Freitag, 3. Oktober 2014

Enoch, Luca und Sassi, Claudio: Die Stern-Bande


Was erwartet uns in einem Comic – Buch, einer sogenannten Graphic Novel, welches DIE STERN – BANDE heißt? Ein Jugendbuch? Eine Gangstergeschichte? – Nichts dergleichen, denn ein ernsteres und obwohl in der Vergangenheit der Mitte liegendes geschichtliches Ereignis ist die Grundlage des Comic Buches aus dem Panini Comic Verlag. Autor des Buches ist Luca Enoch, die Zeichnungen stammen von Claudio Stassi.


Im Jahre 1940 bildete Avraham Stern (genannt YAHIR – der Erleuchter) die LECHI – Kämpfer für die Freiheit Israels – und spaltete sich damit von der IRGUN ab, eine Organisation, die schon terroristische Akte gegen die Araber und gegen die britische Mandatsmacht ausführte. Die wichtigsten Leute neben Stern waren: Jitzchak Schamir, Nathan Yellin-Mor und Israel Eldad. Stern und seine Anhänger betrachteten die Briten als den Hauptfeind und darum standen sie der Annäherung der IRGUN an die britische Macht nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ablehnend gegenüber.

* * * zum Inhalt * * *

Es ist der 17. September 1948. In einem Vorort Jerusalems steht ein Jeep mit „Soldaten“. Zwei Jungs wollen mit ihnen ins Gespräch kommen…
Die Soldaten errichten eine Straßensperre und warten. Einer fragt den anderen, ob es stimmt, dass er YAHIR persönlich kennengelernt hat. Yehoshua Cohen (Avner) bestätigt, ja, er war mit dem LECHI Gründer zusammen, nachdem dieser die IRGUN verließ.




Und er erzählt von den Jahren ab 1938, als er der IRGUN beitrat und von ihrem „Kampf“ gegen Araber und Briten, von Attentaten und vom Hass zwischen den Völkern, von der Balfour – Deklaration, davon, dass STERN selbst mit Deutschland verhandeln wollte, um die massenweise Einwanderung von Juden zu ermöglichen, was die Briten durch Einwanderungsminderung verhindern wollten… Er erzählt, wie YAHIR gefangen genommen wird und stirbt und von der Illegalität, vom Sprengstoffanschlag auf das King David Hotel in Jerusalem und von der Staatsgründung am 14. Mai 1948, nachdem die UNO am 29. November 1947 die Teilung Palästinas beschloss…

Bilder rechts: aus wikipedia

Karte aus wikipedia
An diesem 17. September 1948 ermorden die „Soldaten“ den Vermittler der UN in Palästina, den Grafen Folke Bernadotte, weil er öffentlich das Recht der palästinensischen Flüchtlinge vertrat, in ihre Heimat zurückkehren zu können.

Bild Bernadotte und Text aus wilipedia
„Avner“ Cohen flüchtet in die Negev und gründet später dort den Kibbuz von Sede Boker. Im Jahr 1960 spricht er dort mit David Ben Gurion, dem ersten Ministerpräsidenten Israels auch über die Auflösung der LECHI…

Wiki: Ben Gurion & Yehoshua Cohen

* * * Zum Hintergrund * * *

Was wissen wir schon über Palästina? Unser Bild ist geprägt von dem Widerstreit zwischen HAMAS, FATAH und der israelischen Regierung, von Raketen aus GAZA und dem Libanon, von annektierten Gebieten wie den Golan-Höhen, dem Westjordanland als palästinensisches Gebiet, von Wehrsiedlungen und deren Rück- bzw. Wiederaufbau und fortgesetzten Terrorakten.
Aber wie sah das Palästina aus vor der Staatsgründung Israels? Immer mehr legal und illegal einwandernde Juden, vor allem aus Osteuropa kauften auch z.B. mit Spenden Land von den ansässigen Arabern und kultivierten Sümpfe, stautrockene Täler, bauten Dörfer, gründeten Kibbuze und brachten durchaus Wohlstand in das Land. Die Mandatsmacht versuchte den Ausgleich und versprach den Juden die Einwanderung und den Arabern die Begrenzung. Der Großmufti von Jerusalem verbündete sich mit Adolf Hitler und hätte es sehr gern gesehen, wenn das Afrikakorps die Briten niedergerungen hätte und damit der Einwanderung von weiteren, inzwischen systematisch verfolgten Juden Europas Einhalt geboten wurden wäre. Immer wieder kam es zu Aufständen von Seiten der Araber und zu Terrorakten. Die Juden gründeten Selbstverteidigungsorganisationen wie die HAGANAH und deren militärischen Teil, den PALMACH, aber auch radikale Organisationen wie die IRGUN, von der sich die STERN-BANDE dann trennte.* Von der erzählt dieses Buch.

