Samstag, 21. Dezember 2019

Gansel, Carsten: Meinst Du, die Russen wollen..."

Ein Moskauer Tagebuch


„Meinst du, die Russen wollen Krieg?“ – Das fragte einst Jewgeni Jewtuschenko (1932 – 2017) in seinem Poem, mehrfach vertont - ein sehr eindringlicher Text. Nun liegt ein Buch vor mir auf dem Tisch, das trägt einen ähnlichen Titel, nur wurde das Wort Krieg weggelassen. Das Antikriegsgedicht mal wieder zu lesen, erscheint angesichts der derzeitigen Russlandpolitik geboten. Der Autor des vorliegenden Moskauer Tagebuches verweist auf den Text und druckt ihn am Ende auch ab mit dem weiteren Hinweis auf die Rezitation durch Ben Becker.
Das aus einem ursprünglichen Blog entstandene Tagebuch bezieht sich allerdings bei Weitem nicht nur auf das Thema "Krieg". Literatur, Kultur, politische und historische Beziehungen werden beleuchtet, ebenso wie die Rolle von Literatur und Medien in der heutigen politischen (deutschen) Landschaft. 



* * *

Хотят ли русские войны? / Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Спросите вы у тишины / befrag die Stille, die da schwieg
Над ширью пашен и полей, / im weiten Feld, im Pappelhain,
И у берёз и тополей. / Befrag die Birken an dem Rain.
Спросите вы у тех солдат, / dort, wo er liegt in seinem Grab,
Что под берёзами лежат, / den russischen Soldaten frag!
И вам ответят их сыны - / sein Sohn dir drauf Antwort gibt:
Хотят ли русские, / Meinst du, die Russen woll’n,
Хотят ли русские, / Meinst du, die Russen woll’n,
Хотят ли русские войны! / meinst du, die Russen wollen Krieg?


* * *

Ja, es ist der Titel des Buches, der mir ins Auge sprang. Ein Buch – ein „mecklenbook“ der Nordkurrier Mediengruppe. Der NORDKURIER ist die hiesige Tageszeitung. Das Buch wurde von Carsten Gansel, geboren  1955 in Güstrow, Professor für Neuere Deutsche Literatur und Mediendidaktik in Gießen, herausgebracht. Der Professor hat eine gewisse Affinität zu Russland, was sich sehr positiv äußert. Mal abgesehen davon, dass er schulrussisch lernte, promovierte er als Germanist und Literaturwissenschaftler an der damaligen Pädogogischen Hochschule in Güstrow. Das erklärt dieses Interesse für russischen Kunst, Kultur und Literatur, da es im ersten Augenblick immer noch auffällt, dass ein Gießener Professor für dieses Tagebuch verantwortlich zeichnet.


Professor Gansel hat vor wenigen Jahren bei Recherchen in russischen Archiven die Originalmanuskripte der beiden autobiografisch geprägten Romane des Heinrich Gerlach gefunden. DURCHBRUCH BEI STALINGRAD und ODYSSEE IN ROT. Die Edition der beiden mit umfangreichen Nachwörtern versehenen Romane über Krieg und Kriegsgefangenschaft lassen uns das Elend des Krieges plastisch vor Augen treten, DURCHBRUCH BEI STALINGRAD war eines der eindringlichsten Antikriegsbücher, die ich je gelesen habe. siehe hier

Nun also dieses Moskauer Tagebuch, auf das ich vor allem wegen dieser Gerlach-Romane und Carsten Gansel aufmerksam wurde.

Es geht hier nicht um einen Professor mit Ost/West – Vergangenheit und Gegenwart, aber um bestimmte Haltungen zur Politik für, mit oder gegen Russland, angesichts der Nachrichten in dieser Woche von Sanktionen der USA gegen Staaten und Firmen, die an den letzten Kilometern der Nordstream Erdgasleitung bauen. 

* * *

Das Buch, entstand nach einer Gastdozentur an der staatlichen Landesuniversität Moskau im Wintersemester 2017/2018. Im Interview von Sputniknews erklärt Gansel warum er auf das Angebot des NORDKURIER einging, über den Besuch zu bloggen.  

„Aber da ich in jeder Hinsicht offen und neugierig nach Moskau gekommen bin, dachte ich, es könnte in der Tat auch für Leser interessant sein. Auch deshalb, weil es mir nicht darum ging, in Deutschland vorgefertigte Wertungen zu bestätigen, sondern mir wichtig war, mich in Moskau und Russland auf einen Prozess einzulassen und möglichst vielfältige Erfahrungen zu sammeln.“ (Sputniknews)


Das Tagebuch: Der Gastdozent erzählt von unterschiedlichen Unterkünften, in denen er wohnt. Wohnheimen, Hotels, in Wohnungen mitten im Zentrum, in belebten Straßen. Zum Beispiel in einer der bekanntesten, der Twerskaja. Er besucht Museen, Theateraufführungen, natürlich das Bolschoi, die Tretjakowgalerie und Kinos. Wer schon einmal in Moskau war, vor dessen Augen erscheinen wieder die Metrostationen, die Kunstausstellungen oder Palästen gleichen. Natürlich geht es viel um Literatur (Puschkin, Bulgakow, Pasternak, Aitmatow...) und um Medien.


