Samstag, 12. April 2014

Verschollen

Liebe Leser,
in meinem letzten Post habe ich Felix Römers ausgezeichnetes Buch
Kameraden - Die Wehrmacht von innen vorgestellt.
Das Thema ist hochinteressant und bis heute aktuell, denn nichts hat die Geschichte, ja die gesamte Psyche der Deutschen so radikal und nachhaltig beeinflusst, wie das sog. "3. Reich", die Verbrechen der Nazis und der unselige 2. Weltkrieg, in dem Millionen von Menschen ihr Leben lassen mussten.
Uns Deutsche betrifft dieses Thema ja ganz besonders, weil es das Deutschland der Nationalsozialisten war, von dessen Boden aus dieser Vernichtungskrieg entfesselt wurde. Durch unsere Nation, und ja, selbst durch viele deutsche Familien, geht seither ein Riss, und die psychologische Wirkung dieses Traumas hält bis heute an. Es gibt zudem kaum eine Familie in Deutschland, die nicht eines oder mehrere Familienmitglieder als Opfer dieses Krieges zu beklagen hat. Gleichzeitig stellt sich die Frage nach der Mitschuld derjenigen, die in diesem Krieg kämpften oder kämpfen mussten. Mach wir es uns nicht zu leicht, wenn wir sie aus heutiger Sicht pauschal verurteilen?
Wohlgemerkt: Ich will hier nichts leugnen, beschönigen oder verharmlosen. Aber die Frage ist doch: Hätten wir, mit der gleichen Erziehung und mit dem gleichen Wissen an die Stelle unserer Vorfahren tretend, vielleicht ähnlich oder doch ganz anders gehandelt?
Ich will und kann diese Frage nicht beantworten.
Felix Römer beginnt sein Buch mit einem Beispiel aus seiner eigenen Familie und stellt dar, wie unterschiedlich die Motive, Einstellungen und Schicksale mehrerer Personen aus einer Familie verlaufen konnten.
Ich kann diese Erfahrung nur bestätigen und veröffentliche in der Folge hier einen Text, den ich an anderer Stelle, auf der nicht mehr existenten Seite buchgesichter.de nämlich, bereits einmal
zum Besten gegeben habe. Der Text ist ein Auszug aus einer längeren Fortsetzungsgeschichte.
Er entspricht vollständig der Wahrheit, ist also nicht erfunden und zeigt genau das auf, was auch Felix Römer eingangs seines Buches Kameraden - Die Wehrmacht von innen darstellt: Nämlich, dass Menschen sich, selbst bei Verwandschaft, gleicher Erziehung und gleichen gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrunds in vollkommen verschiedene Richtungen entwickeln können!
Hier nun also meine Geschichte "Verschollen":




Verschollen

Manche Menschen verschwinden. Nein, nicht mal eben für ein paar Stunden oder ein paar Tage, weil sie vielleicht mal ihre Ruhe vor uns anderen haben wollen. Nein. Manche Menschen sind einfach weg. Für immer. Nicht mehr da. Verschwunden eben. Verschollen. Körperlich nicht mehr präsent. Atomisiert. Entmaterialisiert. Unauffindbar. Spurlos. Abschiedslos. Weg.
Zurück bleiben vielleicht Spuren. Spuren ihrer einstigen Präsenz, manchmal aber selbst nicht einmal das. Dann sind Spuren von ihnen nur in unseren Köpfen vorhanden: Erinnerungen, im Laufe der Zeit verblassend, irgendwann an Kontur verlierend, blasser werdend. 
Menschen verschwinden zu allen Zeiten, aber die meisten verschwinden im Krieg. Spurlos. Geradezu mit Beiläufigkeit. Sozusagen mit Selbstverständlichkeit. Ohne Aufsehen sozusagen, denn Kriegszeiten sind Zeiten, in denen Verluste zur alltäglichen Gewohnheit werden, zur Normalität, zum PREIS, der zu zahlen ist und der nach und nach die Seele einer ganzen Nation gefühllos machen kann. 