* * *

Luca Enoch schreibt am Schluss des Buches über seine Motivation zu dieser Geschichte

„Es gibt Lücken in der Geschichte, oder zumindest in dem, was wir von der Geschichte zu wissen glauben. Kaum gekannte Zeiten, verkannte oder übergangene Zeiten. Und dies nicht aus Mangel an Historiografie oder direkten Quellen. Es sind Zeiten, die uns nicht interessieren, von denen wir glauben, dass sie uns nicht betreffen, da sie zeit­lich und räumlich zu weit entfernt sind; Zeiten, die uns verlegen machen, da sie womöglich mit wenig erbaulichen Ereignissen der Vergangen­heit unseres Landes in Zusammenhang stehen und von denen wir bereitwillig die offizielle, meist selbstgerechte Version akzeptieren; Zeiten, die uns Angst machen oder derer wir uns schämen und die wir fernhalten wollen - ohne den Wunsch, sie tiefer zu ergründen. Ich weiß nicht, zu welcher Kategorie das Ereignis gehört, das ich auf diesen Seiten schildern wollte, doch mit Sicherheit handelte es sich um eine ziemlich große Lücke in meinem Geschichtswissen.“

Für uns hier in Mitteleuropa sind diese Geschehnisse auch noch räumlich weit weg. Zudem haben wir, was diese Zeit von 1938 bis 1948 betrifft, meist mit uns selbst zu tun, wir scheuen uns, „belastet“ durch den Holocaust, „verursacht“ durch unsere Großeltern und Urgroßeltern, die jüdische Geschichte kritisch zu betrachten.

„Die Geschichte der Lechi (oder der "Stern-Bande", wie sie von den Briten bezeichnet wurde) hat mich besonders getroffen; eine sehr kleine Be­wegung, die nie mehr als ein paar hundert Mitglieder zählte und extrem brutal war, gegründet und ein paar Jahre angeführt von einer charismatischen Persönlichkeit mit messianischem Auftreten, der unter seinen Mitgliedern auch einen zu­künftigen, israelischen Ministerpräsidenten hatte. Eine Bewegung, die in der jüdischen Gemeinschaft in Palästina nie große Beliebtheit erfuhr, sondern vielmehr als eine primitive, bewaffnete Bande betrachtet wurde und sicher nicht als eine heldenhafte Gruppe von Patrioten. Obwohl sie von anderen Dissidentengruppen bekämpft und sogar verfolgt wurde, nur wenige Mittel hat­te und keinerlei Protektion genoss, schaffte es diese spärliche Vereinigung Radikaler dennoch, ein paar sehr wirkungsvolle Schläge mit interna­tionalem Widerhall durchzuziehen. Fehlschläge wohlgemerkt, ungeachtet des erreichten Aufse­hens und der ausgeübten Gewalt. Denn trotz der Entschlossenheit, mit der ihre Mitglieder eigene Strategien verwirklichten, gelang es der Lechi nie, die politische Diskussion und die Kriegsgescheh­nisse in die gewünschte Richtung zu steuern.“

Mehr muss man zur Geschichte der Geschichte, die uns hier in Form eines „Bilderbuches“ vorliegt nicht sagen. 

Die Erläuterungen des Autors wie auch der kurze Glossar mit Begriffserläuterungen davor, sind schon notwendig, denn die Geschichte um eine terroristische „Bande“, welche diese oben geschilderte Bedeutung hatte, wäre es eigentlich kaum wert aufgeschrieben zu werden. Sie hätte sich wohl in der Geschichte verloren, wenn es gelungen wäre, das EINE Palästina zu erhalten, also den „jüdisch-arabischen“, also DEN palästinensischen Staat zu gründen.

Es ist paradox und auch bezeichnend: ►Jitzchak Schamir, eines der Führungsmitglieder, wurde später Abgeordneter der Knesseth, später Außenminister und als Nachfolger von Menachem Begin (ebenfalls ehemals IRGUN – Mitglied) Ministerpräsident.

Quelle: wiki
►Yellin-Mor wurde wegen des Mordes an Bernadotte schuldig
gesprochen, aber nach der Wahl in die Knesseth freigelassen. Er war es, der mit der Türkei und dem Deutschen Reich verhandelte, er wollte die Deutschen von den osteuropäischen Juden „befreien“ und Unterstützung im Kampf gegen die Briten. Er wurde aber später Pazifist und unterstützte Verhandlungen mit der PLO.

Der Chefideologe ►Israel Eldad versteckte sich nach dem Attentat, war später im Schuldienst tätig und vertrat ein Israel in den Grenzen der Bibel. 