Metro, Tretjakowgalerie, Hotel Lux, Kaufhaus GUM - Buchseiten

Die Geschichte führt Gansel zum Hotel „Lux“, das Hotel, in dem deutsche Emigranten während des Krieges lebten und überlebten und dazu Opfer stalinistischer Repressalien wurden. Mit Waltraud Schädicke, die 18 Jahre in diesem Bau lebte, unterhält sich der Autor. In einem anderen Kapitel geht es um die Rückschau auf die Oktoberrevolution. 

Das Verhältnis von Deutschen und Russen, das muss nicht dasselbe sein wie Deutschland und Russland, ist natürlich mehrfach Thema: Zum Beispiel in einer Veranstaltung in der deutschen Botschaft, in der es um deutsch-russische Geschichte und Verbindungen geht. Darum, dass es seit Schröder keine deutsche Ostpolitik gibt, weil Deutschland „Bestandteil des kollektiven Westens“ ist, während Russland eben nicht dort integriert ist. Auch gibt der Vortragende Professor Pawlow vom Moskauer Institut für diplomatische Beziehungen zu Bedenken, dass Russland betreffend des Themas „Krim“ von Gerechtigkeit und Geschichte spricht, die EU dagegen von „Recht“ und das ohne Geschichte. Russlands Bürger würden trotzdem in „ihrer Gunst gegenüber Deutschland nicht nachlassen, man mag Deutschland nach wie vor“. (Seite 143 ff)

Das ist doch interessant und wird in deutschen Leitmedien momentan eher nicht berücksichtigt, womit wir genau bei diesen wären. Der Medienwissenschaftler verweist mehrfach auf die Rolle der Medien und bezeichnet sie auch als „vierte Gewalt“ wenn sie anfangen, Meinungen zu bilden oder den Leser, den Hörer „an die Hand nehmen zu müssen“. Interessanterweise verbindet Gansel dies mit Wolfgang Schreyer, der über solche Praktiken verblüffenderweise 1967 in der DDR schrieb, wenn Verlage den Rezipienten aus dem Blick verlieren.* Nebenbei bekommt der Leser, also ich, gleich noch einen Tipp für den Briefwechsel zwischen Wolfgang Schreyer und Brigitte Reimann, den der Autor mit herausgegeben hat.


* * *

Das Tagebuch bietet nicht nur einen Blick auf das Moskau dieser Tage, die Arbeit des Literatur- und Medienwissenschaftlers ist unter aktuellster Bezugnahme auf gegenwärtige Beziehung zu Russland Gegenstand der Veröffentlichung. Über die Entstehung spricht Gansel in dem anhängten Gespräch mit Frank Wilhelm über „Russland heute und gestern“. Darin erläutert der Professor dann seine Darstellung der Rolle von Medien, besonders den Leitmedien, wenn diese, „statt ihren journalistischen Job zu machen, die Rolle des Regierungssprechers übernehmen.“ (Vgl. Seite 284 ff) Er spricht also bewusst nicht von DEN Medien. Gerade dieses Gespräch zeigt eine deutliche Differenzierung z.B. journalistischer Aspekte, womit die Presse, die Medien nicht populistisch über einen Kamm geschert werden. 

Allein dieser Anhang ist es schon Wert gelesen zu werden, wenn pauschal von „Lügenpresse“ gesprochen (oder geschrien) wird. Der Blick des Autors auf die Themen Krim, Nato-Osterweiterung, baltische Staaten und die Ukraine, nicht zuletzt auf Putin, setzt sehr überlegenswerte Akzente. 

Carsten Gansel
Nein, man wird nach der Lektüre sicherlich nicht zum sogenannten „Russland-Versteher“; ein sehr abwertender, auch in den deutschen Medien gelegentlich verwendeter Begriff. Die Leser aber dürfen einen anderen Blick auf Russland, als den politisch und medial momentan verbreiteten, genießen.

Aus dem Epilog: Am Ende schreibt Carsten Gansel über einen Besuch Wolgograds, den er mit dem ZDF unternahm für einen Beitrag zu den erwähnten Romanen von Heinrich Gerlach. Am Ort der Schlacht von Stalingrad werde einem "erst die Dimension des Geschehenen" bewusst, wenn heute noch "Gefallene aus der Erde geborgen werden und behutsam nach Nationalität getrennt links und rechts der Straße auf den Friedhöfen beigesetzt werden." (Seite 322/323) Die russisch deutsche Übersetzerin sprach traurig über die sich verschlechternden deutsch-russischen Beziehungen, erkennbar daran, dass seit 2015 "kaum noch Gruppen von jungen Leuten aus Deutschland kommen, die früher jedes Jahr bei der Betreuung und Instandsetzung der Gräber gemeinsam mit Gleichaltrigen aus Russland gearbeitet haben." 

