Mittwoch, 29. Juli 2015

Adiga, Aravind: Letzter Mann im Turm (Hörbuch)


Immobilien-Tycoon Shah ist in Not. Der Kampf um die Filetstücke in Mumbais Boom-Bezirken wird immer härter und er ist auf der Verliererstraße. Retten könnte ihn nur der Bau einer gigantischen Luxus-Appartmentanlage – doch dazu müssten die baufälligen Wohntürme der »Vishram Society« weichen. Shah macht den Bewohnern ein Angebot, das sie nicht ablehnen können. Alle sind glücklich, denn gerne würden sie ihr tristes Leben hinter sich lassen. Doch der Deal gilt nur, wenn alle Bewohner den Vertrag unterschreiben. Als der alte Masterji sich standhaft weigert, sein Heim zu verlassen, zieht er den tödlichen Hass aller Hausbewohner auf sich.




  • Audio CD
  • Verlag: Der Audio Verlag (16. September 2011)
  • Sprache: Deutsch
  • Übersetzung: Susann Urban und Ilija Trojanow
  • Erzähler: Sebastian Kowski
  • ISBN-10: 3862311325
  • ISBN-13: 978-3862311323

















 PRINZIPIEN...



Die beiden sechs Stockwerke hohen Wohntürme der 'Vishram Society' in einem Vorort Bombays galten in ihrem Eröffnungsjahr 1959 als modern, doch seither ist nie Geld in die Instandhaltung gesetzt worden, so dass jetzt alles marode wirkt. Die Wasserversorgung funktioniert nur zweimal am Tag für einige Stunden, die Gebäude liegen in einer Flughafenschneise und an den Wänden hängt der Schimmel.


"Das Äußere dieses Turms, einst rosafarben, ist nun ein regenwasserfleckiges Grau."
Doch was klingt, wie hierzulande ein maroder Sozialbau, beheimatet dort Menschen der Mittelschicht: Lehrer, Internetcafébetreiber, Journalisten oder Apotheker. Die Schlechtergestellten wohnen in den oft illegalen Slums rundherum. Und die Bewohner der Türme klagen nicht, sie sind es nicht anders gewohnt - und die Gemeinschaft im Turm A ist ganz ausgezeichnet. Jeder kennt jeden und ist allen gegenüber höflich und anständig.


"Jede gute Wohngemeinschaft lebt von einem Kreislauf der Gefälligkeiten."



Was jedoch seit Jahrzehnten gut funktioniert, gerät plötzlich ins Wanken, als ein Immobilientycoon den Bewohnern der Genossenschaftswohnungen ein scheinbar unschlagbares Angebot macht. Eine großzügige Abfindung winkt denen, die ihre Wohnung aufgeben und sich anderswo ein neues Heim suchen. Turm B nimmt das Angebot geschlossen an, doch in Turm A regt sich Widerstand.

Zu groß ist das Misstrauen gegenüber solchen Maklern, und weshalb sollte man seine Heimat aufgeben? Zählt das nichts? Viele sehen hier eine Möglichkeit, ihrem tristen Leben zu entkommen, doch manche stellen sich den kapitalistischen Avancen entgegen. Darauf reagieren die anderen Mieter beschämt und achselzuckend, doch als bekannt wird, dass das Angebot nur aufrechterhalten bleibt, wenn alle Bewohner den Vertrag unterschreiben, kippt die Stimmung.

Der Druck auf diejenigen, die das Angebot nicht annehmen wollen, erhöht sich zunehmend - von Seiten des Immobilienmaklers ebenso wie von Seiten der anderen Mieter. Und plötzlich herrscht in der einst so gut funktionierenden Gemeinschaft ein Klima zunehmenden Misstrauens und der Bösartigkeit. Das Krebsgeschwür der Gier frisst sich in die Seelen der ach so ehrenwerten Mieter, die Hetzjagd ist eröffnet... Und nach und nach springen die Widerständler ab - alle, bis auf einen: Yogesh Murthy, genannt Masterji, ein pensionierter Lehrer, der in der Vishram Society als 'Gentleman' bislang große Achtung genießt.


