Sonntag, 19. Juni 2016

Stephan, Cora: Ab heute heiße ich Margo



Die Geschichte zweier starker Frauen und eines ganzen Jahrhunderts

Stendal in den Dreißigerjahren: Hier kreuzen sich die Wege von Margo und Helene. Margo ist Lehrling in der Buchhaltung, Helene Fotografin. Sie lieben denselben Mann, werden durch den Krieg und die deutsche Teilung getrennt und bleiben doch miteinander verbunden. Die Geschichte zweier Frauen mit einem gemeinsamen Geheimnis, berührend, fesselnd und voller Überraschungen! 

Margo weiß, was sie will: eine anspruchsvolle Arbeit und Verantwortung. Als sie Helene bei Photo-Werner trifft, hat diese schon viel riskiert. Sie ist im Spanischen Bürgerkrieg zwischen die Fronten geraten. Mit ihr taucht Alard von Sedlitz in Stendal auf, ein charismatischer junger Schlesier, in den sich beide verlieben. Sie werden durch Krieg und Verfolgung getrennt. Margo verliert auf der Flucht 1945 ihr Kind und beinahe ihr Leben. Mit Henri, dem der Krieg alle Illusionen geraubt hat, baut sie sich eine neue Existenz in Westdeutschland auf. Helene, die Buchenwald überlebt hat, wird in Ostberlin von der Stasi zur »Kundschafterin des Friedens« ausgebildet. Auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs treffen beide wieder aufeinander, verbunden durch ein Familiengeheimnis und gelenkt durch die Stasi. Doch selbst das Ende der DDR bedeutet kein Ende ihrer dramatischen Verstrickung, die noch bis ins letzte Jahr des 20. Jahrhunderts reicht.

Cora Stephan erzählt Zeitgeschichte als Familiengeschichte und entwirft Charaktere, denen man voller Spannung folgt, getrieben von dem Wunsch, dem Rätsel von Liebe, Verwandtschaft und Verrat auf die Spur zu kommen.

(Klappentext Kiepenheuer & Witsch)



  • Gebundene Ausgabe: 640 Seiten
  • Verlag: Kiepenheuer&Witsch (10. März 2016)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3462048953
  • ISBN-13: 978-3462048957



















LEISE TÖNE, GROSSE GESCHICHTE...




Immer schon habe ich Autoren bewundert, denen es gelingt, über viele Seiten hinweg den Bogen einer Geschichte zu spannen ohne dass es zu unwiderbringlichen Brüchen kommt und wo am Ende letztlich wirklich alles erzählt ist. Cora Stephan legt mit diesem Roman ein solches Werk vor, und trotz der stolzen 640 Seiten ließ die Faszination der Geschichte bei mir zu keinem Moment nach.

Zwei starke Frauen stehen im Mittelpunkt des Geschehens, das zum einen ihr individuelles Schicksal beleuchtet, das die beiden unwiderruflich miteinander verbindet, das zum anderen aber auch eingebettet ist in ein gehöriges Maß Zeitgeschichte, das hier von 1936 bis ins Jahr 2000 reicht.

In Stendal begegnen sich die beiden Frauen in den 30er Jahren das erste Mal. Margarete Hegewald ist gerade dem Backfischalter entsprungen, als sie beschließt, nicht länger zur Schule zu gehen. Sie schneidet sich die Zöpfe ab, nennt sich künftig Margo und bietet auch ihrem tyrannischen Vater zunehmend die Stirn. Zielstrebig tritt sie ihre Lehrstelle bei Photo-Werner an und ist in dem kleinen Büro des Unternehmens bald unentbehrlich - sie verwaltet die Rechnungen und Bilanzen des Geschäfts. Dort lernt sie die stille Fotografin Helene Pinkus kennen, etwas älter als Margo und eher ein Einzelgänger. Doch allmählich entsteht ein etwas vertrauteres Verhältnis zwischen den beiden, und Margo erfährt, dass Helene als Kriegsfotografin die Geschehnisse im Spanischen Bürgerkrieg dokumentiert hat - und dabei traumatischen Erlebnissen ausgesetzt war. Eine wirkliche Freundschaft entsteht nicht zwischen den beiden Frauen - zu unterschiedlich sind sie, und der zunehmende Druck durch den Nationalsozialismus verschärft diese Unterschiede noch. Die Liebe zu dem Adligen Alard von Sedlitz ist etwas, was die beiden teilen, doch der hat im Grunde nur Augen für Helene. Die Kriegswirren lassen jedoch keine Liebe zu. Helene landet im KZ Buchenholz, Alard und Margo verbringen eine einzige gemeinsame Nacht - als Trost für unerfüllte Liebe, Wärme in Zeiten der Kälte, und doch nicht folgenlos. Emma heißt das kleine Mädchen, von dem Alard nichts erfahren wird, und das Margo schließlich auf der Flucht verliert. Lange Jahre erfährt sie nichts über das Schicksal ihrer kleinen Tochter, und doch hört sie nie auf, an sie zu denken.