Der 1. Mai 1916 war in ganz Deutschland ein heiter-sonniger, niederschlagsfreier Montag mit wolkenlos-blauem Himmel und sommerlichen Temperaturen um 21° Celsius. Der deutsche Heeresbericht verkündete harmlos: „Westlicher Kriegsschauplatz: Im Allgemeinen ist die Lage unverändert. An der Höhe „Toter Mann“ wurde auch gestern heftig gekämpft. Unsere Flugzeuggeschwader belegten feindliche Truppenunterkünfte westlich und Magazine südlich von Verdun ausgiebig mit Bomben. Ein französischer Doppeldecker wurde östlich von Noyon im Luftkampf abgeschossen; die Insassen sind tot. Östlicher und Balkankriegsschauplatz: Keine Ereignisse von besonderer Bedeutung“.
Im Westen (fast) nichts Neues also: Kein Wort verkündet uns, für welche Zahl an Menschen der viel sagende Name jener offenbar heftig umkämpften Höhe „Toter Mann“ an jenem sonnigen Frühlingstag nicht bloß eine Bezeichnung blieb sondern zur bösen Realität wurde. 
Noch während der Krieg in jenem Mai 1916 wütete und sein Kanonenfutter an der Höhe „Toter Mann“ und anderswo fraß, wurde in Deutschland und anderswo bereits das zukünftige Kanonenfutter für den darauf folgenden Krieg geboren: 
So erschien am 03. Mai 1916 die „Pflegefrau Witwe Marie Hornung“ beim Standesbeamten in Halberstadt und ließ im Auftrage der stolzen Eltern beurkunden, dass „…von der Anna F., geborene W., Ehefrau des Handelsmanns Ernst F., beide evangelischer Religion, wohnhaft in Halberstadt, Lutherstraße 44, bei ihrem Ehemann, zu Halberstadt ebenda, am ersten Mai des Jahres eintausend neunhundert sechzehn vormittags um ein Uhr ein Knabe geboren worden sei und dass das Kind die Vornamen Rudolf Erich erhalten habe, wovon sie durch eigene Wissenschaft unterrichtet sei….“. 

Es ist erstaunlich, wie wenig von einem Menschenleben am Ende bleibt. Im Falle meines Onkels sind es neben Erinnerungen nur ein paar alte Fotos, ein paar Beurkundungen beim Standesamt, einige Aktenvermerke bei der „Wehrmachtsauskunftsstelle“. Den ordentlichen, amtlichen Schlussstrich unter dieses kurze Leben zieht ein lapidarer, in akkurater Handschrift angelegter Aktenvermerk auf dem unteren Rand seiner Geburtsurkunde: „Für tot erklärt mit Wirkung vom 31. Juli 1949“.

Rudolf, von allen kurz Rudi genannt, wuchs mit seinem um 9 Jahre älteren Halbbruder Walter, dessen Mutter früh gestorben war, weshalb der Vater sich mit eben Rudis späterer Mutter wiederverheiratet hatte, und einer jüngeren Schwester sowie dem jüngsten Bruder Ernst, der wiederum mein Vater wurde, auf. Zwischen den Brüdern Rudi und Ernst entwickelten sich enge geschwisterliche Bande, die leider durch den frühen Tod der Eltern und später durch den Krieg zerrissen wurden.
Über Rudi´ s Kindheit und Jugend wissen wir nur wenig. Die wenigen erhaltenen Fotos zeigen einen schmalen, blassen Jungen, aus dem später ein schlaksiger, groß gewachsener Teenager wurde, der in seinen Sandalen, den knielangen Dreiviertelhosen und seinem Matrosenhemd, einem Zugeständnis an die Mode der Zeit, linkisch in die Kamera blickt. Die Zeiten waren hart. Der verlorene Krieg hatte Deutschland in ein nationales Trauma gestürzt und das Ende der Monarchie führte zu politischer Instabilität, zur offenen Konfrontation zwischen linksrevolutionären Anhängern einer kommunistischen Räterepublik und reaktionären, rechten Freikorps sowie Mitgliedern der neuen Reichswehr, die 1919 als „Friedensheer“ gegründet worden war. Auf den Straßen kam es zu regelrechten Straßenschlachten und bürgerkriegsähnlichen Zuständen, Attentate und politische Morde begleitende die werdende Weimarer Demokratie in ihren ersten Jahren. Armut und Lebensmittelknappheit gingen mit grassierender Arbeitslosigkeit einher und unvernünftig hohe Reparationsforderungen der ehemaligen Kriegsgegner, die Demontage ganzer Industrieanlagen, ja die zeitweise Besetzung des Ruhrgebietes und anderer Teile des Reichsgebietes zur Erzwingung der Reparationszahlungen, taten das Ihre. Die Psyche einer ganzen Nation war angeschlagen, die Deutschen zutiefst vom Krieg traumatisiert, eine ganze Nation gedemütigt, Industrie und Wirtschaft weitgehend zerstört. Die Inflation trieb irrsinnige Blüten und führte de facto zu einer Enteignung der Menschen, während politisch Chaos und Instabilität herrschten. Zu allem Überfluss diktierte eine unversöhnliche, ja geradezu unintelligente Politik der Siegermächte Deutschland und allen Deutschen schlechthin nunmehr die Rolle eines Parias in der europäischen Völkergemeinschaft zu, indem man Deutschland und den Deutschen wider besseres Wissen die alleinige Kriegsschuld zuwies. Diese und weitere alliierten Dummheiten waren wider jede Vernunft und förderten in den kommenden Jahren Entwicklungen, die alles Furchtbare, was danach kam, wenn schon nicht erst möglich machten, so doch zumindest begünstigten, weil revanchistischer Politik hierdurch ein idealer Nährboden bereitet wurde, ja weil selbst der gutwilligste deutsche Kleinbürger, dessen gesamtes Wertesystem mit dem Zusammenbruch der Monarchie aus den Fugen geraten war, der sein Selbst- und Nationalbewusstsein verloren hatte und sein Vaterland geschändet sah, der materiell gesehen „zum Leben zu wenig, zum Sterben aber zu viel“ besaß, am Ende anfällig wurde für nation(alsozi)alistische Verführungskünste und sich begeisterte für ein wieder erstarkendes Deutschland. Zunächst jedoch war ein erster Schritt in eine bessere Zukunft, der, wenn auch vage, Stabilität und Sicherheit versprach, die Ausrufung der Weimarer Republik durch Philip Scheidemann am 09. November 1918. 

