Montag, 17. März 2014

Timm, Uwe: Vogelweide


Vogelweide

DIE INSEL verlagert sich langsam nach Osten. Drei bis vier Meter im Jahr, je nach Stärke der Winterstürme und Sturmfluten. Hier, wo er jetzt stand, war vor vierzig Jahren Wasser nur und Watt. Der Wind hatte in den letzten Stunden aufgefrischt. Eine blauschwarze Wolkenbank lag im Westen über dem Horizont. Böen rissen von den Dünen Sandfahnen hoch. Der Schaum der auslaufenden Wellen wurde in breiten grauweißen Streifen über den Strand getrieben. Möwen glitten über die Wellen, und jäh stürzte eine aufs Wasser, im Schnabel ein kurzes silbernes Aufblitzen. Am Morgen war er den Strand entlanggegangen, hundert Meter, die er jeden dritten Tag nach Treibgut absuchte. Heute waren es: eine Spraydose, ein Glasröhrchen mit Tabletten, ein blauer Sportschuh, Marke Adidas, eine Dose blauer Jachtlack - er maß die Restmenge des Inhalts, 0,5 l- und ein Becher Schokoladenmousse, ein blauer Müllsack. Er sammelte den Müll in einen Plastiksack, schaffte ihn zur Hütte, von wo er einmal im Monat bei Ebbe mit dem Pferdewagen aufs Festland gebracht wurde.
In der Hütte trug er die angeschwemmten Gegenstände in ein Protokoll ein, setzte Wasser auf, schnitt Brot, stellte Butter und Marmelade auf den Tisch und goss den Tee auf. Während der Tee zog, beobachtete er durch das Fernglas den Vogelschwarm über Nigehörn, der Nachbarinsel, Watvögel, Austernfischer, ungefähr zwei- bis dreitausend, schätzte er und notierte die Zahl.
Er hatte sich eben den Tee eingeschenkt, als der Anruf kam. Ihre Stimme erkannte er nicht sogleich. Verzerrt und von elektronischen Impulsen unterbrochen, hörte er sie sagen, sie sei in Hamburg, es wäre doch Zeit, sich einmal wiederzusehen, und dann etwas förmlich, ob er Lust und Zeit für ein Treffen habe....
(Auszug aus der Buch-Vorstellung bei Büchergilde.de. Die vollständige Leseprobe ist hier zu finden)


Rotkehlchen, Aquarell by TinSoldier


Uwe Timm hat uns mit Vogelweide ein wunderbares Buch geschenkt:
In einem ruhigen, ja fast schon beschaulichen Stil erzählt er uns im Rückblick eine Beziehungsgeschichte zwischen zwei Paaren, die sich am Ende unausweichlich auf die Katastrophe zubewegt und die das Leben aller beteiligten Personen nachhaltig verändert.
Das tiefsinnige Buch  fesselte mich von der ersten Seite an und fast fühlte ich mich selbst auf eine Insel versetzt, begleitet nur von Stille und den eigenen Gedanken...

Selten habe ich in letzter Zeit die Lektüre eines Buches so genossen!

Dabei ist dies ganz sicher kein Buch für sehr junge Leser!
Nein - es ist vielmehr ein Buch für alle diejenigen, die, vielleicht, schon "im Pulverdampf des Lebens ergraut" sind und die dort jedenfalls ihre ganz individuellen Lektionen gelernt, ihre Erfolge, aber auch Schicksalsschläge und ja, auch ihre Niederlagen erfahren haben, so wie das auch den Protagonisten in Timms Roman widerfährt:
Ein Mann opfert seine Beziehung der Leidenschaft zu einer anderen Frau, noch dazu der Frau eines Freundes. Was als Flirt beginnt, endet für ihn im Fiasko:
Am Ende verliert er beide Frauen, den Freund und auch seine beruflich Existenz, denn seine gut gehende Firma geht in Konkurs.
Aus der teuren Eigentumswohnung zieht er um in eine ärmliche Mietwohnung und lebt, hoch verschuldet, sozusagen "von der Hand in den Mund".
Das Seltsame aber ist, dass er sich in seinem neuen Leben zurecht findet und sein altes Leben nicht wirklich vermisst.
Jahre später, ausgerechnet, als er für einige Monate in der Einsamkeit einer kleinen Insel in der Elbmündung als Vogelwart arbeitet, kündigt Anna, seine verbotene Leidenschaft, ihren Besuch an...
Wir lesen seine Geschichte, die sich uns in seinen Erinnerungen und später, im Dialog mit Anna, offenbart und können uns ihr nicht entziehen: Zu sehr ist es eine Geschichte, die uns alle betrifft und die uns in der einen oder anderen Form in unserem eigenen Leben schon begegnet sein mag.
Vogelweide ist ein äußerst vielschichtiger Roman, der erzählerisch eine dichte Atmosphäre zeichnet und psychologisch stimmig die inneren und äußeren Konflikte der beteiligten Personen schildert.
Aber abgesehen davon ist es einfach ein gutes, ein intensives Buch, das noch lange nach der Lektüre im Kopf bleibt!

Und wer mir nicht glaubt, der lese Anne Pardens Rezension zu diesem Buch!








Copyright: TinSoldier

4 Kommentare:

  1. Ihr lest beide sehr schöne Sachen. Aber irgendwie bin ich noch nicht genug ergraut, da fehlt noch dieses oder jenes Pulverfass.

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  2. Ach Uwe, DU ergraust doch nicht, da fallen dir doch eher die Haare aus :-) !

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  3. Wie schön, dass Dir das Buch auch so zugesagt hat, Rudi.

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