"Nichts kann ein Lebewesen aufhalten, das frei sein möchte."


Leise und schleichend aber sehr eindringlich beschreibt Aravind Adiga die Geschehnisse in diesem Wohnturm. Zunehmend beklemmend wird die Situation, ungläubig lauschte ich manchen Ereignissen, die Faust in der Tasche. Doch ist das alles wirklich unvorstellbar? Der Sprecher Sebastian Kowski liest nüchtern und sachlich, was die zunehmende Dramatik aber eher noch unterstreicht und den Druck der Situation spürbar werden lässt.

Dabei hat Autor leider die Charaktere oftmals eher eindimensional und schablonenhaft gezeichnet, was kaum einmal Raum für Überraschungen bietet. Die interessanteste Figur war neben dem uneinsichtigen Masterji noch der Immobilienmakler Dharmen Shah, der sich aus kleinsten Verhältnissen zum mächtigen Bauunternehmer in Bombay emporgearbeitet hat. Adiga modelliert ihn als fetten Immobilienhai und so brutalen wie charmanten Gemütsmenschen, von dem der Hörer glauben soll, dass er 'Menschen noch viel lieber' mag als Stahl und Zement und dass er deshalb mit dem ihm eigenen 'Gefühl für Fairness' so lange wie möglich 'Großzügigkeit der Gewalt' vorzieht.
Es gibt viele Gründe für den Widerstand des alten Lehrers: die mit dem Haus verbundenen Erinnerungen an die verstorbene Frau und Tochter, der Wunsch des kleinen Mannes, dem mächtigen Immobilienhai Kontra zu geben, Altersstarrsinn und die mangelnde Bereitschaft, sich in Veränderungen zu fügen, der Sinn für menschlichen Anstand u.a.m. Im Grunde ist er die Hauptfigur in einer Parabel - wenn auch einer langen und zuweilen etwas langatmigen. Jedenfalls fällt es bei aller ungläubigen Empörung, wie Menschen Werte und Prinzipien einfach über Bord werfen und sich gegenseitig zu immer größeren Grausamkeiten anstacheln, schwer, sich mit dem alten Lehrer zu identifizieren.

Einen unverblümten und brutalen Blick wirft der Autor da auf die Realitäten des modernen Indiens, wie auch das Interview zwischen einem Journalisten und einem der Übersetzer des Buches im Anschluss an die eigentliche Erzählung zeigt. Noch vor kurzem lebten in Indien Reiche in unmittelbarer Nähe zu den Ärmsten, und niemand fand das befremdlich. Doch zunehmend entwickelt sich die räumliche wie gesellschaftliche Trennung zwischen den Gesellschaftsschichten, und die Trauer über den Paradigmenwechsel in der Seelenlage wird in diesem Hörbuch deutlich. Der zunehmende Kapitalismus wirft alte Werte über Bord, die Menschen können ihren normalen 'Kompass' des Miteinanders nicht mehr benutzen. Aravind Adiga schafft hier eine Atmosphäre des Pessimismus, die im Grunde für alle Megacities der Welt gilt, denn die Entwicklungen sind vergleichbar.

Für dieses Buch wurde Aravind Adiga von manchen seiner Landsleute als 'Nestbeschmutzer' tituliert. Doch im Grunde hält er damit allen modernen Gesellschaften einen mehr als unangenehmen Spiegel vor. Ein Autor, der genau hinschaut und den Finger in die schwärende Wunde legt. Nicht bequem, nicht angenehm, manchmal geradezu unerträglich - aber doch notwendig.

Ein eher beeindruckendes denn begeisterndes Buch, aber eines, das im Kopf bleibt...


© Parden












Quelle Text und Bild

1 Kommentar:

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