Donnerstag, 23. Juli 2020

Goldammer, Frank: Zwei fremde Leben

Dreißig Jahre ist es nun her, dass Deutschland wieder zueinander gefügt wurde. Zumeist zum Guten für seine Bürgerinnen und Bürger, von den allermeisten zur Kenntnis genommen, von vielen erfreut begrüßt, von manchen gefürchtet: Niemandem sollte es schlechter gehen, „blühende Landschaften“ verhieß der Bundeskanzler und ja, schauen wir uns doch einmal um, das lässt sich bestätigen. Für jeden?

Frank Goldammer bewegt sich seit einigen Jahren in die Geschichte des Landes(teils), in dem er geboren wurde, er hat den Buchhelden seiner Heimatstadt gefunden in Max Heller, dem Kriminalisten der ersten fünfzehn Jahre der DDR. Fünf Bücher sind es bereits und bald erscheint der sechste Roman.

In der Mitte dieses Jahres verlässt Goldammer erst einmal die fünfziger Jahre, um sich einem ernsten Thema zu widmen, welches in einem Roman zu kleiden nicht das Einfachste ist. Ein Thema, das im dreißigsten Jahr des Mauerfalls schon passt.



Im Frauenklinikum der Medizinischen Akademie Carl Gustav Carus liegt im Jahr 1973 Ricarda Raspe in den Wehen. Der Chefarzt selbst ist dabei, um seinem ersten Enkel auf die Welt zu helfen. Doch irgendwas geht fürchterlich schief. Ricarda selbst glaubt nicht an den Tod des Kindes, zumal sie das Baby nicht zu sehen bekommt. Vorschrift in DDR-Kliniken? Oder ist Ricarda Raspe das Kind staatlich entzogen worden? Sie beginnt mit einer verzweifelten Suche, obwohl Prof. Dr. Raspe immer beteuert, dass das Kind die Geburt nicht überlebte.

Auf den Verlobten der Ricarda Raspe trifft vor der Klinik ein Polizist. Thomas Rust, Leutnant der Kriminalpolizei, treibt sich als werdender Vater ebenfalls vor der Geburt des eigenen Kindes vor dem Klinikum rum. Thomas Weber erzählt ihm, dass er den Tod des Kindes unterschriftlich bestätigen soll. Rust wird ermitteln, die Recherchen und eine Zusage werden siebenundzwanzig Jahre später seine Polizeikarriere abrupt beenden. Zunächst geht er von Schlamperei, Kunstfehlern und Vertuschung aus...

Fünfzehn Jahre (?) alt ist Claudia Behling im Jahre 1989. Sie lebt in einer Familie mit ihrem Bruder, der Vater ist ein hohes Tier im Außenhandel. Immer muss sie die Beste sein, da versucht sie, was viele taten: Sie will diese Republik verlassen – und wird festgenommen. Die Genossen liefern das Mädchen zu Hause ab mit dem deutlichen Hinweis an den Genossen Behling, dass man von nun an ein Auge auf ihn und die Tochter haben wird. Doch der Mutter rutscht in der folgenden handgreiflichen Auseinandersetzung, gerade bekam sie von der nicht minder entsetzten Tochter eine Ohrfeige, ein folgenschwerer Satz heraus. „Du bist nicht unser Kind!“ 

Claudia Behling macht sich auf die Suche...

Damit beginnt die knapp 400seitige Geschichte um die Suche nach einem Kind, der eigenen Vergangenheit von drei Personen. Es wird Jahre dauern, bis sie sich begegnen.

* * *

Wie oft entscheiden staatliche Stellen, ob die Erziehung eines oder mehrerer Kinder nicht mehr bei den leiblichen Eltern stattfinden soll? Die Statistik sagt, dass im Jahr 2018 insgesamt 52.590 Minderjährige durch Jugendämter in Obhut genommen wurden. Wegen Gefährdung des Kindeswohls, die anders nicht abzuwenden war, haben Familiengerichte in Deutschland 2018 in 16.035 Fällen den vollständigen oder teilweisen Entzug der elterlichen Sorge angeordnet. Dies darf nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch nur nach gerichtlichem Beschluss erfolgen. Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 2014  genau dies noch einmal herausgestellt und die Kriterien konkretisiert.

Die Zeit
Grundsätzlich hätte dies in der DDR nicht anders aussehen sollen, die Wirklichkeit aber zeigte auch politisch ausgerichtete Entscheidungen. Kinder von straffälligen Eltern, oder Kinder, deren Eltern bei der Republikflucht festgenommen wurden, kamen in die Obhut von Jugendämtern und wenn Großeltern, Tanten, Onkel oder ältere Geschwister nicht als zuverlässig galten, dann war Zwangsadoption ein Mittel, die Kinder einer Erziehung zu sozialistischen entwickelten Persönlichkeiten zuzuführen. Über die folgende Zwangsadoption schrieb zu den Zeiten, in denen Ricarda nach ihrem Kind zu suchen begann und Claudia geboren wurde, DIE ZEIT einen Artikel. Hier wurde die Zwangsadaption auch als inkognito beschrieben. Über den Verbleib der Kinder gab es keine Mitteilung. Auch nicht an das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, wenn die Eltern ausgewiesen oder gar freigekauft worden.

