Sonntag, 20. Dezember 2015

Gmeyner, Anna: Manja. Ein Roman um fünf Kinder




Poetisch und berührend erzählt Anna Gmeyner die Geschichte von fünf Kindern, die in derselben Nacht im Frühjahr 1920 gezeugt werden, aber in ganz unterschiedlichen Milieus aufwachsen. Eigentlich trennen sie Welten, und dennoch sind sie Freunde geworden, verbunden durch eine innige Zuneigung zu Manja – dem Mädchen aus armen ostjüdischen Verhältnissen. Für diese Freundschaft müssen sie immer wieder kämpfen: zu Hause, in der Schule und in ihrer Freizeit. Doch letztlich bleiben sie Gefangene ihrer Zeit, an der Manja zerbricht und mit ihr die Hoffnung auf eine menschenwürdige Zukunft.


(Klappentext Aufbau Verlag)



  • Gebundene Ausgabe: 544 Seiten
  • Verlag: Aufbau Verlag; Auflage: 1 (6. Oktober 2014)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3351034156
  • ISBN-13: 978-3351034153

















EINDRINGLICH UND POETISCH - EIN BUCH, DAS UNTER DIE HAUT GEHT....


Dieses Buch gehört zu denjenigen, bei denen mir das Verfassen einer Rezension nicht leicht fällt. Zu groß der Eindruck, den das Geschriebene hinterlassen hat, zu gewaltig das Werk, als dass eine Rezension dem wirklich gerecht werden könnte. Und doch will ich versuchen zu vermitteln, weshalb dies ein Buch ist, das unbedingt entdeckt werden will, sollte, muss.


Von Anfang an schafft Anna Gmeyner hier das Verbindende zwischen den Familien, um deren Kinder es hier geht - die Nacht der Zeugung ist es, mit der dieser Roman beginnt. Und schon hier wird deutlich, wes Geistes Kind die verschiedenen Eltern sind und ob die Kinder zukünftig in einem liebevollen oder aber in einem strengen und angstbesetzten Zuhause aufwachsen werden. Von einem Liebesakt bis hin zur Vergewaltigung reicht das Spektrum der Zeugung - und hier ahnt noch niemand, wie eng das Leben der dabei entstandenen Kinder einmal miteinander verknüpft sein wird.

1920 ist das Jahr, in dem die Kinder gezeugt werden - und so wachsen sie aus der Weimarer Republik nach Kriegsende langsam in den Nationalsozialismus hinein, wobei der Leser die Möglichkeit erhält, sie vierzehn Jahre lang auf diesem Weg zu begleiten.


"Nach dem Krieg, verstehst du, als wir wiederkamen, da habe ich geglaubt, was man da erlebt hat, was keiner überlebt hat, das wird nie wiederkommen, das war das letzte Mal (...) eine Zeit sah es aus, als ob das Land anders geworden wäre, weiter, menschlicher. Stimmt nicht. (...) Und jetzt, langsam, von allem Seiten schleicht sich´s wieder ein..."


Vier Jungen und ein Mädchen - und eine große, tiefe Freundschaft, trotz aller Unterschiede, das ist es, was die fünf Kinder auszeichnet. Anna Gmeyner gelingt es hier gekonnt, gleichzeitig das Trennende und das Verbindende der Einzelschicksale zu präsentieren und dabei einen Einblick in einen Querschnitt der gesellschaftlichen Schichten zu gewähren.

