Mittwoch, 26. August 2015

Saucier, Jocelyne: Ein Leben mehr


Dies ist die Geschichte von drei alten Männern, die sich in die nordkanadischen Wälder zurückgezogen haben. Von drei Männern, die die Freiheit lieben. Eines Tages aber ist es mit ihrer Einsiedelei vorbei. Zuerst stößt eine Fotografin zu ihnen, sie sucht nach einem der letzten Überlebenden der Großen Brände, einem gewissen Boychuck. Kurze Zeit später taucht Marie-Desneiges auf, eine eigensinnige, zierliche Dame von achtzig Jahren. Die Frauen bleiben. Und während sie dem Rätsel um Boychucks Überleben nachgehen, entsteht etwas unter diesen Menschen, das niemand für möglich gehalten hätte. Ein Leben mehr ist ein wundersam beseelter und berührender Roman, eine leidenschaftliche Hommage an die Liebe, die Freiheit und die Natur. Ein Roman wie das Leben selbst: traurig und schön.


  • Gebundene Ausgabe: 192 Seiten
  • Verlag: Insel Verlag; Auflage: 1 (8. August 2015)
  • Sprache: Deutsch
  • Übersetzung: Sonja Finck
  • ISBN-10: 3458176527
  • ISBN-13: 978-3458176527
  • Originaltitel: Il pleuvait des oiseaux (OT)



















FREIHEIT!




Drei alte Männer leben in den Tiefen der nordkanadischen Wälder, sie verbringen ihre Tage in gemächlicher Einsiedelei, sie angeln, jagen, plaudern, träumen vor sich hin. Bis eines Tages eine Fotografin und eine geheimnisvolle Dame von zweiundachtzig Jahren dazustoßen - und zwischen ihnen allen etwas entsteht, das niemand für möglich gehalten hätte...


Ich mag solche Orte, die jeden Anspruch und jede Koketterie aufgegeben haben, Orte, die sich an eine fixe Idee klammern und darauf warten, dass die Zeit ihnen recht gibt. Das schnelle Geld, die Eisenbahn, die Rückkehr der eigenen Freunde, niemand weiß genau, worauf sie eigentlich warten. In der Gegend gab es mehrere solcher Orte. Sie trotzten ihrem eigenen Verfall und arrangierten sich mit der Einsamkeit. (S. 12)


Ted, Charlie und Tom sind zusammen fast 300 Jahre alt. Sie haben sich aus verschiedenen Gründen zurückgezogen aus dem Leben und hausen nun in einfachen Wohnhütten in den Tiefen der nordkanadischen Wälder. Als unerwartet eine Fotografin an dem See auftaucht, ist gerade einer der Alten gestorben - ausgerechnet Boychuck, einer der wenigen Überlebenden der Großen Brände, der als gebrochener Mann in der Einsiedelei seine Form der Freiheit gefunden hatte. Die Fotografin war lange auf der Suche nach ihm - doch nun kommt sie zu spät. Dennoch ist sie fasziniert von diesem Ort, an dem die drei Männer seit Jahren gemeinsam einsam leben, nur begleitet von ihren treuen Hunden.


Ted war ein gebrochener Mann, Charlie ein Naturbursche und Tom ein Draufgänger. Die Tage vergingen, und sie wurden gemeinsam alt. Sehr alt. Sie hatten alles hinter sich gelassen. Keiner von ihnen wollte zurück in sein früheres Leben, sie wollten einfach morgens aufstehen, den neuen Tag begrüßen, der nur ihnen selbst gehörte, und sich von niemandem in irgendwas rein reden lassen. (S. 40)

Als kurz darauf noch eine zweiundachtzigjährige Frau bei ihnen auftaucht, ändert sich für die alten Männer einiges. 66 Jahre lang war Marie-Desneige Gefangene in einer Psychiatrie und hat es nun geschafft, diesem Leben zu entfliehen - auch sie auf der Suche nach Freiheit. Charlie fühlt sich gleich hingezogen zu dieser sehr besonderen Frau, und nicht nur der Beschützerinstinkt lässt ihn ihre Nähe suchen. Auch in der Einsiedelei ist ihm seine sanfte Seite nicht abhanden gekommen.


