Freitag, 20. November 2015

Alexijewitsch, Swetlana: Tschernobyl





Das erschütternde Zeugnis unserer Machtlosigkeit


Swetlana Alexijewitsch wurde bekannt durch die Dokumentation menschlicher Schicksale und gilt als wichtigste Zeitzeugin der postsowjetischen Gesellschaft. Über viele Jahre hat sie mit Menschen gesprochen, für die die Katastrophe von Tschernobyl zum zentralen Ereignis ihres Lebens wurde. Entstanden sind eindring-liche psychologische Porträts, die ungeheure Nähe zu den Betroffenen aufbauen und von höchster Sensibilität und journalistischer Perfektion zeugen.

(Klappentext Piper Verlag)



  • Taschenbuch: 304 Seiten
  • Verlag: Piper Taschenbuch (9. März 2015)
  • Sprache: Deutsch
  • Übersetzung: Ingeborg Kolinko
  • ISBN-10: 349230625X
  • ISBN-13: 978-3492306256









DIE VERGANGENHEIT WIRD DIE ZUKUNFT SEIN...



'Schicksal ist das Leben des einzelnen, Geschichte - das Leben von uns allen. Ich möchte Geschichte so erzählen, daß dabei das Schicksal nicht aus dem Blickfeld gerät... Der einzelne...' (S. 50)

Dies schreibt Swetlana Alexijewitsch zu ihrer Motivation, dieses Buch zu verfassen. Über zwanzig Jahre hat sie gebraucht, um es fertigzustellen, hat Interviews geführt mit zahllosen Menschen, die von dem Supergau des AKWs in Tschernobyl im April 1986 betroffen waren und sind. Als Weißrussin ist Swetlana Alexijewitsch nicht nur Berichterstatterin, sondern gehört auch selbst zu denjenigen, die die Auswirkungen des Reaktorunglücks hautnah zu spüren bekommen - denn auch wenn der Vorfall inzwischen fast dreißig Jahre her ist, sind die Folgen für ein ganzes Volk bleibend und prägen dessen Zukunft auf unabsehbare Zeit. Doch Swetlana Alexijewitsch hat eine Möglichkeit gefunden, Abstand zu wahren, indem sie allein und unkommentiert die Worte ihrer zahllosen Interviewpartner wiedergibt. Als 'Monologe' bezeichnet sie daher die einzelnen Kapitel.


'Nicht nahe herangehen! Nicht küssen! Nicht streicheln! Das ist nicht mehr der geliebte Mensch, er ist ein verseuchtes Objekt.' (S. 49)

Diesen Satz sagte ein Arzt anstelle der üblichen Trostworte zu der Frau eines Mannes, der wenige Tage nach dem Reaktorunglück im Sterben lag. Erschütternd, wie nach der Katastrophe mit den Menschen umgegangen wurde. Sicher auch aus Hilflosigkeit. Aber ein bestimmtes Menschenbild steckte wohl auch dahinter, auch wenn Swetlana Alexijewitsch sicher recht hat, wenn sie feststellt, dass die Katastrophe an sich nichts mit einer Ideologie oder einer Staatsform zu tun hat.

Eine mangelhafte Informationspolitik der Regierung gab es nicht nur gegenüber dem Ausland (erst als man zwei Tage nach der Explosion in Schweden erhöhte Radioaktivität an einem Atomkraftwerk maß und Wissenschaftler herausfanden, dass die Strahlung von außerhalb kam, fragte man in Moskau nach, ob dort Ursachen bekannt seien), sondern vor allem gegenüber der Bevölkerung. Dies schuf ein Klima der Absurditäten. Einerseits gab es Zwangsevakuierungen, andererseits aber wurde die Bevölkerung in den umliegenden Gebieten lange nicht über die Gefahr in Kenntnis gesetzt, da man eine Panik vermeiden wollte. Aktionismus auf der einen Seite, Verlogenheit auf der anderen Seite. Die Vertreibung aus den Dörfern, die Erschießung der Tiere, die Vernichtung von allen Dingen, der Pflanzen, selbst der Erde in sogenannten 'Mogilniks' - dabei waren die Gruben meist gar nicht wie vorgeschrieben gesichert, und wenig später wurde alles daraus - wie auch aus den verlassenen Dörfern - geplündert und verschachert. Die Menschen glaubten den offiziellen Stellungnahmen der Behörden rasch nicht mehr, zogen aber ihre Schlussfolgerungen aus dem persönlichen Handeln der einzelnen Behördenmitarbeiter - trugen diese beispielsweise Schutzkleidung, war die Lage bedrohlich. Nichts durfte wahrheitsgemäß dokumentiert und veröffentlicht werden, keine Katastrophenberichte, sondern nur Berichte von Heldentaten. Viele Soldaten meldeten sich freiwillig zum Einsatz im Katastrophengebiet, viele wurden unter Vortäuschung falscher Tatsachen dorthin beordert, manche unter Androhung des Parteiausschlusses oder Schlimmerem zum Einsatz gezwungen. In vielen Fällen wurde ohne ausreichende Schutzkleidung gearbeitet, Wodka galt als Allheilmittel. Es lockten Auszeichnungen, Orden, besondere Vergünstigungen - die Russen: ein Volk der Helden?