Heini Heidemann ist der Sohn einer bildungsbürgerlichen, humanistisch gesinnten Arztfamilie und wächst liebevoll und ohne Vorurteile auf. Karli Müller ist das Kind einer Arbeiterfamilie, der Vater aktiver Kommunist und frühzeitig inhaftiert, die Mutter hält die Familie mit viel Energie und Arbeitsamkeit zusammen. Harry ist der Sohn des jüdischen Großindustriellen Hartung und wächst in wohlhabenden Verhältnissen auf, jedoch einsam und ohne die Liebe seiner Eltern. Franz Meißner wächst in einer kleinbürgerlichen Familie auf, in der alle unter dem patriarchalischen und gewaltbereiten Vater leiden, der frühzeitig auf den Zug des Nationalsozialismus aufspringt und so einen sozialen Aufstieg erfährt, der sonst nicht möglich gewesen wäre. Manja schließlich ist das Kind einer ostjüdischen Mutter, alleinerziehend, mittellos und lebensuntüchtig, jedes Kind von einem anderen Vater. Früh muss Manja Verantwortung übernehmen für den Haushalt und ihre Geschwister, und doch ist sie es, die in aller Leben einen Sonnenstrahl zaubert.


"Wenn man nicht ein bisschen Distanz zu den Dingen hätte, könnte man es manchmal wirklich nicht aushalten. Ich sitze jeden freien Augenblick bei den Büchern. Telefon und Radio abgestellt. Das ist meine Insel."


Was hier an den geschilderten Familien klischeemäßig und konstruiert wirken könnte - verstärkt noch durch die scharfzüngige und bösartige Hausverwalterin, den verarmten Adligen, den schmierigen und dummdreisten Hitlerjungen - löst Anna Gmeyner geschickt auf, indem sie allen Personen ein wahres Gesicht gibt, eine Persönlichkeit mit Stärken und Schwächen, individuelle Nuancen, die sie dem Leser greifbar machen.

Zunehmend verweben sich die Schicksale der Kinder und mit ihnen auch die ihrer Familien. Zunächst unbeeindruckt von dem Geschehen um sie herum, leben die Fünf ihre Freundschaft, schaffen sich ihre Insel, Manja mit ihrem hellen Gemüt und immer das Gute annehmend als Lichtgestalt unter ihnen. Sie lehrt die Jungen mit ihren Augen zu sehen und pflanzt eine tiefe Sehnsucht in ihnen. Doch die gesellschaftlichen Veränderungen hinterlassen allmählich ihre Spuren, graben Gräben, die immer schwieriger zu überwinden sind, die Lawine reißt alle mit und trotz aller Widerstände lässt sich die sich anbahnende Katastrophe nicht aufhalten...


"Einen Augenblick lang hatte die Kassiopeia deutlich mit ihren fünf strahlenden Endsternen über dem Kirchturm gestanden. Nun verschwand sie sehr schnell unter schwarzen, treibenden Wolken."


Anna Gmeyner schafft hier sehr eindringliche Bilder, die sie auf eine unglaublich poetische Art und mit einer beeindruckenden Genauigkeit schildert. Oftmals saß ich da mit einem Kopfschütteln, weil das Gelesene derart zart und und gleichzeitig kraftvoll wirkte, so wunderschön konstruiert, dass es mich berührte allein schon durch die Art des Schreibens. Viele Sätze habe ich mehrfach gelesen, einfach um sie wiederholt auf mich wirken zu lassen. Auch die Symbolträchtigkeit der Sprache hat mich beeindrucken und bezaubern können.


„Ich weiß, was du meinst Manja“, rief er lebhaft. „Bei uns in der Schule, vor langer Zeit, war einmal ein Käfer im auf dem Rücken. Ich habe ihn umgedreht, damit er kriechen kann, und da waren Jungs, die haben ihn immer wieder auf den Rücken gelegt, damit er zappelt. Das waren die anderen."  ---  „Es gibt viele andere“, sagt sie still.  ---  „Ja, nicht? Auf einmal schrecklich viele“, gab er zu.  ---  „Aber Manja, wenn wir feig sind und alle Menschen wie wir, dann müssen alle Käfer auf der Welt auf dem Rücken liegen.“  ---  Manja schweigt und drückt seine Hand. „Einen Käfer hast du umgedreht“, sagt sie, „er krabbelt wieder.“



