Samstag, 6. Februar 2016

Millar, Sam: True Crime



Sam Millar hat einen außergewöhnlichen, preisgekrönten Thriller geschrieben, in dem nichts erfunden ist. Schonungslos offen erzählt Millar von einer Jugend auf den Straßen von Belfast, die früh ins Gefängnis führt; vom jahrelangen Kampf um die eigene Würde – und von einem Verbrechen, mit dem er Geschichte schrieb.

Diese Geschichte beginnt im Norden Belfasts: Dort wird 1955 Sam Millar geboren, der Vater Protestant, die Mutter Katholikin. Der Riss, der ganz Irland teilt, geht mitten durch Sams Familie. Sam geht früh von der Schule ab und arbeitet in einem Schlachthof. Als Teenager schließt er sich der IRA an, bis er eines Nachts von der Polizei aus seinem Bett gerissen wird. Es folgen Jahre im härtesten Knast Europas.
Nach seiner Entlassung geht Sam Millar nach New York, wo er einen Comicladen eröffnet, sich in Spielkasinos herumtreibt und schließlich einen verwegenen Plan ersinnt: den Überfall auf das Gelddepot der Firma Brink’s, mit dem Sam Millar Kriminalgeschichte schreibt – und der hier erstmals aus der Sicht des Täters erzählt wird.


(Klappentext Atrium Verlag)


  • Gebundene Ausgabe: 416 Seiten
  • Verlag: Atrium Zürich (20. Januar 2015)
  • Sprache: Deutsch
  • Übersetzung: Joachim Körber
  • ISBN-10: 3855355134
  • ISBN-13: 978-3855355136
  • Originaltitel: On The Brinks














ZWEI BÜCHER IN EINEM...



Diese Rezension fällt mir nicht gerade leicht. Denn im Grunde gilt es hier, gleich zwei Bücher zu rezensieren - zwei gewaltige Abschnitte eines Lebens, die jedoch unterschiedlicher nicht sein könnten.

Alles beginnt in Belfast, der Hauptstadt Nordirlands, wo Sam Millar 1955 geboren wurde. Er wächst dort in der Lancaster Street auf - einer Straße, in der nach eigenen Angaben drei Viertel der männlichen Anwohner ohne Verhandlung eingesperrt wurden, als Angehörige oder Sympathisanten der IRA. Auch ohne diesen politischen Hintergrund sind Kindheit und Jugend Millars geprägt von Armut, Einsamkeit und einer wenig einfühlsamen Umgebung. Die Mutter verschwindet früh aus Millars Leben, der Vater ist recht stimmungslabil, die Armut sorgt zudem für demütigende Erlebnisse.

Ohne eigenes Zutun gerät Sam Millar schließlich in die kämpferischen Auseinandersetzungen Nordirlands mit Großbritannien. Bei einem Ausflug mit dem neuen Auto seines großen Bruders findet sich Millar plötzlich in Derry wieder, wo es bei Protesten für Bürgerrechte und gegen die Politik der britischen Regierung plötzlich zu Unruhen kommt. 13 Demonstranten werden von britischen Soldaten erschossen, 13 weitere angeschossen. Da die Opfer unbewaffnet waren, führte das Ereignis zur Eskalation des Nordirlandkonflikts. Später wurde dieser Tag 'Bloody Sunday' genannt.

Sam Millar und sein Bruder sind zwar nicht direkt betroffen, doch löst diese Ungerechtigkeit und Willkür seitens der britischen Regierung etwas aus. Sam beginnt mit dem Gedankengut der Widerständler zu sympathisieren. Als eines Morgens die Polizei die Wohnung des Jungen und seiner Familie stürmt, um den Vater und Sams ältere Brüder zu verhaften, treffen sie diese zwar nicht an - nehmen jedoch an ihrer Stelle Sam mit. In einer Leserunde mit dem Autor berichtet dieser zu diesem Punkt:

"Sometimes I sit and think what would have happened had the British invaders arrested my father and brothers instead of me. The truth is, they would have arrested me eventually because I would have fought against the British because we were treated like dogs in our own country and had few rights. In all honesty, if I had not been illegally placed in prison I would never have got an education, and would not be a writer today! So, I have to thank the British for putting me in prison!"