Nach dem Krieg geht das Leben weiter, jeder trägt schwer an den Folgen der Kriegsjahre, tief gezeichnete Spuren. Margo folgt ihrem Jugendfreund und nun Ehemann Henri nach dessen Kriegsgefangenschaft in den Westen, ihre Mutter und Schwester bleiben in Stendal - warten auf den Vater, über dessen Verbleib nichts bekannt ist. Helene lebt fortan im Osten des geteilten Deutschlands, wird von der Stasi angeheuert, schließlich auf Margo angesetzt, die bei einer Firma arbeitet, an deren Daten die Stasi großes Interesse zeigt. So kommt es zu einer erneuten Begegnung zwischen den beiden Frauen, und was einmal Freundschaft hätte werden können, ist nun überlagert von Misstrauen und Verrat. Auch die Jahre nach dem Mauerfall 1989, die hier ebenfalls noch Gegenstand des Geschehens sind, wird keine Wiederannäherung bringen - und doch sind die Schicksale Margos und Helenes unwiderruflich miteinander verbunden und durch ein gemeinsames Geheimnis geprägt.


"Der Moment ist das Einzige, was am Ende eines Lebens bleibt, und man darf ihn nicht vergeuden mit der Klage darüber, was war und was hätte sein können." (S. 579)


Ich und dicke Bücher, das ist so ein Kapitel für sich. Wenn ich mich an ein solches heranwage, kämpfe ich jedesmal zunächst gegen einen inneren Widerstand an, und das, was sonst so mühelos gelingt: das Verschlingen der Romane, das dauert bei einem solchen Buch eine gefühlte Ewigkeit. Auch hier erging es mir so - fast zwei Wochen dauerte die Lektüre. Doch ehrlich gesagt: ich habe die Zeit genossen, denn immer mehr lebte ich so an der Seite der Figuren.

Dabei empfand ich gar nicht immer so etwas wie Sympathie für die Charaktere, denn manche ihrer Haltungen, Handlungen und Entscheidungen waren zumindest fragwürdig -  dabei jedoch zutiefst menschlich. Durch das Einbetten des Geschehens in die Zeitgeschichte Deutschlands bekommt der Leser einen Einblick darin, wie es war, einer Doktrin folgen zu müssen, wo selbständiges oder gar kritisches Denken nicht nur verpönt sondern unter Umständen lebensgefährlich war, und das nicht nur unter dem Naziregime, sondern eben auch später in der ehemaligen DDR. Was macht ein solcher Druck mit den Menschen - begeistertes Anhängertum oder zumindest Mitläufertum? Doch auch die Geschichte des Westens ist hier lebendig vertreten: das Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahre, die wachsende Gleichberechtigung der Frau - Margo kämpfte darum schon zu einer Zeit, als dies alles andere als selbstverständlich war, Sex and Drugs and Rock and Roll in den 60ern und 70ern, und das alles in einer generationenübergreifenden Erzählung. Gerade die Unterschiede der beiden deutschen Staaten werden hier eklatant deutlich, auch im Hinblick auf die Entwicklung der dort lebenden Menschen.

Erzählt wird der Roman chronologisch aus wechselnden Perspektiven. Neben Margo und Helene kommen auch andere Figuren zu Wort, wenn es für das Geschehen wichtig ist. Kaleidoskopartig setzen sich so die Bilder zu einer Gesamtkomposition zusammen, und nie geschieht dies losgelöst vom Kontext des Zeitgeschehens. Dabei wird die Geschichte jedoch nicht mit Historie überfrachtet, sondern wie nebenher fließen geschichtliche Zusammenhänge in die Erzählung ein, die mit ihren eher leisen Tönen im übrigen nicht in Klischees verfällt, was mir gut gefallen hat. Die Figuren geraten so authentisch und lebendig, und selbst das etwas pathetisch geratene Ende stört diesen überaus postitiven Gesamteindruck für mich nicht wirklich.

Ein überaus angenehm zu lesender Roman über zwei starke Frauen, aber auch über ein Stück deutscher Zeitgeschichte, die von vielen Unruhen geprägt war. Sehr interessant und wirklich empfehlenswert!


© Parden





























Der Verlag Kiepenheuer & Witsch schreibt über die Autorin:

Cora Stephan ist seit mehr als dreißig Jahren freie Autorin und schreibt Essays, Kritiken, Kolumnen – und Bücher. Neben zehn Sachbüchern hat sie unter dem Pseudonym Anne Chaplet zehn preisgekrönte Kriminalromane veröffentlicht.

übernommen von Kiepenheuer & Witsch

4 Kommentare:

  1. Es ist doch auch immer wieder schön, wenn du "meine" Bücher liest. Du hast noch ein paar davon...

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    1. Gemach, gemach... Das hier ist allerdings keines 'Deiner' Bücher, gell?

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  2. Liebe Anne,
    eine sehr ausführliche und informative Rezension. Der Roman ist ganz oben auf meinem Merkzettel bei Audible und nach dieser Besprechung wird es definitiv mein nächster Kauf. Auch gerade wegen der Zeitgeschichte und ich bin gespannt, ob er mich auch so mitreißt.
    liebe Grüße, Tina

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    1. Liebe Tina,
      ich könnte mir vorstellen, dass Dir der Roman auch gut gefallen könnte. Ich bin gespannt! :)
      Liebe Grüße, Anne

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