1984 erschien das Buch erstmals in Deutschland. 1938 jedoch wurde es bereits vom Querido-Verlag in Amsterdam veröffentlicht. Anna Gmeyner schrieb diesen Roman, der es schafft, das schleichende Grauen und das allmähliche und unaufhaltsame Erstarken des Nationalsozialismus so (be-)greifbar werden zu lassen wie kaum etwas anderes, das ich bislang gelesen habe, im Exil in Paris. Der Zeitpunkt des Entstehens dieses Zeitzeugnisses zeigt, dass es sie gab, diejenigen, die das Unheil vorausgeahnt haben, das erst in den Jahren darauf zur vollen Größe wuchs.


"Jeder Augenblick wächst wie eine Pflanze aus dem dunklen Boden des Gewesenen, das ihn unsichtbar und ungreifbar gestaltet und bestimmt, wächst mit verborgenen und verzweigten Wurzeln in der Erde des Vergangenen. Jedes Wort, jede Tat, jeder Schmerz geht einen langen Weg durch dunkle Schächte, bis er deutlich geformt und sichtbar vor uns steht. Was die Kinder nur erlitten und nicht verstanden, führte weiter zurück als ihr Erinnern, reichte in die Zeit, bevor sie waren und ehe ihr Leben begann. Und auch das war nicht der Anfang."



Eindringlich und poetisch - ein Buch, das unter die Haut geht. Eine Erzählung, die berührt, durch den Schreibstil sowie durch das eigentiche Geschehen. Nichts, das man einfach so runterliest, sondern etwas, das man miterlebt, mitträgt. Zuweilen unerträglich, so dass man versucht ist zu rufen: 'Bitte nicht!' - und doch in dem Wissen, dass diese geschilderten Schicksale und die Geschichte einer Freundschaft, die von gesellschaftlichen Zwängen zerfleischt zu werden droht, nur für unzählige wahre Schicksale stehen.

Überaus beeindruckend und für mich eine wahre Entdeckung, die ich noch vielen weiteren Lesern wünsche...

© Parden

















Der Aufbau Verlag schreibt über die Autorin:

Anna Gmeyner, 1902 in Wien geboren, zählte zur literarischen Avantgarde der zwanziger Jahre. Ab 1932 arbeitete sie in Paris, wo sie Drehbücher u. a. für G. W. Pabst schrieb. Nach ihrer Heirat emigrierte sie nach England. Dort entstand der Roman Manja, der 1938 bei Querido in Amsterdam herausgegeben wurde. Gmeyner starb 1991 in York.

übernommen vom Aufbau Verlag

2 Kommentare:

  1. Ich glaube, dieses Buch muss ich lesen. Die Geschichte selber hätte mich vielleicht gar nicht so angesprochen, wie fünf Kinder aus unterschiedlichsten Elternhäusern zusammenkommen, alle in der selben Nacht geboren, ist doch ein wenig zu viel des Zufalls. Vermutlich aber, eine Romanautorin darf das, ist das Gleichnis hier wichtiger.
    Was mich aber wirklich reizt, das ist das Jahr 1938. Es wird die Sprache sein, du deutest es an, die das Buch, ganz vom ernsten Thema mal abgesehen, so lesenswert macht. Die Autoren haben in früheren Jahren ganz anders erzählt, sie haben mehr als heute Sprache eingesetzt, um nicht nur eine Geschichte zu erzählen. Das finde ich immer sehr interessant. Schön, dass du das Buch gelesen hast und es nun zu unseren Posts gehört.

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    1. Ja, die Sprache ist hier wirklich etwas ganz Besonderes. Mit so viel Liebe zum Detail, ohne überfrachtet zu wirklen - bei manchen Beschreibungen war es, als habe die Autorin Gefühle geschildert, wie ich sie genauso erlebt habe. Ein wirklich beeindruckendes Talent!

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