So landet Sam Millar unversehens das erste Mal im Gefängnis und macht Bekanntschaft mit dem, was es heißt, ein Rechtloser zu sein. Ohne Gerichtsverhandlung durchleidet er die dreijährige Haftstrafe, immer noch mit der Hoffnung, dass dies bald vorüber sein würde...


"Ich hielt mich mit dem Gedanken aufrecht, dass wir irgendwann alle wieder nach Hause gehen dürften, wenn dieser Wahnsinn erst vorüber wäre. Doch leider hatte der große amerikanische Schriftsteller Thomas Wolfe nur zu recht, mit seinem Klassiker 'Es führt kein Weg zurück'. Wie hätte ich ahnen können, dass keiner von uns realistischerweise jemals wieder nach Hause gehen dürfte? Man hatte uns in einem Hochofen geschmolzen. Wir hatten uns verändert, vollkommen und unwiderruflich. Wir würden nie wieder dieselben sein." (S. 144 f.)


Doch kaum wieder in Freiheit, wird er wegen illegalen Waffenbesitzes erneut festgenommen, und diesmal gerät Sam Millar in die Hölle. 'Long Kesh' heißt die Haftanstalt, und für besonders harte Fälle, die den Widerstand gegen die britische Herrschaft auch im Gefängnis nicht aufgeben, gibt es hier die sog. H-Blocks. Die Gräueltaten, die dort an den Häftlingen verübt wurden, könnten einem Bericht von Amnesty International entstammen. Dieser Abschnitt war echt Hardcore. Ich habe versucht, die Bilder im Kopf zurückzudrängen, aber das hat nicht in jedem Fall gut geklappt. Was ein Mensch so aushalten kann, ist immer wieder unglaublich. Was ein Mensch einem anderen Menschen antun kann, ebenso.

Dennoch hat Sam Millar diese Episode so geschildert, dass es irgendwie auszuhalten war. Nahezu nüchtern im Schreibstil, dabei aber immer wieder von Humor und Sarkasmus durchsetzt, schaffte er die notwendige Distanz - sicher nicht zuletzt auch für sich selbst. In der Leserunde schrieb er hierzu:

"My father always taught me That laughter is the best medicine. Laugh Even When You want to cry, and believe me there were many times I wanted to cry in the H-Blocks!"

Die Zustände in Long Kesh sind - unabhängig davon, wer was wann verbrochen hat - sachlich ausgedrückt unhaltbar und skandalös. Den Vergleich mit einem KZ oder auch mit Guantanamo muss sich Großbritannien wohl gefallen lassen. Da die Zustände dort (anders als seinerzeit in Deutschland) nicht durch einen Kriegsgegner beendet wurden, kann es leider kaum verwundern, dass die Verantwortlichen für Folter und Missachtung der Menschenrechte niemals zur Verantwortung gezogen wurden. Dass Sam Millars Buch in Großbritannien verboten wurde, wohl ebenso wenig...


"Sie werden mich nicht brechen können, denn meine Sehnsucht nach Freiheit und die Sehnsucht nach Freiheit des irischen Volkes, die ich in meinem Herzen trage, ist viel zu groß. Es wird ein Tag anbrechen, an dem alle Menschen in Irland ihre Sehnsucht nach Freiheit offenbaren. An diesem Tag werden wir den Mond aufsteigen sehen." (Bobby Sand) (S. 182)


Als Sam Millar nach all den Jahren der unsagbaren Folter letztlich freikommt, bittet sein Vater ihn, zumindest für die Dauer eines Urlaubs in die USA zu gehen. Und hier beginnt der zweite Teil des Buches, denn aus den geplanten 10 Tagen werden schließlich 10 Jahre...


"'Belfast? Das ist'n raues Pflaster. So viele Tote. Reiner Wahnsinn.' Jetzt war ich derjenige, der lachte. In New York werden an einem Wochenende mehr Menschen getötet als in Belfast in einem Jahr. Offenbar muss jeder irgendein größeres Monster erschaffen, damit das eigene nicht so schlimm wirkt." (S. 256)


Der etwas zweifelhafte Höhepunkt dieser zehn Jahre ist ein Überfall auf ein Gelddepot, bei denen Sam und ein Kumpan mehrere Millionen Dollar erbeuten. Fortan lebt Sam in großer Angst, dass die Spuren letztlich zu ihm führen könnten. In jedem Fall hat er mit dieser Tat in den USA Kriminalgeschichte geschrieben...


