Montag, 18. August 2014

Die wundersame Geschichte von Mama, vom Hasa und vom Kackerli. Episode 2: Mama


Liebe Leser, 
hiermit veröffentlich ich die Fortsetzung meiner frühen Kindheitsgeschichte. Den ersten Teil findet ihr HIER
 
Mutter


Die geneigten Leserinnen und Leser werden mir verzeihen, wenn ich mich an dieser Stelle einmische und den naseweisen KLEINEN vorübergehend mal aus dem Verkehr ziehe.

Stecken wir ihn jetzt einmal in sein Bettchen, das noch in
Wewelsburg:
Viel Gegend und eine Burg im Paderborner Land
jener ärmlichen Wewelsburger Holzbaracke steht, und lassen wir ihn, vielleicht nach einer ordentlichen Portion Muttermilch und einem fetten Bäuerchen, dann erst mal den unschuldigen Schlaf eines Neugeborenen schlafen, anstatt uns von ihm die Welt erklären zu lassen.

Mama singt ihm also noch sein Schlafliedchen vom Pommerland, das abgebrannt ist, und dann darf er selig kommenden Zeiten entgegen träumen…

Wo war ich?

Ach ja, Mama !

Meine Mutter wurde geboren in Dingelstedt am Huy.


Ansicht von Dingelstedt auf 
einer alten Postkarte
Das war im Jahre des Herrn 1920, auf den Tag genau 4 Wochen vor Heiligabend. Sie wurde auf den Namen Anna getauft. 
Ihre Mutter war eine einfache Landarbeiterin, ihr leiblicher Vater ein flotter Kellner, der ihre Mutter mit dem Kind sitzen ließ, noch bevor es geboren war. Er hatte sich aus dem Staub gemacht, nicht ohne meiner Oma zuvor den Vorschlag zu machen, das Kind gleich nach der Geburt mit einer Stricknadel in die Fontanelle zu stechen, um sich auf diese Weise unauffällig aber nachhaltig von dieser ungewollten Last und Verantwortung zu befreien.
Meine Oma war da nun aber ganz anderer Meinung, für sie war das Kind zwar eine Bürde, aber eine solche, die sie mit Anstand und Liebe zu tragen gedachte, ungeachtet aller Schwierigkeiten, die in jener Zeit, noch dazu in ländlicher Umgebung, eine allein erziehende, mittellose Frau zu erwarten hatte.
Oma hat danach nie mehr von diesem Menschen gesprochen und alle seine Spuren aus ihrem Leben getilgt. Meine Mutter ist ihm nie begegnet.
Aber Oma hatte Glück. Sie fand in Otto Schoof einen Beschützer und treuen Lebensgefährten. Der hat dem flotten Kellner mit Nachdruck nahegelegt, sich nie wieder blicken zu lassen und meine Oma noch vor ihrer Niederkunft geheiratet. Da hatte Oma dann einen guten Mann, und Mutter einen fürsorglichen Vater.
Oma zu beschreiben, ist schwer. Ich habe sie nur in ihren letzten Lebensjahren kennen lernen dürfen. Deutschland war ja damals geteilt und Besuchserlaubnisse für Verwandtenbesuch waren in jenen Jahren des „kalten Krieges“ für „Westbürger“ nicht einfach zu bekommen.
In meinem Gedächtnis lebt sie weiter als eine großherzige, von Statur kleine und rundliche Frau, mit einem gütigen Gesicht und warmherzig blickenden Augen. Sie war eine Frau, der auch zwei Weltkriege sowie ein hartes, arbeits- und entbehrungsreiches Leben nichts von Ihrer Herzensgüte und Liebenswürdigkeit hatten nehmen können. Sie starb still und bescheiden, wie sie gelebt hatte, als ich noch ein Teenager war. Ich habe Sie viel zu wenig gekannt.
Einmal, als Kind von etwa 8 oder 9 Jahren, habe ich ihr in kindlicher Weise versprochen, sie nie zu vergessen, auch nach ihrem Tode nicht.
Da hat sie gelacht und mich mit verräterisch feuchten Augen angesehen. Ich aber habe mein Versprechen von damals gehalten!
Das Dorf meiner Großeltern lag in einer idyllischen Landschaft, inmitten fruchtbarer, weitläufiger Feldfluren. Die Landschaft, flach und eben wie ein Teller, war durchzogen von herrlichen Baumalleen, die im Sommer willkommen-kühlen Schatten spendeten. Über allem spannte sich ein meistens blass-blauer, klarer und scheinbar unbegrenzter Himmel, welcher diesem Landstrich zusätzliche Weite verlieh.
Bei klarer Luft und guter Sicht konnte man in der Ferne den Höhenzug des Harzgebirges mit dem Brocken erkennen. Dort lag der magische Ort, wo die Hexen sich der Legende nach jedes Jahr in der Walpurgisnacht treffen, um ihren Hexentanz aufzuführen. Unweit davon befindet sich jene Stelle, an welcher der Sage nach die Königstochter Brunhilde mit ihrem Rappen auf der Flucht vor dem Riesen Bodo in einem kühnen Sprung über einen Abgrund setzte, wobei im Fels ein tiefer Eindruck des Pferdehufes zurückblieb. Der Riese Bodo, welcher bei der Verfolgung zu Tode stürzte, gilt seither als Namensgeber des Flüsschens Bode, welches sich in trägen Mäandern durch die Landschaft und, unweit des Hauses der Großeltern, durch das Dörfchen windet.
Höchste Erhebung der Gegend ist der Brocken, den der Dichter Heinrich Heine 1824 während seiner berühmten „Harzreise“ bestieg. Unter dem Eindruck eines Sonnenaufgangs auf dem Brocken schrieb er die Verse