Dies waren die gesellschaftliche Bühne und die politische Kulisse, vor der jene Generation, mein Onkel, mein Vater und die übrigen Geschwister, aufwuchsen. Es kann nicht verwundern, dass diese den Zeitgeist, all die Befindlichkeiten dessen, was man als deutsche Tragödie bezeichnen könnte, die psychische und wirtschaftliche Depression jener Zeit, die weder materielle noch politische noch geistige Sicherheit bot, in sich aufnahmen. Wir alle sind Kinder jener Zeit, in der wir leben. Damals wie heute. Hier nun ist es interessant zu sehen, wie unterschiedlich die Entwicklung war, welche die Geschwister nahmen, ja, wie sich offenbar die politische Weltanschauung innerhalb einer Familie so völlig gegensätzlich bei den Geschwistern entwickelte.

Rudi war den Erzählungen nach ein schlauer Kopf, der schon früh außerordentliche Courage zu besitzen schien. Von jener Courage, um nicht zu sagen Draufgängertum, wird noch zu reden sein. Nach der Schule absolvierte er zunächst eine Lehre als Gärtner, bevor er ab 1933, nach Vollendung seines 17. Lebensjahres, in die Reichswehr eintrat. Somit wurde ihm, dem Jugendlichen, der früh den Vater verloren hatte und dessen Mutter bereits todkrank war, eine Pionierkompanie in Rudolstadt zur neuen Familie. Er war für den Rest seines kurzen Lebens Soldat mit Begeisterung, weil ihm das Soldatenleben Sicherheit, Halt, Anerkennung und eine Bestimmung gab, und weil er daran glaubte, so seinem Vaterland, das ihm viel, wenn nicht alles bedeutete, dienen zu können.
„Meinen Großeltern gewidmet. Rudi“ 
steht in gestochener Handschrift auf der Rückseite eines Fotos, welches ihn als jungen Unteroffizier in seiner Ausgehuniform zeigt. Zwei wache, dunkelglänzende Augen blicken uns unter schmalen, geschwungenen Brauen leicht versonnen, aber durchaus selbstbewusst entgegen. Die Nase ist schmal und wohlgeformt, der Mund besitzt schmale, schöngeschwungene Lippen. Das kurzgeschnittene Haar und die gesamte Stirn sind unter seiner Schirmmütze mit schwarzem Lackschirm und den Reichsemblemen verborgen. Das Gesicht ist jugendlich schmal und leicht herzförmig, die ansonsten schön geformten Ohren fast ein wenig zu groß für dieses schmale Jungengesicht. Der schlanke Hals verschwindet unterhalb des Kehlkopfes in dem steifen Kragen des Uniformrocks mit silbernen Litzen und Kragenspiegeln. Auf der Brust prangt der Reichsadler. 