"'Willst du mich verscheißern?', fragte er und wischte sich das Bier vom Kinn. Später blickte ich auf jenen Tag zurück und begriff, dass ich ihn damals tatsächlich verscheißert hatte. Es ging um mehr als um eine Million. Verdammt viel mehr. In Amerika sollte Geschichte geschrieben werden, und ich war der Mann mit dem Füllfederhalter..."


Ich gehe nicht davon ab, hier zwei vollkommen verschiedene Bücher gelesen zu haben - zwei Episoden, die vermeintlich überhaupt nicht miteinander im Zusammenhang stehen, und außer der Tatsache, dass man den 'irischen Sturkopf' nie leugnen konnte, hätten es zwei vollkommen verschiedene Leute sein können, die in die Ereignisse verstrickt sind.

Ich bin ganz ehrlich: den ersten Teil (Irland) fand ich herausragend, spannend, unsagbar, da habe ich mitgefühlt und -gelitten. Hier konnte ich die Person des Sam Millar tatsächlich greifen, alles wirkte authentisch. Im zweiten Teil dagegen wird vieles nur angedeutet oder ganz ausgelassen, und so nahm mich die Erzählung hier nicht mehr wirklich mit. Diesen zweiten Teil - ich kann mir nicht helfen - den hätte es für mich nicht unbedingt gebraucht. Da fand ich die Person 'Sam' nicht wirklich wieder, die Geschehnisse waren oft zu sehr auseinandergerissen, mir fehlten Informationen, manche Fragezeichen haben sich bis zum Schluss auch nicht aufgelöst.

Vielleicht kann es sein, dass sich der erste Teil nicht ohne den zweiten verkauft hätte. Das fände ich dann allerdings sehr armselig, denn der erste Teil gehört für mich zu den authentischsten Autobiografien, die ich je gelesen habe. Ein wichtiges Stück Zeitgeschichte ist hier aus erster Hand dokumentiert worden, und zwar abseits der offiziellen und deutlich anderen Version der Briten. Das wäre für mich ein Grund, über Preisverleihungen nachzudenken. Nicht jedoch der zweite Teil, dessen Entwicklung für mich auch mit fragwürdigen individuellen Entscheidungen zusammenhing.

Zwei Bücher, zwei Wertungen - einmal uneingeschränkte fünf Sterne, einmal allerdings nur noch knappe drei. Macht im Durchschnitt gute vier Sterne, die ich hiermit gerne vergebe. In jedem Fall ist dies ein ganz außergewöhnliches Buch!


© Parden




















Sam MillarDer Atrium Verlag schreibt über den Autor:

Sam Millar, Jahrgang 1955, ist der Kopf hinter einem der größten Raubüberfälle der Geschichte.
Nach langen Jahren im Gefängnis lebt er heute in Belfast, wo er neben Kriminalromanen mit True Crime den Thriller seines Lebens geschrieben hat, für den er mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet wurde.

übernommen vom Atrium Verlag

4 Kommentare:

  1. Auf jeden Fall aber ein interessanter Fall. Irgendwie muss man sich ja seine Rente verdienen, wenn man am Vermehren des Sozialvermögens nicht hat teilnehmen können. Wenn dann ein lesbares Buch herauskommt?

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    1. Das Schreiben der Autobiografie (und auch anderer Bücher, wohlgemerkt) ist zumindest eine gesellschaftlich tolerierbarere Variante zu den davor gezeigten kriminellen Tendenzen... ;)

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    2. Anne, many thanks for reviewing my memoir, True Crime. Sorry it has taken me so long to thank you, but I am a very slow person!
      Many thanks. Stay safe.
      Sam

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    3. Sam, oh, what a surprise to meet you here! Many thanks for your comment and good luck for your next projects! And take good care... Anne

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