„Heller wird es schon im Osten Durch der Sonne kleines Glimmen, Weit und breit die Bergesgipfel In dem Nebelmeere schwimmen …….“

Im Sommer brannte die Sonne oft erbarmungslos auf das staubige Kopfsteinpflaster der Dorfstraßen, bis die Luft vor Hitze flimmerte. Dann war die Luft erfüllt vom Planschen, Lachen und Jauchzen der Kinder, die in jenem Flüsschen Bode an seichten Stellen Abkühlung suchten.
Die Bevölkerung dieser Gegend war von jeher ein herzhafter, bodenständiger, dabei zäh-robuster und bescheidener Menschenschlag, der hinter rauer Schale meist einen weichen Kern verbarg. Seit Luther´ s Zeiten, der auf der Thüringischen Wartburg als „Vogelfreier“ Asyl genoss und dort als „Junker Jörg“ das Neue Testament aus dem Lateinischen in´ s Hochdeutsche übersetzte, zählte die Gegend mit zur Hochburg des Protestantismus. Typisch für diesen Landstrich war auch jenes besondere Idiom, welches die Leute sprachen. Dieses Plattdeutsch war für Ohren, die solche Mundart nicht kannten, ungewohnt, lustig und schwer verständlich zugleich. Ich erinnere mich, wie ich als Kind mehr als einmal verwundert und entgeistert lauschte, wenn die Rede war vom „Middaahsebroood eehten“ oder meine Tante Irmchen gar in ihrer unnachahmlich gutmütigen, derb – lustigen Art und Weise Lebensweisheiten äußerte, wie etwa die folgende:

„Eehten, freehten suuuhpen, langsam gaahn und puuuhpen, dat schlaaht an….. !“

Noch verwirrender war es aber für mich, wenn meine Mutter plötzlich auch in dieses fremde Kauderwelsch verfiel, als hätte sie ihr Lebtag lang nichts anderes gesprochen…
In dieser idyllischen Umgebung und unter solch prächtigem, lebenstüchtigem Menschenschlag wuchsen also meine beiden ältesten Brüder, Rolf und Dieter, auf. Da sowohl der Vater als auch der Großvater Schoof dem Ruf des Vaterlandes hatten folgen müssen, fehlte diesen beiden allerdings die starke Hand eines männlichen Erziehers, was zumindest für die Erziehung des Älteren, der es schon früh verstand, Mutter, Oma und Tante Irmgard um seine kleinen Finger zu wickeln, nicht nur zum Vorteil gereichte. Aus ihm wurde folglich ein rechter Lausbub, der sich „Hahne“, den ärgsten Tunichtgut des Dorfes, zum Freund erkor, welcher ihm zwar an Jahren, Größe und vor allem Körperkraft um einiges voraus, an Geist und Mutterwitz dafür aber um Lichtjahre unterlegen war.
Es muss schon ein denkwürdiges Bild gewesen sein, wenn

„Hahne“, sekundiert von meinem Bruder Rolf, mit struppigem Haar, barfüßig und mit rotziger Nase an der staubigen Dorfstrasse stand und beim Anblick eines der damals noch seltenen Autos lauthals schrie:


„Hi hi hiiiiiieeeeh, A u t o k o f f e r hihihiiieeeeehhh “, 


Feldpostkarte von 1943
was meinen nichtsnutzigen Bruder zu bedenklichen Lachkrämpfen animierte, so dass er fast keine Luft mehr bekam und unter Prusten versuchte, Freund „Hahne“ zu weiteren sinnfreien aber heiterkeitserregenden Verbalnoten zu animieren.
Dieser wiederum fühlte sich angefeuert und stimmte stolz seinen Schlachtruf, der sich, wie gesagt, inhaltlich durch völlige Sinnleere auszeichnete, erneut an. Die beiden waren unzertrennlich und bald berüchtigt im Dorf, was meiner Mutter, der die Sache gar nicht recht war und der die mitunter peinlichen Streiche der beiden oft die Schamesröte in´ s Gesicht trieben, großes Kopfzerbrechen bereitete.

Zum Muttertag 1943 kam die vorläufig letzte schriftliche Nachricht Vaters aus Russland. Da sein letzter Heimaturlaub schon lange zurücklag, konnten sich beide Jungs nicht an den Vater erinnern. Es war einfach so, als hätten sie keinen. 
Vater war vom Sommer 1944 bis 1946 verschollen. Dann kam die erlösende Nachricht, dass er lebte und sich in Kriegsgefangenschaft befand.
Die Jahre gingen in´s Land. Meine Brüder waren jetzt 7 und 8 Jahre alt. Das Leben hatte sich normalisiert, soweit das unter den Umständen der Nachkriegszeit möglich war. Zwar war man auch in jener Gegend der Willkür der russischen Besatzer ausgeliefert, trotzdem war man, Gott sei Dank, vom Ärgsten verschont geblieben. Vergewaltigungen und andere Untaten an der

Zivilbevölkerung waren hier die Ausnahme. Noch das Ärgste, was Mutter geschah, war, dass russische Soldaten, denen sie eines Tages unvermittelt vor dem Dorf begegnete, der vor Angst Zitternden am helllichten Tage ihr kostbares Fahrrad „requirierten“, sie ansonsten aber ungeschoren von dannen ziehen ließen.
In den Jahren 1947 und 1948 kehrten zahlreiche ehemalige deutsche Soldaten aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück. In jenen Tagen trafen häufig Züge,

vollbesetzt mit Heimkehrern, die man in eine ungewisse Zukunft entlassen hatte, ein. Wer hätte sie noch nicht gesehen, die alten Wochenschaubilder aus jenen Tagen, die ergreifende Wiedersehensszenen, aber auch verzweifelte Mütter und Ehefrauen mit Fotos ihrer Männer und Söhne in den Händen, oder auch die oft leeren Blicke entwurzelter Heimkehrer auf überfüllten Bahnhöfen in schwarz-weißen Bildern festhielten.
In jenen Tagen, Anfang Mai 1949, sagte eine Nachbarin zu meiner Mutter:

„Warte man Anni, heut kommt wieder ´n Transport an auf´m Bahnhof. Da geh ich hin und dann bring ich dich dein´ Ernst mit“!

Mutter, die solches nicht glauben wollte, weil sie die Enttäuschung

nicht verkraftet hätte, lächelte „das Ella“, also jene Nachbarin, nur müde-skeptisch an und schwieg dazu. Das wäre doch zu schön, um wahr zu sein. Am Nachmittag desselben Tages, meine Mutter war beschäftigt mit ihrer Hausarbeit, kam mein älterer Bruder aufgeregt zu ihr gelaufen: „Mama, Mama, da draußen ist so´ n fremder Mann“! Nichtsahnend trat meine Mutter in den Hausflur, erstarrte – und brach mit einem Aufschrei zusammen. „Das Ellaken“ hatte Recht behalten.
Vater war heim gekommen!

3 Kommentare:

  1. Ist eigentlich das Heimkehrerbild am Schluss ein Familienbild?

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    1. Leider nein Uwe, es ist nur ein Beispielbild. Von der Heimkehr meines Vaters gibt es keine Fotos. Aber so oder so ähnlich wird es gewesen sein, solche Szenen gab es damals hunderttausende in Deutschland (oder in dem, was von Deutschland übrig war)

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  2. Immer wieder schön zu lesen. Und so aufbereitet wirklich noch einmal viel ansprechender. :)

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