Mutter, die ihm ein- oder zweimal begegnet ist, schilderte ihn als stattlichen, „sehr feinen“ Menschen mit offenkundiger Zielstrebigkeit, selbstbewusst, mit sehr guten Manieren und einer gewissen Vornehmheit ausgestattet, dazu offenbar außerordentlich gebildet, wobei sie glaubte, in seiner feinen Art schon einen Anflug von Unnahbarkeit wahrgenommen zu haben.
Rudi war somit mit Herz und Seele Soldat mit hoher patriotischer Gesinnung, mit ausgeprägtem Ehrgefühl, begeistert träumend von einem wieder erstarkenden Deutschland und, ja, es ist wohl nicht zu leugnen, in seiner idealistischen Begeisterung auch dem sich ab 1933 etablierenden nationalsozialistischen Staat zugetan, Bei allem blieb er aber ein pflichtbewusster, im Grunde unpolitischer Berufssoldat, dessen einzige Schuld es war, zur falschen Zeit jung gewesen zu sein. Ein Schicksal, dass er übrigens mit Millionen anderen teilte. 
Nach zweimaliger schwerer Verwundung und mehreren Lazarettaufenthalten erfüllte sich
Das letzte Foto
seine Bestimmung als 28-jähriger Oberfeldwebel bei der 163. Infanteriedivision in Kandalakscha/Murmansk. Hier taucht sein Name zum letzten Mal im Personalbestand der Einheit am 05.07.1944 auf. Danach verliert sich seine Spur, niemand hat jemals wieder von ihm gehört. Wann und wo sein Schicksal sich erfüllte, wie und wo er starb, bleibt ungewiss. Alle Nachforschungen verliefen ergebnislos. Er blieb verschwunden bis heute. Spurlos. 


Erstaunlich ist dies:

Walter, der Älteste, wohl mehr Realist denn von Idealismus angetrieben, blieb stets der bodenständige, besonnene, der Sozialdemokratie nahestehende Sohn eines kleinen Gewerbetreibenden, von Beruf gelernter Maurer und allem Militärischen gegenüber mit Abneigung erfüllt. Rudi, der mittlere, dagegen das völlige Gegenteil: Begeisterungsfähig, patriotisch, erfüllt vom Ideal soldatischer Pflichterfüllung und soldatischem Draufgängertum, dabei aber mit ausgeprägtem Ehrgefühl und daher bei aller soldatischen Pflichterfüllung niemals gegen seine soldatische Ehre handelnd. Schließlich mein Vater, Ernst, der Jüngste und von Anfang an völlig unpolitisch, keiner politischen Richtung zuneigend, ohne Hang zum Militärischen, noch lange nach dem Ende des Krieges stolz darauf, dass er während des gesamten Krieges die „Braut des Soldaten“, seinen „Karabiner 98 K“, nur dazu benutzt habe, in den russischen Weiten auf die Hasenjagd zu gehen, und der bis zum Ende seines Lebens sich niemals entschließen konnte, einer politischen Partei beizutreten.

Die 3 Brüder haben sich also unter den gleichen familiären und gesellschaftlichen Einflüssen völlig unterschiedlich entwickelt. Genützt hat es ihnen nichts: Als das Drama endete und der Vorhang der Geschichte fiel, war einer von ihnen tot, der andere für immer verschollen und der dritte für 5 Jahre seines Lebens in Gefangenschaft. Wie es scheint, schert sich die Weltgeschichte wenig um die Motive des Einzelnen und lässt das Schicksal, seinen unsteten Erfüllungsgehilfen, wahllos mit knochiger Hand mal auf diesen, mal auf jenen deuten, ganz so wie der einäugige Zyklop Polyphemos, der die wehrlosen Gefährten des listenreichen Odysseus wahllos einen nach dem anderen fraß…


Copyright: TinSoldier

2 Kommentare:

  1. Solche persönlichen Sachen zu einem Buch sind doch eine sehr gute Ergänzung.

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  2. Ich erinnere mich - sehr persönliche Gedanken und Erinnerungen...

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