Das ist bezeichnend, denke ich, und es täte uns gut, die Politik zu Russland nicht nur zu überdenken, sondern auch zu ändern. Es möge etwas weiter hergeholt sein: "Die Sicherheit des Staates Israel ist deutsche Staatsräson", sagte vor Jahren die Bundeskanzlerin. Sowohl die Politik Israels wie auch die Russlands ist nicht frei von Problemen und ebenso kritikwürdig aus verschiedensten Gründen. Der Satz der Bundeskanzlerin steht im Bezug zum Holocaust. Wo bleibt der Bezug zu den Millionen Toten der ehemaligen Sowjetrepubliken im 2. Weltkrieg? In beiden Fällen muss Deutschland bei zwingend notwendiger Kritik an politischen Gegebenheiten nicht nur von Gesprächsbereitschaft reden, sondern die Hand zum Ergreifen hinhalten und zudrücken.

* Allerdings bezog sich Schreyer hier auf die Wirksamkeit sozialistischer Propaganda, wenn diese vor allem dozierend und belehrend daher kam. Die Wirkung allerdings war ähnlich. 

Vergleiche auch Teltschik: Russischen Roulette.

  • DNB / mecklenbook / Neubrandenburg 2018 / ISBN: 978-3-946599-49-4 / 
© Bücherjunge



3 Kommentare:

  1. Ein eindringliches Plädoyer zu einem Thema, das Dir am Herzen zu liegen scheint...

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    1. Nunja, am Herzen liegt...
      Du weißt ja, dass mich Politik und Geschichte, ob alt oder neu interessiert. Vielleicht ist das Russland-Bild in Ost und West tatsächlich unterschiedlich.

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  2. Ich denke weiterhin, liebe Anne, dass das Russland-Bild in Ost und West unterschiedlich ist. Gerade aber tritt dies in den Hintergrund, denn ein Angriffskrieg Russlands, dem Land, welches gerade den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat inne hält, gegen die Ukraine, die gesamte Ukraine, beherrscht die Nachrichten in der Welt.

    Der Autor dieses Buches hat es überschrieben mit dem Titel eines Gedichts von Jewtuschenko. Hoffen wir, dass sich die Russen daran erinnern, anscheinend wachen sie gerade erst auf, da der Krieg in der russischen Bevölkerung nicht bewusst ist, die Propaganda des Kreml behauptet, es gäbe keinen Krieg.

    Heute ist von den Irrtümern die Rede, quer durch Parteien und ehemalige Politiker äußern sich betroffen. Matthias Platzeck ist Vorsitzender des „Deutsch-russischen Forums“, der soeben erst sagte, dieser Angriff wäre „außerhalb meiner Vorstellungskraft“. Das kann ich unterschreiben. Die oben in der Rezension angesprochene Kriegsgräberpflege ist etwas, was sicherlich auch dieses Deutsch-russische-Forum betrifft.

    Vermutlich erst in ferner Zukunft werden wir zu solchen Gedenken zurück finden und dabei doch immer im Blick haben, dass Jewtuschenkos Gedicht von 1961 von nun an immer auch an diese Invasion auf das Nachbarland denken lassen wird.

    Vor 78 Jahren wurden sowjetische, und das heißt russische, ukrainische, weißrussische Soldaten auf dem Gebiet der damaligen SSR Ukraine am Wegesrand begraben

    im weiten Feld, im Pappelhain,
    Befrag die Birken an dem Rain.
    Dort wo er liegt in seinem Grab….

    Nein, es waren nicht nur russische Soldaten, wie in der deutschen Übersetzung, im original wird von русские солдаты nicht gesprochen. sinngemäß werden wieder, und diesmal in der Masse russische Soldaten am Wegesrand begraben, doch diesmal sind sie Aggressoren.

    Es ist das Buch und seine Geschichte, die mich zu diesen Zeilen veranlassen, denn sicherlich liegt der Blick momentan auf den Verteidigern der Ukraine und das mit Recht. Die Bilder, die wir sehen, wie Zivilisten Molotowcocktails-Coctails bauen, wie ukrainische Familienväter ihre Familien an die Grenze bringen und selbst zurückfahren, nicht nur, weil es befohlen ist, verursachen immer noch Kopfschütteln.

    Gemeinsame geschichtliche Wurzeln werden momentan oft betont. Es ist ein Bruderkrieg. Es wäre einfach zu sagen, möge die Ukraine gewinnen. Es wird keine Gewinner geben.

    Das Buch von Professor Carsten Gansel steht dafür Putins Russland nicht mit „die Russen“ gleichzusetzen. In dieser Richtung habe ich durchaus Hoffnung, dass ich im letzten Lebensdrittel noch eine wirkliche Entspannung erlebe, nachdem die Erwartung, dass ein solcher Krieg in Europa nicht möglich wäre, schlicht den Bach runter gegangen ist.

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