Man hat mir ein Strahlenmeßgerät gegeben, aber was soll ich damit? Wenn ich Wäsche wasche, (...) klickt das Gerät nur so. Wenn ich Essen koche, einen Kuchen backe, klickt es. Wenn ich das Bett mache, klickt es. Was soll ich damit? (S. 183)



Nun, die Monologe in diesem Buch haben nichts Heldenhaftes. Deutlich wird, dass man in ganz Weißrussland nicht ohne Strahlung leben kann. Tschernobyl hat einem ganzen Volk ein schweres Erbe aufgebürdet, was bei dem einzelnen bestenfalls zu Pragmatismus führt, oftmals aber auch zu Resignation, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Kinder kommen häufig
entstellt zur Welt, viele mit einer nur kurzen Lebenserwartung. Umgesiedelte sind anderswo gar nicht erwünscht - wie eindringlich das Bild des kleinen Kindes, das von anderen Kindern im Dunkeln auf den Hof gedrängt wurde, um zu schauen, ob es womöglich strahlt. Es gibt gar keine Alternative, als da zu leben wo sie eben leben. Was sonst? Ein ganzes Volk nach Kanada umsiedeln? Die Menschen müssen sich mit den Gegebenheiten und den Folgen wohl oder übel arrangieren. Vor Tschernobyl kamen beispielsweise auf 100000 Einwohner Weißrusslands 82 Fälle von Krebserkrankungen. Heute meldet die Statsitik: 6000 Krebskranke auf 100000 Einwohner. Nur jeder Vierzehnte stirbt noch an Altersschwäche. Solche Zahlen (von denen es nicht viele gibt in diesem Buch) sprechen für sich.

In diesem Buch kommen zahlreiche an Spätfolgen leidenede Menschen zu Wort oder aber deren Angehörige: die sog. Liquidatoren, die die Aufgabe hatten, das betroffene Gebiet zu dekontaminieren, die Soldaten, die die Zwangsevakuierung überwachten, die Helfer, die dazu beitrugen, die Lecks im AKW abzudichten, zwangsumgesiedelte Menschen, die Rückkehrer, die die unsichtbare Gefahr der Strahlen gegenüber der gefühlten Heimatlosigkeit in Kauf nehmen, aber auch etliche russische Flüchtlinge, die sich in der verstrahlten Umgebung von Tschernobyl niedergelassen haben (z.B. aus Tadschikistan oder aus Krigisien, aufgrund von Vertreibung oder Flucht vor Unruhen), Kinder, Journalisten, ehemalige Politiker und andere Entscheidungsträger - ein großes Spektrum, das verdeutlicht, dass in der Tat das ganze Volk betroffen ist. Ein mittlerweile dreißig Jahre in der Vergangenheit liegendes Unglück, das die Gegenwart bestimmt und eine dauerhaft verstrahlte Zukunft prognostizieren lässt.

Schön, dass zwischendurch neben all dem Bedrückenden auch ein wenig Platz bleibt für - zugegeben recht schwarzen - Humor:


Auf dem Markt verkauft eine Frau aus dem Ukrainischen große rote Äpfel. Sie ruft: 'Kauft Äpfel! Tschernobyl-Äpfel!' Jemand empfiehlt ihr: 'Du darfst nicht verraten, daß die Äpfel aus Tschernobyl sind, Tantchen. Sonst kauft sie keiner.' - 'Und wie sie kaufen! Der eine für die Schwiegermutter, der andere für seinen Vorgesetzten!' (S. 76)



Dieses Buch ist eine imposante Sammlung von Originaltönen von Betroffenen quer durch die Bevölkerung. Unkommentiert abgedruckt, zeigen sie das Grauen und die Ängste der einzelnen, nüchtern oft in der Ausdrucksweise, und doch wird deutlich: die Vergangenheit wird die Zukunft sein. Eine eindrucksvolle und erschütternde Chronik. Und wie Fukushima (Japan) zeigt: nach dem  Gau ist vor dem Gau... Niemand ist davor gefeit.


© Parden






















Der Piper Verlag schreibt über die Autorin:

Über das Leben von Swetlana Alexijewitsch, Literaturnobelpreisträgerin 2015: Swetlana Alexijewitsch, 1948 in der Ukraine als Tochter einer Ukrainerin und eines Weißrussen geboren und in Weißrussland aufgewachsen, arbeitete nach ihrem Studium der Journalistik in Minsk als Reporterin. Über diese Arbeit fand sie zu einem ganz eigenem literarischen Stil, dem dokumentarischen „Roman der Stimmen“. Alexijewisch ist eine der wichtigsten Zeitzeugen der postsowjetischen Gesellschaft, ihre Bücher wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. 2015 wurde ihr „für ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt“, der Nobelpreis für Literatur verliehen. Nach mehreren Jahren im Exil in Paris und Berlin lebt die Autorin heute wieder in Minsk.

übernommen vom Piper Verlag


2 Kommentare:

  1. Sachbücher sind eigentlich selten bei dir. Solche Augenzeugenberichte (fast) haben was für sich.

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    1. Sicher werde ich noch weitere Bücher von Swetlana Alexijewitsch lesen - wenn auch nicht sofort. Wirklich beeindruckende Dokumentationen, die ganz ohne erhobenen Zeigefinger auskommen und vollkommen für sich sprechen...

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