Ich war beeindruckt von dieser dicken, knotigen Hand mit den steifen Gelenken, die im Fell des Hundes so geschmeidig war, und mehr noch von Charlies Stimme, die, wenn sie dem Hund galt, leiser wurde, samtweich und zärtlich. (S. 18)


Erzählt wird diese leise Geschichte aus wechselnden Ich-Perspektiven, was nur anfangs etwas verwirrte, später aber etwas ganz Natürliches zu sein schien. Jocelyne Saucier schreibt in einem wundervoll poetischen Schreibstil, der von Sonja Finck sehr einfühlsam übersetzt wurde. Die Sätze sind oft verschachtelt, die Sprache melodisch und oftmals von einer leisen Melancholie durchzogen. In leisen Tönen und einem bildhaften Stil gelingt es der Autorin mühelos, die Gedanken- und Gefühlswelt der Charaktere zu transportieren.


"Man ist frei, meine Schöne, wenn man sich aussuchen kann, wie man lebt." "Und wie man stirbt", ergänzte Charlie. (S. 25)


Zentrales Thema in dieser Erzählung ist die Freiheit - in ihren verschiedensten Facetten. Jeder der geschilderten Charaktere ist auf der Suche nach seiner ganz eigenen Form der Freiheit. Und da der Tod Teil des Lebens ist, gehört auch er in die Überlegungen um das Thema Freiheit dazu. Selbstbestimmt - so lautet der einhellige Tenor.


Wenn man die Freiheit hat, zu gehen, wann man will, entscheidet man sich leichter für das Leben. (S. 106)


Aber in erster Linie ist das Buch eine Hommage an das Leben. Freiheit, Würde, Glück - all das sind wesentliche Bestandteile davon. Und die Autorin lenkt das Augenmerk auf die Alten - die Bilder der Fotografin dokumentieren im Grunde das Leben derjenigen, die bereits so vieles erlebt haben.


Bei alten Menschen sind die Augen das Wichtigste. Ihre Gesichter sind eingefallen, die Haut ist schlaff und faltig, vor allem rings um den Mund, die Augen, die Nase und die Ohren. Ihre verhärmten Gesichter sind schwer zu entziffern. Von alten Menschen erfährt man nur etwas, wenn man ihnen in die Augen sieht. Die Augen enthalten ihre Lebensgeschichte. (S. 82)

Das Gesicht auf dem Cover könnte solch ein Bild der Fotografin sein. Ein Gesicht, das unweigerlich in den Bann zieht, so ausdrucksstark, charaktervoll, lebenserfahren und doch tief in sich ruhend. Dieses Bild war es, das mich näher hinschauen und mich schließlich für die Leserunde bewerben ließ. Das geschieht mir nicht oft.


Und was ist mit der Liebe? Nun, die Liebe muss noch etwas warten, ihre Zeit ist noch nicht gekommen. (S. 68)



Jocelyne Saucier beschönigt nichts. Sehr deutlich wird, welche Einschränkungen und Beschwerlichkeiten das Alter mit sich bringt. Aber das Alter schließt eben auch nichts aus: nicht die Freiheit, nicht die Würde, nicht die Hoffnung, nicht die Liebe. Und das wird hier deutlich, ohne jemals in den Kitsch zu verfallen.


Schweigen ist Gold, wor allem wenn es um Glück geht, denn das Glück ist zerbrechlich. (S. 192)


Ein Buch der leisen Töne, das mich berühren konnte, dessen Schreibstil mich bezauberte. Für mich wahrlich eine schöne Entdeckung.



© Parden















Jocelyne SaucierJocelyne Saucier, geboren 1948 in der Provinz New Brunswick, lebt heute in einem Zehn-Seelen-Ort im Wald, im nördlichen Québec. Sie arbeitete lang als Journalistin, bevor sie mit dem literarischen Schreiben begann. Ein Leben mehr ist ihr vierter Roman, der erste in deutscher Sprache.


Quelle Text und Bild





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