Im Jahre 1980 wurde für ehemalige Mitglieder der Lechi ein Traditionsabzeichen in Israel eingeführt.

Noch einmal Enoch:
„Die Geschichte, die ich bei dem Vorhaben, meine Wissenslücken zu füllen, entdeckt habe, besteht aus Immigration, persönlichen und kollektiven Tragödien, Gewaltausbrüchen, Kulturstreitigkeiten, diplomatischen Auseinandersetzungen... und bewaffneten Kämpfen. Ein erbarmungsloser Kampf, der oft die furchterregende Form des Terrorismus annahm, wie wir ihn heute kennen, mit Bomben an öffentlichen Orten und "gezielten Morden" an Gegnern und Kollaborateuren.“ 

Mir scheint, einer Gesellschaft, die letztlich so unkritisch mit ihrer Geschichte umgeht, dürfte es schwerfallen, den immer noch oder auch wegen dieser Geschichte weiterhin stattfindenden sogenannten Nahostkonflikt zu beenden.*

* * * Das Buch * * *

Es ist eine spannende Geschichte, die Enoch und Stassi hier aufgeschrieben und gezeichnet haben. Es dürfte allerdings nicht sehr leicht sein, diese auch aus schon genannten Gründen zu rezipieren, was sonst bei Comics eher der Fall sein sollte. Andererseits ist das Buch eine interessante Ergänzung für Leute mit Interesse an der Geschichte Palästinas.  
Die Bilder sind deutlich und eindrucksvoll gezeichnet, die eingebettete Schrift ist nicht zu klein und lässt sich gut lesen. Vielleicht wäre eine deutlichere Hervorhebung der jeweiligen Zeitschiene wegen der Rückblicke gut gewesen.
Erzählt wird diese Geschichte von Yehoshua „Avner“ Cohen, der den Leser damit an die Hand nimmt und „unmittelbar“ am Geschehen teilhaben lässt. Das macht die Geschichte plastischer, wie Luca Enoch auch selber vermerkt. Zudem ist Cohen tatsächlich am Mord an Bernadotte beteiligt gewesen. Ein wenig erfährt der Leser damit auch von der Motivation eines jungen Juden in Palästina, sich einer solchen Organisation wie der Irgun / der Lechi anzuschließen und auch wie schwer es führ den selben Mann ist, sich Jahre später mit seiner eigenen Geschichte und der seines Landes auseinanderzusetzen. 

* * * Die Autoren * * *

C. Stassi Quelle
L. Enoch Quelle
Luca ENOCH, geboren 1962 in Mailand und Claudio STASSI, in
Palermo 1978 geboren sind beide bekannte Comic Autoren in Mailand. Enoch zeichnet für den Mailänder Comic Verlag Bonelli Editore und Stassi lehrt an der Comic-Schule in Barcelona.


 * * *

Was es nicht alles gibt: Eine Comic Schule! Aber nach der Lektüre von ► ISRAEL VERSTEHEN IN 60 TAGEN ODER WENIGER von Sarah GLIDDEN, ebenfalls im Panini Comic Verlag herausgekommen und nun diesem hier, muss ich wohl anerkennen, dass Comics, neudeutsch auch „Graphic Novels“ genannt, ernstzunehmende Themen aufweisen und damit wohl auch ernstzunehmende Literatur darstellen können.

Vielen Dank an den ► Panini Comic Verlag für die Übersendung des Rezensionsexemplars.



DNB / Panini Comics / Stuttgart 2014 / ISBN: 978-3-86201-953-3 / 144 Seiten
► Karatekas Bücherblog: Palästina

© KaratekaDD

* siehe auch die Bücher von Tom Segev: ES WAR EINMAL EIN PALÄSTINA und DIE ERSTEN ISRAELIS

2 Kommentare:

  1. Deine Sachkompetenz zum Thema ist erneut beeindruckend... die jügere Geschichte Israels gehört nicht zu meinen Schwerpunkten... und auch, wie du dich dem Genre Comic annäherst hilft dem Medium in der Rezeption.

    Ich weiß, welch umfangreiche inhaltliche und gestalterische Arbeit in einem solchen Artikel steckt und finde ihn brillant und dem Buch wird es sicherlich sehr gerecht...

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    1. Danke für die freundlichen Worte. Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob das Medium nun als solches DAS Medium ist, aber es spricht zumindest Comic Leser an. Nehme ich an. Sicher bin ich mir nicht, alle Comic Leser, die ich kenne, haben einen völlig anderen Geschmack und eher wenig bis kein Geschichts- oder Politikinteresse, bzw. -großes Wissen. (Allerdings kenn ich insgesamt auch nicht viele)

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