Nachträglich schüttelt es mich immer noch wenn ich das lese. Auch wenn der Artikel aus dem Jahr 1975 stammt. Es erinnert an WEISSENSEE, den deutschen Mehrteiler, in dem dies sogar dem Sohn einen Stasi-Generals geschieht, dessen Freundin die gemeinsame Tochter in Hoheneck (Frauengefängnis) zur Welt bringt.

Hinzu kommt, das war doch nicht vollkommen geheim zu halten, die Menschen in der DDR hatten doch Verwandte und die unterhielten sich doch auch. Das ist das Problem, an welches man denkt, liest man Klappentext und Verlagsanzeige des dtv – Verlages zum aktuellen Roman von Frank Goldammer.

* * *

Doch Frank Goldammer schrieb ja kein Sachbuch sondern einen Roman. Man ist gewohnt, das die Geschichte nicht einfach solchen bekannten Geschehnissen folgt – es geht natürlich diffiziler zu. Darauf in einer Rezension einzugehen, die am Tag des Erscheinens des Buches veröffentlicht wird, verbietet sich, denn die Spannung soll sich ja erhöhen und nicht gleich abgebaut werden.

Und so möchte ich nur diesen Thomas Rust gesondert erwähnen, der mich berührt und der doch so anders ist als Max Heller. Denn Thomas Rust sieht sich durchaus als Kommunisten, einer, der zu diesem Staat und der Partei, die die führende Rolle sogar lauf Verfassung beansprucht, steht. Ermittelt er erst in Sorge um das eigene, noch ungeborene Kind, so vermutet er im Weiteren eine Schweinerei, vielleicht hätte er eine politische Entscheidung akzeptiert, hätte er sie zur Kenntnis erhalten. Mehr noch, Rust erwägt, dem Polizeidienst eins drauf zu setzen und bietet an, hauptamtlicher Mitarbeiter im Ministerium für Staatssicherheit zu werden. Der Führungsoffizier bedeutet ihm zwar, dass die sich in der Regel an den gewünschten Nachwuchs selber suchen, aber es kommt eine Zeitlang zur Zusammenarbeit, die durch aus mit Rusts Ermittlungen zu tun hat, welcher tatsächlich ein Baby in seltsamen Umständen findet. Dass er im Zuge seiner, eher eigenständigen, privaten Ermittlungen mit Zwangsadoption und Medikamententests für westdeutsche Pharmafirmen konfrontiert wird, hätte er nicht erwartet. 

Der geschilderte Umgang mit einem eventuell zukünftigen Genossen unter dem Schild und mit dem Schwert der Partei in der Hand, welcher zu einer letztendlichen Absage der Zusammenarbeit führt, erschien mir allerdings etwas eigenartig.

Rust bleibt hartnäckig und wird Teil der Lösung, die sich ähnlich wie oben geschildert entwickelt und sich doch ganz anders präsentieren wird.

So erinnert er mich an den anderen Kriminalisten, der lange vor ihm in Dresden der Kriminalpolizei angehörte. Das ihm der Polizeidienst nach 1990 verwehrt blieb, fand ich schade.

Fünfundvierzig Jahre umfasst der Roman. Goldammer springt in achtunddreißig Kapiteln zwischen mehreren Zeitebenen hin und her. Mal wähnt sich der Leser fast am Ziel, schüttelt aber den Kopf, weil da noch so viele Seiten übrig sind. Goldammer bleibt seinem Stil treu, nichts ist so, wie es das „Klischee“ vorgibt und so erzählt er auch mit den Beschreibungen von Land und Leuten ein Stück DDR-Geschichte und davon, wie sie unterging. Arbeitssuche, miese Jobs, Betrügereien, Orientierungslosigkeit nach der Wende, das alles findet seinen Platz in Goldammers Roman.

* * *'


Frank Goldammer ist ein gutes, ein spannendes Buch gelungen. Schwarz-Weiß-Malerei ist seine Sache nicht. Es ist so anders als Die geteilten Jahre von Matthias Lisse, von denen ich vor sechs Wochen schrieb. Die Bücher stehen trotzdem nebeneinander und im dreißigsten Jahr, nachdem ich durch die Entscheidung anderer zum BRD-Bürger wurde, passt das ganz gut. Erinnern ist bei so vielen Dingen notwendig und hilft, die eigene Linie zu verfolgen. Es ist schon toll, dass zum Lesen die Gespräche mit Frank, Matthias und einem literarischen Sternwarten-Pächter aus der Nähe von München kommen. (Münchener Rezension) Daher ist dies vermutlich nicht der letzte Post zu Buch und Thema.

Über das Buch und seine Hintergründe erzählt Frank Goldammer im MDR-Sachensspiegel in der ARD-Mediathek.

Und nun? Wird dies Tradition? Zwei Bücher pro Jahr von Frank Goldammer, dem Malermeister aus Dresden, allein erziehender Vater von Zwillingen, der sich zum Vielschreiber entwickelt? Also ich warte auf Weihnachten und Heller 6.



  • DNB / DTV / München 2020 / ISBN: 978-3-423-26255-2 / 395 Seiten





© Bücherjunge



2 Kommentare:

  1. Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.

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  2. Wieder eine sehr differenzierte Buchbeschreibung, die tatsächlich neugierig macht...

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