoße ich auf eine Ballade von Theodor Fontane mit dem Titel Das Trauerspiel von Afghanistan. Bei Jay, dem Betreiber von Silvae 



Remnants of an Army
 von Lady Butler.
Dr. Brydon, der vermeintlich einzige Überlebende
aus Elphinstones Armee
erreicht Dschalalabad
Wikipedia

Der Schnee leis stäubend vom Himmel fällt,
Ein Reiter vor Dschellalabad hält,
„Wer da!“ – „„Ein britischer Reitersmann,
Bringe Botschaft aus Afghanistan.“

„Afghanistan“! er sprach es so matt
Es umdrängt den Reiter die halbe Stadt,
Sir Robert Sale, der Commandant,
Hebt ihn vom Rosse mit eigener Hand.

Sie führen in’s steinerne Wachthaus ihn,
Sie setzen ihn nieder an den Kamin,
Wie wärmt ihn das Feuer, wie labt ihn das Licht,
Er athmet hoch auf und dankt und spricht:

„Wir waren dreizehntausend Mann,
Von Cabul unser Zug begann,
Soldaten, Führer, Weib und Kind,
Erstarrt, erschlagen, verraten sind.“

„Zersprengt ist unser ganzes Heer,
Was lebt, irrt draußen in Nacht umher,
Mir hat ein Gott die Rettung gegönnt,
Seht zu, ob den Rest ihr retten könnt.“

Last Stand at Gundamuck
von William Barnes Wollen.
Heroisierende Darstellung der Niederlage
der britischen Truppen bei Gandamak
Wikipedia

Sir Robert stieg auf den Festungswall,
Offiziere, Soldaten folgten ihm all’,
Sir Robert sprach: „Der Schnee fällt dicht,
Die uns suchen, sie können uns finden nicht.“

„Sie irren wie Blinde und sind uns so nah,
So laßt sie’s hören, daß wir da,
Stimmt an ein Lied von Heimath und Haus,
Trompeter, blas’t in die Nacht hinaus!“

Da huben sie an und sie wurden’s nicht müd’,
Durch die Nacht hin klang es Lied um Lied,
Erst englische Lieder mit fröhlichem Klang,
Dann Hochlandslieder wie Klagegesang.

Sie bliesen die Nacht und über den Tag,
Laut, wie nur die Liebe rufen mag,
Sie bliesen – es kam die zweite Nacht,
Umsonst, daß ihr ruft, umsonst, daß ihr wacht.

Die hören sollen, sie hören nicht mehr,
Vernichtet ist das ganze Heer,
Mit dreizehntausend der Zug begann,
Einer kam heim aus Afghanistan.


Wie kam denn ausgerechnet Fontane dazu sich diesem Thema zu widmen? Fontane war Auslandskorrespondent in London, als sich die Niederlage der britischen Kolonialarmee, die in Afghanistan ihre Rolle gegen Indien und Pakistan festigen wollte, die Nachrichten bestimmte, über zehn Jahre nach dem Ereignis.

Sehr prägnant erzählt davon Dr. Ulrike Mieike auf ihrem Blog.

"Doch bei allem Leid, welches den Briten widerfuhr, wird Gewalt gegen sie nur in nuce erwähnt. Die afghanischen Feinde, in diesem Falle die Täter, treten als grammatikalisches Agens nicht in Erscheinung. Sie werden auf die drei attributiv den Opfern zugeschriebenen Perfekt-Partizipien „erschlagen, verraten“ (V. 16) und „vernichtet“ (V. 38) reduziert. „Diese Art der Negation ist typisch für die Kolonialrhetorik, die den Subjektstatus der Kolonialisierten in Abrede stellt und zugleich das Kräfteverhältnis zugunsten der Kolonialmacht stärkt“ (Chambers 2014, S. 272). Selbst in der Niederlage lässt Fontane die Briten mächtig erscheinen und stellt sie als Lichtbringer, Liebes- und Wärmespender (vgl. V. 10–11, 34) in einer eisigen Welt (vgl. V. 1, 16, 23) dar."

Das habe ich beim Friedrich-Verlag unter Kolonialismus in den Gedichten Fontanes gefunden. Das ist eine Seite mit Lehrermaterial für die Fächer Deutsch und viele andere. 

Die Ballade ist ziemlich bekannt, jedoch stieß ich selbst erst heute darauf. Sie ist sogar so bekannt, dass Nina Hagen sich des Textes annahm. Und da selbst der emeritierte Professor für englische und amerikanische Literatur aus Kiel Nina für seinen Beitrag heranzog, wiederhole ich das einfach mal.




Mit zehntausenden der Zug nach nine eleven begann,
überstürzt verschwanden sie letztes Jahr aus Afghanistan.

© Bücherjunge (18.09.2023)

1 Kommentar:

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